Read the book: «Boat People»
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel „The Boat People“ im Verlag McClelland & Stewart, Toronto, Kanada.
Das Buch wurde gefördert vom Canada Council for the Arts, der Verlag dankt hierfür. We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien.
Deutsche Erstausgabe 2020
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de Copyright © 2018 by Sharon Bala Translated from the English language: THE BOAT PEOPLE First published in Canada by: McClelland & Stewart, a division of Penguin Random House Canada Limited, Toronto
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Lektorat: Elisabeth Müller, Friedberg (Hessen)
Umschlagabbildung: © Boyan Dimitrov – shutterstock.com
ISBN 978-3-96311-269-0
Printed in the EU
Dieses Buch ist für meine Eltern,
Mohan und Swarna Bala.
Inhaltsverzeichnis
WIE ES ANFING
INSCHALLAH, MR. GIGOVAZ
FROH, HIER ZU SEIN
TERORISTEN RAUS!
EIN GUTES LAND
VERHANDLUNGEN
FAMILIENGESCHÄFT
NEBENVORSTELLUNG
RAMAS LIED
DIE NATUR DER DINGE
GODFATHER
NEUE WELT
LASS DAS VERGANGENE RUHEN
RECHT UND ORDNUNG
WAS WISSEN DIE?
THALI
RUHE UND FRIEDEN
EIN EIGENES LAND
ZURÜCK IN DIE HÖLLE
TRAUST DU UNS DENN NICHT?
WAS KANN MAN DA MACHEN?
DER GLÜCKLICHSTE TAG
AUFTRAG
JEOPARDY
WARUM SIND SIE HIER?
DER DUMME
WILLKOMMEN IM WINTER
MOTTENKUGELN
FEINDLICHE AUSLÄNDER
AUGENZEUGEN
SALOMON
GANESCHA SCHLÄGT RAD
SCHATZGRÄBER
MUSTERMIGRANT
BESITZURKUNDE
FARBE BEKENNEN
WAHRHEIT ODER LÜGE
DIE ÄRZTIN
RICHTER, SCHÖFFE, HENKER
KEIN RECHT AUF UNSER LAND
EIN AFFRONT
LIONS UND TIGERS
EIN FREIES LAND
WEITERKÄMPFEN
NOTPOLSTER
EINES TAGES
ALTER KÖDER
ICH WILL SPRECHEN UND GEHÖRT WERDEN
ANMERKUNGEN DER AUTORIN
DANKSAGUNG
Wir mögen auf verschiedenen Schiffen gekommen sein, aber jetzt sitzen wir alle im selben Boot.
— Martin Luther King Jr.
WIE ES ANFING
Juli 2009
Mahindan lag flach auf dem Rücken, als die Schreie losgingen. Mit angewinkeltem Arm bedeckte er die Augen. Er hörte das Pfeifen, den dumpfen Aufschlag von Granaten, die Hilferufe der Sterbenden. Kugeln und Raketen, die Welt stand in Flammen.
Dann ein anderes Geräusch. Es kam kreischend durch das Getöse, so dass es eine ewige Sekunde lang nichts gab, nur ihn und seinen Sohn und die Bombe, die sich mit todbringendem Schrei in hohem Bogen durch den Himmel bohrte, direkt auf sie zu. Sosehr er sich anstrengte, Mahindan bekam die Augen nicht auf. Seine Glieder waren fest an den Boden geheftet, tonnenschwer. Er versuchte, sich zu bewegen, zu schreien, aufzuspringen und wegzulaufen. Die Erde dröhnte. Die Bombe explodierte und spuckte eine Wolke glühender Metallfetzen in die Luft. Das Zelt war zerrissen, mittendurch. Mahindan war hellwach, mit einem Schlag.
Sein Herz hämmerte wild. Gepackt von rasender Angst setzte er sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. Er hörte, wie jemand fauchte und prustete, merkte dann aber, dass er es selber war. Das Pfeifen fliegender Granatsplitter ließ nach, und er kehrte zurück in die Gegenwart, zur Kokosmatte unter sich, zurück in den Rumpf des Schiffes.
Da schnarchten und schnüffelten sie, da gab es die kleinen Nachtgeräusche von fünfhundert schlafenden Körpern. Tief unten das monotone Surren der Schiffsmotoren. Instinktiv griff er nach Sellian, seinem Sohn, fand ihn fest an seine Seite gedrängt, dann legte er sich wieder hin. Der Schweiß stand ihm im Nacken. Immer noch raste sein Puls. Er roch die säuerliche Ausdünstung seiner eigenen Haut, den rohen Tiergestank der Körper um ihn herum. Der Mann auf der Matte neben ihm schlief mit offenem Mund. Er schnarchte laut wie ein dröhnendes Motorrad, so nah, dass Mahindan den ausgestoßenen warmen Atem fast spüren konnte.
Er legte die Hand auf Sellians Rücken und fühlte, wie er sich hob und senkte. Allmählich wurde sein eigener Atem ruhiger und bewegte sich schließlich im gleichen Rhythmus. Er strich seinem Jungen durch das feine, seidige Haar, den weichen Schopf eines Kindes, dann streichelte er seinen Arm, fühlte die raue Haut, die langen, dünnen Kratzer, die verkrusteten Insektenbisse. Sellian war ein schmächtiges Kind, sechs Jahre alt und kaum einen Meter groß. Wie wenig Platz dieses Kind einnahm, so in sich zusammengerollt, den Daumen im Mund. Wie verletzlich sein Leben doch war, wie prekär sein Überleben, eigentlich ein Wunder.
Mahindans Augen hatten sich dem Dunkel angepasst und konnten nun Umrisse und Formen erkennen. Das klapprige Geländer beiderseits der Leiter. Lampen, aufgereiht an einem Elektrokabel. Außerhalb des Bullauges war es noch stockdunkel.
Behutsam, um Sellian nicht zu wecken, stand er auf. Vorsichtig stieg er über die auf dünnen Matten zusammengedrängten Körper, duckte sich unter den in schwankenden Hängematten reglos Schlafenden, tastete sich von einer Seite des Schiffs zur anderen bis hin zur Leiter. Es war heiß und drückend, die Luft zum Ersticken.
Hemas Zopf lag lang und dick auf dem schmutzigen Boden. Mahindan bückte sich, hob ihn auf und legte ihn im Vorübergehen sanft auf ihren Rücken. Ihre beiden Töchter schliefen neben ihr auf derselben Matte. Sie lagen einander zugewandt auf der Seite, Kopf an Kopf, Knie an Knie. Ein paar Meter weiter kam er zu dem Mann mit dem amputierten Bein und wandte die Augen ab.
Bei Tag ging es laut her auf dem Schiff, aber jetzt hörte er nur, wie das Elektrokabel gegen die Wand schlug, wie sie alle atmeten, ein und aus, und immer dieselbe verbrauchte, dieselverpestete Luft.
Ein Junge schrie im Schlaf auf, und als Mahindan sich umschaute, sah er, dass Kumurans Frau ihr alptraumgeplagtes Kind beruhigte. Mahindan hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest und stieg die Leiter nach oben aufs Deck. Dort angekommen, sog er das frische Aroma von Salz und Meer tief ein und fühlte sich unversehens leichter. Hoch über ihm knarrte der Mast. Mahindan blickte auf zu den Sternen und dem Appam-Halbmond, der warm am Himmel glühte. Beim Gedanken an Appam – leckeren Teig, frisch gebacken, direkt vom Feuer – meldete sich sein Magen mit hohl knurrender Anklage.
Es war dunkel, aber er kannte sich aus auf dem Schiff. Am Heck stand in ordentlicher Reihe ein Dutzend Plastikeimer. Er kauerte sich vor einem dieser Eimer hin und schöpfte mit beiden Händen das lauwarme, von Zweigen und Seetangbrocken verschmutzte Wasser, um sich Gesicht und Nacken zu erfrischen. Dabei spürte er, wie der Dreck auf seiner Haut kratzte.
Das Schiff – ein sechzig Meter langer, alter und schludrig für fünfhundert Passagiere umgebauter Frachter – schepperte durch das ruhige Wasser und stöhnte unter der Last von allzu schwerer menschlicher Fracht. Mahindan hielt sich an der Reling fest und strich mit einem Daumen über den abblätternden Rost.
Ein paar Leute waren nach draußen gekommen, schattenhafte Gestalten, die auf beiden Ebenen des Decks stumme Wacht hielten. Wochen oder auch Monate waren sie schon auf See, Sonnenauf- oder Sonnenuntergang waren kaum noch zu unterscheiden. Die Tage verbrachten sie an Deck unter einer Plane, die sie vor der Sonne schützen sollte, während der Boden unter ihnen brannte. In stürmischen Nächten, wenn das Schiff wild schwankte und schlingerte, flüchtete Sellian sich in Mahindans Schoß, und ihre Mägen kollerten hilflos im Gewühl des wutschäumenden Ozeans.
Aber der Kapitän hatte gesagt, sie seien bald da, und schon seit Tagen hielt ein Mann rund um die Uhr im Ausguck oben auf dem Mast Ausschau nach Land.
Mahindan lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling und ließ sich hinabgleiten, bis er auf dem Deck saß. Kraftlosigkeit, wann immer er an die Zukunft dachte; Horror, wenn die Erinnerungen kamen. Er gähnte und drückte das Kinn gegen die angezogenen Knie, dann schlang er die Arme darum, um sich zu wärmen. Wenigstens waren sie hier auf dem Schiff sicher vor den Angriffen. Ruksala, Prem, Chithras Mutter und Vater. Er dachte an die Toten und schlief ein.
Menschenauflauf und Möwengeschrei rissen ihn aus dem Schlaf. Ein Junge rannte das ganze Schiff entlang und rief nach seinem Vater. Appa! Appa! Mehr Leute waren aufs Deck gekommen, und alle riefen sie laut und aufgeregt durcheinander.
Der Mann, den sie Ranga nannten, stand an der Reling neben ihm und starrte hinaus. Mahindan war entsetzt, ihn neben sich zu sehen.
Das Land ist nah, sagte Ranga.
Mahindan suchte angestrengt die ununterbrochene Linie des Horizonts ab. Nicht weit von ihm stand ein junger Mann auf dem Geländer und beugte sich weit hinaus. Eine ältere Frau rief: Sei vorsichtig!
Nach so langer Zeit sind wir nun endlich angekommen, sagte Ranga. Er grinste Mahindan an und fügte hinzu: Ohne Sie wäre ich nicht hier.
Das hat nichts mit mir zu tun, sagte Mahindan. Jeder nutzt seine Chance.
Mahindan hielt seinen Blick auf den Horizont gerichtet. Zuerst sah er in großer Entfernung einen Nadelkopf, doch als er unverwandt weiter hinsah, trat das ersehnte Bild in Erscheinung: violett-braunes Land und blaue Berge, die geisterhaft im Hintergrund emporragten. Als ein bewaldeter Berghang in Sicht kam, gesellte sich auch der Zeitungsmensch zu ihnen. Mahindan hatte schon mehrere Male ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Jemand hatte gesagt, er habe vor seiner Flucht für eine Zeitung in Colombo gearbeitet.
Wir werden aufgegriffen, sagte der Zeitungsmensch. Amerikaner oder Kanadier, wer schnappt uns zuerst?
Uns schnappen?, gab Ranga mit kreischender Stimme zurück.
Aber jetzt kamen die Leute aufs Deck geströmt und drängelten sich zur Reling, jeder wollte das sehen. Der Zeitungsmensch wurde weggestoßen. Auch Mahindan wich zur Seite, er war froh, von diesem Ranga fortzukommen.
Stimmen und Körper überall. Frauen flochten sich hastig das Haar über einer Schulter. Männer stocherten mit den Armen in ihre T-Shirts. Die meisten waren barfuß. Gedränge von allen Seiten. Das Schiff knackte und Mahindan merkte, wie es sich unter der Last der zusammenströmenden Menschenmasse seitlich neigte. Schulter an Schulter standen sie auf beiden Ebenen des Decks, fielen einander ins Wort, Kinder hielten den Atem an. Was sie da sahen – die Bäume, die Berge, das Stückchen Strand – alles schien unmöglich groß, völlig unwirklich nach all den Tagen und Nächten, in denen es nur Meer und Himmel und das Schiffsgerumpel gegeben hatte. Die Alpträume von verrostetem Stahl waren nun endlich vorbei, wurden in den Ozean ausgespien.
Sellian kam angerannt, quetschte sich zwischen Beinen hindurch, presste eine Faust vors Auge. Appa, du bist mir weggelaufen!
Wie sollte ich weglaufen?, sagte Mahindan. Hast du geglaubt, ich bin ins Meer gesprungen? Er hob seinen Sohn auf den Arm: Guck mal, dort! Wir sind da.
Die Wolken brannten orangefarben. Mahindan blinzelte. Die Leute riefen durcheinander und gestikulierten erregt. Seht doch, da!
Sie sahen einen Schlepper und ein größeres, schlankes Schiff mit einem hohen weißen Fahnenmast. Mit aufragendem Bug schoss es auf sie zu. Der Wind breitete die Flagge aus, rot und weiß, majestätisch am flammenden Himmel. Sie sahen das Ahornblatt, und ihr Schiff erbebte unter unbändigem Freudengeschrei.
Der Kapitän schaltete die Motoren ab und sie trieben ruhig dahin. Von oben kam ein hackendes Geräusch. Mahindan erblickte einen Helikopter, der mit seinen Rotorblättern den Himmel zerschnitt und auf seiner Unterseite ein rot aufgetragenes Ahornblatt trug. Jetzt waren schon drei Boote da und umringten das Schiff. Eine Willkommensparty. Die Leute an Deck winkten mit beiden Händen. Die rot-weiße Flagge schlug entschieden zurück.
Mahindan hielt seinen Sohn fest auf dem Arm. Sellian zitterte, ob vor Angst oder vor Freude, das konnte er nicht sagen. Bald bebte auch Mahindan am ganzen Leib. Seine Achselhöhlen wurden feucht. Die Zähne schlugen ihm aufeinander.
Ihr neues Leben. Nun fing es an.
INSCHALLAH, MR. GIGOVAZ
Gigovaz’ Subaru stand mit laufendem Motor vor dem Eingang des Wohnhauses, als Priya um vier Uhr morgens aus ihrem Apartment herunterkam. Ein Streifenwagen der Polizei war herangefahren und hatte sich danebengestellt, beide Fahrer hatten die Fenster heruntergekurbelt, wie die Typen in einer Polizeiserie.
Priya stand unter der verschlissenen grünen Markise und zog kräftig an der Tür, um sicher zu sein, dass sie richtig zu war. Dann ging sie zur Bordsteinkante. Der Wind trieb den Regen schräg über das Pflaster, so dass die Tropfen in kleinen weißen Spritzern vom Asphalt zurücksprangen. Die Polizei fuhr weg, als sie in Gigovaz’ Auto einstieg.
Nette Gegend, sagte er.
Priya wusste nicht, was sie antworten sollte, und schwieg, während sie ostwärts die Hastings entlangfuhren, vorbei an zusammengeschobenen Einkaufswagen und leeren Geschäften, an zusammengedrängt in Hauseingängen schlafenden Gestalten. In der einen Hand hielt sie ihren Thermobecher, mit der anderen mühte sie sich ab, den Sicherheitsgurt zu schließen.
Gigovaz hatte das Radio auf einen Sender für leichte Unterhaltungsmusik eingestellt.
Avishai Cohen, sagte er.
Der Name sagte Priya nichts, aber weil sie Gigovaz keinen guten Morgen entboten hatte, sagte sie: Sehr schön.
Er drehte die Lautstärke hoch und Priya war erleichtert, dass kein Small Talk von ihr erwartet wurde. Der Regen trommelte in gleichmäßigem Rhythmus aufs Autodach. Innen roch es nach abgestandenem Kaffee und nassem Hund. Einwegbecher lagen vollgestopft mit Big-Mac-Tüten herum, eine verschlissene Decke war über den Rücksitz ausgebreitet worden, auf dem Armaturenbrett lag eine feine Staubschicht, auf dem Boden eine Plastiktüte mit zur Hälfte zerkrümeltem Hundekuchen. Priya saß zum ersten Mal in Gigovaz’ Auto und war in keiner Weise überrascht.
Als sie an Richmond vorbei nach Süden fuhren, ließ der Regen nach. Containerschiffe und Baukräne kamen in Sicht, goldene Lichttupfen drangen durch den Nebel. Im Radio kündigte ein melodischer Dreiklang die Nachrichten an. Top-Story: die Flüchtlinge.
Das Schiff wurde zwölf Seemeilen vor der Vancouver-Insel von uns aufgegriffen, berichtete ein Sprecher der Königlichen Kanadischen Berittenen Polizei. Die Migranten wurden in Gewahrsam genommen, eine gründliche Durchsuchung des Schiffs ist zurzeit im Gang.
Der Nachrichtensprecher warf ein: Das Schiff führte keine Flagge und keine Registrierungsnummer – ein Zeichen dafür, so die Küstenwache, dass es unbemerkt in Kanada habe landen wollen.
Gigovaz schaltete das Radio aus. Ein Riesenfrachter mit hunderten von Leuten, sagte er. Ich bin sicher, die wollten sich klammheimlich einschleichen.
Am Fährhafen wurden sie in die Schlange hinter einen blauen Camry gewinkt. Eine kanadische Flagge war an dessen Antenne geheftet und wehte leicht in der Brise. Der Himmel hatte sich zu einem milden Grau verfärbt, es war richtig Morgen geworden. Der Parkplatz war fast leer, nur ein paar Pendler waren an diesem Feiertag, einem Mittwoch, unterwegs. Gigovaz leierte das Fenster nach unten, um den Seitenspiegel abzuwischen. Priya machte dasselbe auf ihrer Seite, trocknete dann die Hand an ihrem Rock ab und unterdrückte ein Gähnen.
Heute hätte man ausschlafen sollen, Pulled Pork und Pancakes essen und vom Kitsilano-Strand aus das Feuerwerk des Nationalfeiertags anschauen – ohne Flüchtlinge, ohne Gigovaz und ohne diese Fahrt zur Vancouver-Insel, mitten in der Nacht.
Gigovaz war total abgedriftet, als Priya ihn auf einer Sitzung der ganzen Belegschaft zum ersten Mal wahrnahm. Die Partner von Elliot, McFadden, and Lo beglückwünschten sich bei einer Power-Point-Präsentation anlässlich fünf stolzer Zahlenreihen. Priya stand an die Hinterwand gelehnt und versuchte, ihre eingezwängten Zehen zu ignorieren, wobei ihr eine eidesstattliche Erklärung durch den Kopf ging, die sie auftreiben musste. Da bemerkte sie ihn. Gigovaz saß zusammengesackt in seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, an den Fingern baumelte eine Kaffeetasse. In der Gesellschaft tadellos sitzender Nadelstreifenanzüge und scharf gespitzter Schreibstifte gab er eine konturlos schwammige Gestalt ab, die in weichen Falten nach allen Seiten überschwappte.
McFadden sagte: Die in Rechnung zu stellenden Stunden sind um 47 Prozent gestiegen, und erntete dröhnenden Applaus. Gigovaz fuhr erschrocken hoch, und Priya starrte unwillkürlich in ein verschlafen schielendes Augenpaar. Sie wandte sich ab und klatschte mit, aber blickte möglichst unauffällig kurz darauf noch einmal zu ihm hinüber. Gigovaz musterte sie immer noch.
Nach der Sitzung folgte er ihr in den Aufzug und bat sie, ihm die Silben ihres Nachnamens auszusprechen.
Raja, sagte sie.
Raja, wiederholte er.
Ein paar andere Personen waren im Aufzug, aber die sagten kein Wort.
Say-kar.
Say-kar.
An.
Rajakaran, sagte er.
Raja-se-kar-an, korrigierte sie ihn.
Sie fand ihren eigenen Namen ziemlich dumm. Die einzelnen Silben verloren durch die Wiederholung ihre Bedeutung, klangen peinlich.
Sie sind Sri-Lankerin?, fragte er.
Ich bin Kanadierin, sagte sie und hob den Kopf ein wenig höher.
Gigovaz verdrehte eine zerknitterte Hand in der Luft und sagte: Ja, ja. Aber Ihre Familie kommt ursprünglich aus Sri Lanka, nicht wahr?
Der Aufzug hielt an und eine Person stieg aus.
Ja, sagte sie. Sie waren zehn Etagen von ihrem Schreibtisch entfernt, und alle Knöpfe auf der Schalttafel leuchteten.
Tamilen?, fragte er.
Ja.
Sie biss sich auf die Lippen und presste die Hände zusammen.
Gigovaz war Senior Counsel, also einer der ranghöheren Anwälte in der Firma, aber an seinem Kragen war auch ein Schmierfleck von Schokolade. Man wusste nicht so recht, wie man sich in seiner Gegenwart verhalten sollte. Noch eine einzige blöde Frage, und Priya würde aussteigen und die Treppen nach oben gehen.
Sie sind Jurastudentin im letzten Jahr? Und bevor sie antworten konnte, fragte er, ob sie Flüchtlingsrecht belegt habe.
Die Tür ging auf und sie traten beiseite, damit eine Frau sich von hinten zwischen ihnen durchquetschen konnte.
Ich spezialisiere mich auf Körperschaftsrecht, sagte Priya.
Mit IFPA haben Sie sich nicht befasst?, fragte er.
IFPA. Sie wusste nicht mehr, was dieses Akronym genau bedeutete, und reimte sich zusammen: Immigrations-Flüchtlings-und-Noch-was-Akt.
Wir haben Scheidungsrecht gemacht.
Wer ist Ihr Tutor?
Joyce Lau. Fusionierung und Erwerb.
Joyce Lau trug ihr Haar in einem Knoten zusammengesteckt und fuhr einen Audi. Sie war der jüngste Senior Counsel in der Geschichte der Firma, und Priya hatte für diesen Job fünf Kommilitonen ihres Jahrgangs aus dem Feld geschlagen.
Gigovaz strich sich übers Kinn. Joyce Lau, sagte er. Beachtlich, beachtlich.
Als sie Priyas Etage erreichten, stieg Gigovaz mit ihr aus und steuerte direkt auf Joyces Büro zu. Packen Sie Ihre Sachen, Miss Rajakaran, sagte er. Sie ziehen um in die siebte Etage.
Kochend vor Wut betrat Priya die Fähre. Sie verwünschte ihre Hautfarbe, sie verwünschte den Augenblick, in dem sie bei der Kanzleisitzung noch einmal zu Gigovaz hinübergeschaut hatte. Als sie Joyce Lau gefragt hatte, warum Gigovaz nicht jemanden haben wollte, der sich im Einwanderungsrecht auskennt, hatte Joyce nur die Achseln gezuckt und geantwortet: Peter will Sie haben. Niemand hatte sich zum Praktikum bei Gigovaz eingetragen, und jetzt hatte er Priya auf diese hinterhältige Art und Weise eingefangen.
Die Motoren sprangen an, der ganze Schiffskörper begann zu vibrieren, rüttelnd und knackend setzte die Fähre sich in Bewegung. Gigovaz legte die Hände ineinander, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und dozierte über die Relevanz der Glaubwürdigkeit. Die Wahrheit ist belanglos, sagte er. Entscheidend ist, ob die Kläger den Anschein geben, die Wahrheit zu sagen.
Er hatte seine Professorenstimme aufgelegt, gelehrt und herablassend. Du bist nicht mein Mentor, dachte Priya.
Gigovaz sah auf seine Armbanduhr. Wahrscheinlich werden die jetzt gerade von den Einwanderungsbeamten ausgefragt.
Moment mal. Die werden ohne uns befragt?, wollte Priya wissen. Haben sie kein Recht auf einen Anwalt?
Es gibt keine Anklage gegen sie, sagte Gigovaz. Technisch gesehen haben sie keinerlei Rechte.
Über ihnen klapperte eine Heizungsöffnung. Die Fähre zerteilte das Wasser und schob sich nach vorn in ein glattes, graues, vernebeltes Nichts. Touristen an Deck fröstelten in ihren Regenmänteln und schossen unnütze Fotos.
Vor zehn Jahren sind fünfhundert Flüchtlinge aus China gekommen, fuhr Gigovaz fort. Vier Schiffe innerhalb von zwei Monaten. Meine Klienten vom ersten Schiff waren schnell abgefertigt und ins Land entlassen, mit Krankenversicherung, Wohnzuschlägen, Arbeitsvermittlung, dem ganzen sozialen Willkommenspaket. Ein paar Monate später kamen die Anhörungen vor der Flüchtlingskommission. Die übliche Routine.
Priya fragte sich, wie schnell dieser Fall hier durchgebracht werden kann. In einem Monat, höchstens. Er erwartete bestimmt nicht von ihr, dass sie bis zum Abschluss des Ganzen für ihn arbeiten wird.
Gigovaz dozierte immer noch: Aber was, glauben Sie, passierte, als ein Schiff nach dem andern aufgekreuzt ist? Plötzlich waren die Asylsuchenden Kriminelle. In Prince George wurde ein Gefängnis wiedereröffnet, nur um sie erst mal aufzunehmen. Dann kamen die endlosen Haftüberprüfungen und Zulassungsanhörungen. Monat für Monat zog sich das hin. Um alles und jedes mussten wir kämpfen. Übrigens war das in demselben Jahr, in dem wir fünftausend Menschen aus dem Kosovo ausgeflogen haben.
Das Flüchtlingsgesetz ist also ganz schön launisch, dachte Priya. Umso wichtiger wäre es, einen Experten hinzuzuziehen. Dann aber hätte er niemanden, dem er seine Weisheit predigen könnte.
Dieses eine muss man begreifen, sagte Gigovaz, im Einwanderungsgesetz können die Richtlinien und ihre Ausführung weit auseinanderklaffen. Er löste die Hände aus ihrer Umklammerung und hielt ihr diesen Abstand demonstrativ vor Augen. Wenn es um Flüchtlinge geht, hat unser Land eine gespaltene Persönlichkeit.
Dreihundert Menschen an Bord eines Schiffes, das rund um die Welt im Kollisionskurs auf Kanada zuschaukelt. Sie wurden gesichtet, sagte Gigovaz. Geheimdienste, Satelliten, Sichtungsberichte aus internationalen Häfen. Wochenlang haben sie allesamt gewartet. Jetzt sind die Leute hier.
Und was wird aus ihnen?, fragte Priya. Ich meine, werden sie bleiben dürfen?
Eine Lautsprecheransage wies die Passagiere noch einmal an, ihre mitgeführten Haustiere in den Autos zu lassen. Gigovaz fixierte den Lautsprecher an der Decke, bis die geisterhafte Stimme verstummte.
Mein allererster Klient war ein Rohingya. Wissen Sie, wer die Rohingya sind?
Als Priya kopfschüttelnd verneinte, erhob Gigovaz seine Zeigefinger, die wie zwei Kirchtürme nach oben wiesen, und dann brachte er die Spitzen zusammen.
Das ist eine Minderheit in Myanmar – Muslime in einem buddhistischen Land. Staatenlos und unterdrückt. Ibrahim Mosar. Er hatte keine rechte Hand mehr. Brandflecken von Zigaretten auf der ganzen Brust.
Priya zuckte zusammen und Gigovaz sagte: Ich war heißblütig und ungehalten wie jeder andere junge Flüchtlingsanwalt, und hier war mein Klient, ruhig und gelassen. Inschallah, Mr. Gigovaz, sagte er immer. So Gott will.
Que será, será, sagte sie. Vermutlich eine Möglichkeit, sein Schicksal zu akzeptieren.
Wir tun unser Bestes, sagte Gigovaz. Unsere Klienten tun ihr Bestes. Alles andere liegt an …
Er hob seine Hände so, als balancierte er eine Servierplatte.
Allah?, fragte sie.
Dem Entscheider, sagte Gigovaz. Er griff blind mit einer Hand unter seinen Sitz. Sie näherten sich dem Fährhafen.
Und was ist aus Ibrahim geworden?, fragte Priya.
Gigovaz war aufgestanden und hielt seine Aktentasche in der Hand. Der Antrag wurde abgelehnt. Sie haben ihn zurückgeschickt.