New Hope City

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New Hope City
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© 2020 Begedia Verlag

© 2020 Severin Beyer

Covergestaltung — Atelier Tag Eins

Lektorat und Satz — Harald Giersche

e-Book-Bearbeitung — Harald Giersche

ISBN13 — 978-3-95777-142-1 (epub)

In Gedenken an meinen Vater Joe

(13.03.1959 – 26.03.2016)

New Hope: Ein Prolog

»Glauben Sie kein Wort von dem, was Sie hier lesen - denn dies ist meine Geschichte. Wie jeder Mensch neige ich dazu, Unangenehmes zu beschönigen, zu vergessen oder es sogar schlichtweg wegzulassen. Wissentlich wie unwissentlich. Glauben Sie mir weder die schlechten noch die guten Dinge, die ich Ihnen erzählen werde. Denn die Erinnerung verändert sich und neigt zur Übertreibung. Und egal, wie überzeugt ich von meiner Darstellung der Ereignisse auch scheinen mag, so kann es damals auch ganz anders gewesen sein. Ich sage Ihnen dies am Anfang dieses Buches, um Sie vor dem Fehler zu bewahren, die kommenden Seiten tatsächlich für wahr zu halten. Halten Sie nie das für wahr, was Menschen über sich selbst erzählen. Auch das nicht, was andere Menschen über diese Menschen berichten. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen all dem Gesagten und dem Nichtgesagten. Nur so werden Sie vielleicht verstehen, wer ich einmal war.«

Ernst Stern, Biographie eines Jedermanns

*

Die Buchstaben der Biographie eines Jedermanns flimmerten über den Holobildschirm, doch nur das kleine Mädchen, das auf einem Sitz hinter Rien kniete, las gelangweilt mit. Rien grinste. Aus seinem rechten Mundwinkel tropfte Sabber. Niemand in der schwülen Hitze der Metropolbahn bemerkte seinen starren Blick, sein Grinsen oder seinen Speichel, der an seinem Mundwinkel herabrann. Nur das Mädchen hinter ihm fragte sich, wann der Loser vor ihr denn endlich zur nächsten Seite switchen würde.

Das was seine Standardprozedur, wenn er unterwegs und voll drauf war: Er versteckte sich hinter dem Hologramm-Bildschirm, den der kaum daumengroße Smartpod erzeugte, den er wie einen Ring an einer Kette um seinen Hals trug. Momentan waren die Buchstaben vor ihm das Einzige, das ihn noch an die andere Realität band.

›Fuck‹, mehr konnte er nicht denken, brauchte es aber auch nicht, da dieses Wort allein vollkommen ausreichte. Es war ja schon widerlich, dass die gute alte Dreidimensionalität flöten gegangen war, aber das nun auch noch die verbliebenen Reste des Raum-Zeit-Kontinuums vollkommen erodierten, machte ihn einfach nur fertig.

›Fuck‹, er hätte nicht beide Pillen auf einmal einwerfen dürfen, eine Black Light allein hätte vollkommen ausgereicht. Diese Dröhnung … Aber er war zu gierig gewesen, zu ausgehungert, als er die zwei silbern schimmernden Tabletten im Chaos seiner alten Wohnung gefunden hatte. Er hatte schon die kalten Nadelstiche gespürt, die ihn zurück in die andere Realität zogen. Oh Gott, was hatte er nur getan … Er durfte überhaupt nicht daran denken, was gerade mit seinem Körper geschah. Hoffentlich hatte er sich nicht eingeschissen, dort, wo auch immer er sich im Moment befinden mochte. War er noch in der Metropolbahn? Doch er vergaß die Frage, noch ehe er sie zu Ende gedacht hatte, da die Buchstaben der Biographie eines Jedermanns vor ihm zerflossen und ihm auf die Hose tropften. Kleine schwarze Punkte, die sich auf ihm ausbreiteten und mit der verwaschen braunen Farbe der Sitzbezüge verschmolzen, die früher wahrscheinlich einmal Burgunderrot gewesen war.

›Shit!‹ Er variierte gedanklich seinen Fluch, was in seinem aktuellen Zustand bereits eine beachtliche geistige Eigenleistung darstellte ›Ich werde eins mit Mutter Natur!‹ Das konnte er überhaupt nicht brauchen, wenn er auf einem Trip mit seiner Umwelt verschmolz. Er musste hier raus, zur Not seinen Körper verlassen, seinen Geist aufgeben, musste unbedingt an der nächsten Haltestelle aussteigen, musste sich dringend bewegen. Bewegung rettete vor der Übermacht einer der beiden Realitäten, Bewegung stellte das Gleichgewicht zwischen Ekstase und Schrecken her. So wie es eben sein sollte, wenn er voll auf Droge war.

›Bewegen!?‹ Unschlüssig darüber, ob das überhaupt möglich war, versuchte Rien seine Beine aus dem Sitz der Bahn der Linie U2 13 zu lösen. Panisch starrte er seine beiden Oberschenkel an, die wie in Beton gegossen an den verwaschen braunen Sitzen der Bahn festklebten.

Rien fokussierte seinen Geist auf seine Beine. ›Bewegt euch schon‹, schoss es ihm durch den Kopf. Er kam sich vor wie ein Psioniker aus einer Science Fiction-Geschichte, der Objekte mittels Telekinese im Raum verschob. Dabei verwackelten die bisher noch nicht zerflossenen Buchstabenreste vor seinem Gesicht vollends und spritzten in alle Richtungen: Die zerfließenden Farbtupfen verteilten sich in der gesamten Metropolbahn. Dort, wo sie aufprallten, breiteten sie sich aus wie eine bösartige Infektion. In einem singulären Augenblick einer lichten Eingebung fasste sich der Junkie an den Hals und erfühlte, nein, erahnte seine Halskette, an der er sich bis zu seinem Smartpod vortastete. Panisch schaltete er seinen mobilen Computer auf schon fast vorsintflutliche Weise direkt am Gehäuse aus. Seine Zunge war zu gelähmt für Sprachbefehle.

Die Buchstaben verschwanden und gaben den Blick auf die Umgebung frei. Das brachte Rien aber nicht viel, da Umgebung minus Raum-Zeit-Kontinuum gleich ein riesiges verschwommenes Etwas bedeutete. Ein weiteres Mal versuchte er seine Beine aus dem Sitz zu lösen, sie aus dem zähen, gummiartigen Untergrund herauszubekommen, der sie umklammert hielt. Er fasste nach einem Haltegriff, um sich hochziehen. Ein Hoffnungsschimmer glitt durch seinen verschwommenen Verstand. Das durfte er nicht vermasseln, schließlich hatte er nur diesen einen Versuch: Wenn es ihm jetzt nicht gelang, sich zu befreien, dann würde die Bahn ihn sich einverleiben, dann würde er ewig Teil der Linie U2 13 bleiben, dazu verdammt, bis zum Jüngsten Gericht auf den Schienen der Undercity herumzufahren. Rien mobilisierte alle seine Kräfte, um sich aufzurichten. Wenigstens die Zeit bis zu seiner endgültigen Verdammnis wollte er mit den anderen Toten ruhig unter der Erde verbringen, bis es an ihm war, gerufen und abgeurteilt zu werden.

Er hatte es geschafft, er stand. Die epischen Klänge von Also sprach Zarathustra von Richard Strauss erklangen, wie in solchen Situationen üblich. Er, Rien, war den Fängen der Metropolbahn entronnen!

Doch dann kam sie mit aller Wucht, die Wirkung der Black Light, die erbarmungslos in seinen soeben wieder reaktivierten Kreislauf einschlug, sich in seinen Körper und Verstand einhämmerte. Es war, als ob sein gesamter Organismus in seiner Existenz reduziert würde. Zuerst fühlte er nur noch seinen Herzschlag, fühlte ihn ausschließlich, als ob sein gesamter Körper nur noch aus diesem regelmäßigen, wuchtigen Pulsieren bestünde. Dann kamen die Knochen zurück, dicht gefolgt von den Muskeln, den Sehnen, den Nerven, gefolgt von den inneren Organen und zuletzt der Haut. Er spürte seine Existenz, spürte sie so schmerzlich-brutal, als ob er gerade eben erst zur Welt gekommen wäre. Das Farbenspektrum der anderen Realität kehrte grell verzerrt in einen extremen Kontrast aus Licht und Dunkelheit zurück. Der den Geist einlullenden Farbenmischmasch, der jenseits des Raum-Zeit-Kontinuums bestanden hatte, wurde in einem Fanal vernichtet, in einem vereinten Triumph von Rationalität und Sinneswahrnehmung.

Rien sah, dass alles gut war. Er befand sich in der Metropolbahn und hatte noch zwei Stationen vor sich, ehe er an seinem Ziel ankam. Die Lichter der unterirdischen Tunnelbeleuchtung blitzten am Fenster der vorbeifahrenden Bahn auf und verschwanden wieder genauso schnell. Niemand schien von seinem Trip Notiz genommen zu haben, nur ein kleines Mädchen mit grässlich pinkfarbener Jacke starrte ihn an. Das Pink der Jacke störte ihn mehr als das Mädchen, aber er wusste, dass der grässliche Farbeffekt durch die Nachwirkung der Black Light hervorgerufen wurde. In einer Vorahnung strich er sich den Sabber aus dem Mundwinkel, rückte seine Sonnenbrille zurecht und bewegte sich unauffällig Richtung Ausgang. Er würde eine Station früher aussteigen, denn jetzt, da die Black Light so wirkte, wie sie sollte, war es einfach nur geil, sich zu bewegen, den eigenen Körper zu spüren, die bloße Tatsache zu existieren.

Erasmus-von-Rotterdam-Platz – Place Érasme de Rotterdam – Plaza Erasmo de Róterdam … auf der Anzeigetafel der Metropolbahn liefen bereits die Namen der nächsten Haltestelle in den Amtssprachen der Europäischen Föderation (EF) durch. Es war brütend heiß in der Bahn, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief – dabei hatte der Sommer noch nicht einmal begonnen.

Riens drogenverzerrtes Grinsen war zu einem entspannten Lächeln geworden. Bei Catherine und Jacques gab es erst einmal einen Schlafplatz, bis er anderswo etwas Neues gefunden hatte.

Die Linie U2 13 wurde langsamer und kam zum Stillstand. Die automatischen Türen öffneten sich und Rien trat in das Gewimmel der Leute, die sich aus dem Bahnhof auf den Erasmus-von-Rotterdam-Platz ergossen, dem zentralen Knotenpunkt der Unterebene zwei, die allgemein nur als die Undercity bekannt war.

Der Erasmus war der einzige Ort dieser Metropolebene, auf den natürliches Sonnenlicht fiel. An manchen Tagen benetzten ihn sogar Regentropfen. Doch im Augenblick war ein durchsichtiges Schutzdach darüber gespannt. Es war einer der wenigen sonnenbeschienenen Stellen in einer ansonsten vom künstlichen neonfarbenen Licht erhellten Welt. Meistens musste das künstliche Licht jedoch ausreichen, da die Strahlen der Sonne je nach Tageszeit und Lage der Stadt von den Wolkenkratzern der City abgeblockt wurden, die an der Oberfläche der Metropole in den Himmel ragten. Von seinen Bewohnern kaum bemerkt, lag der Erasmus-von-Rotterdam-Platz mehrere hundert Meter unter dem Meeresspiegel, inmitten von New Hope City, der schwimmenden Metropolarkologie Europas.

 

Rien ignorierte die schwindelerregenden Höhen über sich. An die Leistungen der Menschheit, die diesen Lebensraum im Meer erst möglich gemacht hatten, verschwendete er keinen Gedanken, sondern nutzte schleunigst die Masse der Menschen, um in ihr unterzutauchen. Auch wenn er sonst nichts zum Einwerfen dabei hatte, hatte Rien keinen Bock darauf, von einem Polizisten angehalten zu werden. Denn wie der Zufall es wollte, wimmelte es bei den öffentlichen Toiletten zwanzig Meter weiter vor ihm nur so von Bullen. Was für ein Menschenauflauf. Wahrscheinlich wieder einer dieser Mumienmorde, die die Stadt seit Monaten in Atem hielten.

Der Junkie beeilte sich, weiterzukommen. Mit der heutigen Technologie konnten schon die simpelsten Überwachungskameras seinen Organismus durchleuchten und anhand seiner Körperwerte feststellen, dass er vollkommen auf Droge war. Das würde ihn zwar nicht ins Gefängnis, dafür aber mindestens 24 Stunden in eine Ausnüchterungszelle bringen. Wenn Rien nur an die Entzugserscheinungen dachte … Ihn fröstelte vor der anderen Realität, ehe er vollständig in der Menschenmenge verschwand.

*

Kommissar Steiner blickte sehnsüchtig den ein- und abfahrenden Bahnen, den darin ein- und daraus aussteigenden Passagieren hinterher, ehe er sich wieder seinem ernüchternden Arbeitsalltag zuwandte. Seit dem Ende der Quarantäne, die aufgrund der Kalkutta-Pest geherrscht hatte, gab es für ihn und seine Kollegen wieder reichlich zu tun. Ein antibiotikaimmunes Bakterium konnte ihn schließlich nicht ewig von der Arbeit abhalten.

Zum Tatort musste Süleyman Steiner nicht mehr zurückkehren. Dort hatte er alles gesehen. Um den Rest kümmerten sich bereits die Roboterdrohnen von der Spurensuche, die Ergebnisse würde er früh genug erfahren. Nachdem der Mittsechzigjährige seinen Kaffeebecher in einen Recyclingeimer geworfen hatte, verließ er den abgesperrten Tatort, um zum Polizeivan zurückzukehren. Das gepanzerte Fahrzeug erinnerte ihn mit seiner genoppten Oberfläche entfernt an eine vorurzeitliche Raupe. Die Schiebetür öffnete sich automatisch, als der Kommissar näherkam. Steiner stieg ein.

Dort saß er: Hinter einer Sicherheitsscheibe befand sich der einzige Zeuge und zugleich auch der Hauptverdächtige, den die Mordkommission AlbinoBlue hatte. Der Kommissar nahm die Hand aus der Tasche seines Trenchcoats und setzte sich seinem Verdächtigen gegenüber. Er blickte in ein tiefblaues, eiskaltes Augenpaar, das ihn scheinbar seelenruhig musterte. Es gehörte zu einem unerhört gutaussehenden jungen Mann. Diese Schönheit war nicht natürlich. Und richtig – die feinen und doch zugleich seltsam markanten Gesichtszüge, das tiefschwarze kurze Haar und die vornehm bleiche, schon beinahe weiße Haut waren das Werk transhumaner Modifizierungen. Das Alter des Verdächtigen zu bestimmen war damit ohne weitere Überprüfungen unmöglich. Allein von der äußeren Erscheinung her zu urteilen hätte Steiner ihn auf 18 oder vielleicht 20 Jahre geschätzt.

Der Kommissar scannte den Körper des Zeugen mithilfe seines künstlichen linken Auges, das er als stete Erinnerung an eine lang zurückliegende Kopfverletzung trug. Die Daten tauchten auf seinem geistigen Bildschirm auf. Es dauerte einen Moment, bis er sie verstand. Vor ihm saß kein Mensch. Zumindest war es kein Mensch mehr. Die Vielzahl an biotechnologischen, mechanischen sowie nanotechnischen Modifikationen und Implantate hatten die Biologie des Menschen vollkommen ersetzt, der sie in sich trug.

Kommissar Steiner war überrascht, obwohl er wusste, dass der hundertprozentig transhumane Körper Realität war. Er besaß eine vage Vorstellung von den Kosten, schließlich hatte ihm der Veteranenfond der Peaceforce sein linkes künstliches Auge und den dazugehörigen Mindrechner, der die Funktionen des Augenimplantats steuerte, nur zum Teil bezahlt. Die Person, die vor ihm saß, musste steinreich sein.

»Sie sind Ben Rivera?«, begann Steiner sachlich, nachdem er die Informationen über den Verdächtigen durchgegangen war, die ihm seine Kollegin zusammengestellt hatte. Der so Bezeichnete lehnte entspannt in seinem Sitz, die Beine lässig übereinandergeschlagen.

»Ja, so heiße ich. Und mit wem habe ich die Ehre?«

»Süleyman Steiner. Ich bin der leitende Kommissar in diesem Mordfall. Sie waren es, der die Polizei gerufen hat.«

»Das ist richtig, doch habe ich den genauen Hergang der Ereignisse bereits ihrer Kollegin geschildert. Warum bin ich immer noch hier?«

»Leider nahm Kommissarin Dvorac Ihre Aussage nur provisorisch entgegen. In diesem Wagen erfolgt die endgültige, für das Gericht zugelassene Videoaufzeichnung. Sie müssen daher Verständnis dafür haben, wenn Ihnen einige der Fragen bereits vertraut vorkommen. Man hat Sie über Ihre Rechte belehrt? Sie wollen keinen Anwalt? Gut.

Fangen wir doch damit an: Was haben Sie in der genderneutralen Toilette gemacht?«

»Was denken Sie? Ist das nicht offensichtlich?«, bekam er leidenschaftslos zur Antwort. Für eine Person, die gerade eben Zeuge eines Mordes geworden war, eindeutig zu leidenschaftslos.

»Mit Ihrem transhumanen Körper haben Sie sicherlich genügend Kontrolle über sich, als dass Sie ein solch versifftes Loch aufsuchen müssten«, versuchte ihn der Kommissar aus der Reserve zu locken »Wenn man dann noch hinzunimmt, dass Sie als Mann eine Toilette aufgesucht haben, die speziell für Menschen gedacht ist, die außerhalb der standardbinären Geschlechterordnung beheimatet sind …« Er beendete seinen Satz nicht.

»Sie haben mich also gescannt. Seit wann haben Sie denn Ihr künstliches Auge?«, die Stimme des Zeugen nahm einen spöttischen Tonfall an »Haben Sie es in einem Friedenseinsatz verloren und durch dieses Implantat ersetzt bekommen? Lassen Sie mich raten: Sie waren damals ’53 im Sultanat Türkei im Einsatz?«

»In der Südtürkei, aber …«

»Waren Sie in einer der verstrahlen Zonen?«, unterbrach ihn der Verdächtige Rivera forsch.

»Gelegentlich. Die Strahlung des großen Atomkriegs war in vielen Regionen dort unten sehr stark. Ist sie eigentlich immer noch …«, Steiner hatte dieser unerwartete Punkt aus dem Konzept gebracht, doch er sammelte sich und nahm das Gespräch wieder auf »Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Warum waren Sie …«

Noch ehe er vollkommen ausgesprochen hatte, fiel ihm der Zeuge erneut ins Wort. In unpassend vertraulicher Freundlichkeit ratterte er los:

»Da haben Sie vollkommen Recht, ich hätte darauf verzichten können, eine Toilette aufzusuchen. Es bestand keine unmittelbare Notwendigkeit dazu. In dieser Sache kann ich leider nichts Entlastendes zu meinen Gunsten vorbringen. Ja: Ich habe mich in der genderneutralen Toilette aufgehalten, nachdem ich meinen Entschluss getroffen hatte, dass es Zeit wäre, meinen Körper von überflüssiger Flüssigkeit zu befreien. Allerdings lag es nur am überfüllten Zustand der Männertoilette zu diesem Zeitpunkt, weswegen ich mich dort befand. Das ist vielleicht etwas anstößig, aber ganz sicher kein Verbrechen, oder?«

Der Verdächtige mauerte. So kam Steiner nicht weiter. In betont sachlichem Ton wechselte er das Thema:

»Erzählen Sie mir, was sich am Tatort abgespielt hat.«

»Nun, nachdem ich die Lokalität, die Sie so treffend als ›Loch‹ bezeichnet haben, betreten hatte, habe ich eine der Kabinen aufgesucht. Doch noch ehe ich sie erreichte, hörte ich einen Schrei. Sein Ursprung lag hinter der benachbarten Trennwand rechts von mir. Ich habe dann wohl ›Brauchen Sie Hilfe?‹ oder irgendetwas in der Art gefragt. Daraufhin hörte ich ein dumpfes Geräusch, wie wenn jemand zu Boden sackt.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich habe die Türe der Nachbarkabine aufgebrochen.«

»Und dann?«

»Wenn Sie wissen wollen, was für ein Anblick sich mir bot, so stellen Sie sich einen Metalltentakel vor, groß wie eine Python, an dessen vorderem Ende eine brutale Klaue prangte. Diese Monstrosität hatte sich um eine Person gewickelt, die sich verzweifelt wand, ohne auch nur den Hauch einer Chance zu haben. Die Klaue umschloss den Kopf des Opfers. Dabei machte sie ein verstörendes Sauggeräusch, während der Tentakel den unkontrolliert zuckenden Körper weiter auf den Boden drückte. Sie können sich meine Überraschung sicher vorstellen, einen solchen Anblick erlebt man schließlich nicht alle Tage.«

›Ziemlich freundliches Lächeln, dafür, dass er eine solche Szene erlebt hat‹, schoss es Steiner durch den Kopf.

»Nachdem ich nun die Türe eingetreten hatte, ließ der Tentakel von seinem Opfer ab und richtetet sich auf. Er fixierte mich. Ich kann nicht sagen, wozu er dies getan hat, aber es wirkte so, als ob mich dieses Ding mustern würde. Der mechanisch-metallische Körper des Tentakels pulsierte, fast als ob er lebendig wäre. So etwas habe ich noch nie gesehen.

Wie dem auch sei, wir standen uns einen Augenblick gegenüber, beide scheinbar unschlüssig. Plötzlich, vollkommen unvermittelt, sprang das Tentakelwesen in die Toilettenschüssel und verschwand durch den Abfluss. Als nächstes wählte ich die Nummer des Notrufs.«

»Hatten Sie denn keine Angst?«

»Sie haben doch meinen Körper gescannt, oder? Geben Sie zu: Selbst Sie hätten keine Lust, es mit mir aufzunehmen, wenn wir uns ohne trennende Scheibe begegnen würden. Dabei tragen Sie Ihre dienstliche Handfeuerwaffe bei sich und haben zusätzlich eine Kampfausbildung durchlaufen.«

Herausfordernd blickten die eisigen Augen des künstlichen Menschen Kommissar Steiner an. Ihm kam dieser Blick irgendwie bekannt vor, doch gelang es dem Kommissar nicht, die Assoziation einzuordnen, die das kalte Augenpaar in ihm hervorrief. Als ob dieser Rivera ihn als ein Stück Beute betrachtete. Steiner war sich ziemlich sicher, dass die Geschichte ausgedacht und erlogen war – der wahre Täter saß vor ihm.

»Ich wüsste nicht, was eine solche Konfrontation bringen sollte«, entgegnete der Kommissar trocken.

»Wer hat denn von einer Konfrontation gesprochen? Fühlen Sie sich etwa von mir herausgefordert? Oder gar bedroht? Entschuldigen Sie, falls ich diese Wirkung auf Sie haben sollte, das wollte ich nicht. Nein, wirklich nicht. Ich habe nur einen äußerst effektiven Körper, der Grund genug ist, sich sicher zu fühlen. Ich hatte einfach keine Angst, die Kabinentüre zu öffnen, genauso wenig wie ich Angst vor dem hatte, was ich dahinter gesehen habe.«

Steiner durchschaute diesen selbstgefälligen Schwall, der ihn nur provozieren sollte. Der Kommissar musste wohl konfrontativer vorgehen, um die Wahrheit zu erfahren. Nur für alle Fälle – und um sich zu beruhigen – lockerte er unauffällig den Halfter seiner Dienstwaffe, eher er fortfuhr:

»Nur das ich das richtig verstehe: Sie wollen mir ernsthaft erzählen, dass dieses Ding das Opfer getötet hat? Woher soll ich wissen, dass nicht Sie es waren?«

»Was wäre mein Motiv? Außerdem würde es an ein Wunder grenzen, wenn der Mord keine DNA-Spuren an mir hinterlassen hätte. Ihre kleinen Drohnen-Helferlein haben meinen Anzug bereits abgesucht. Er ist schneeweiß wie die Unschuld selbst.«

»Ihr Anzug besteht aus Nanofasern, die verhindern, dass sich Schmutzpartikel jeglicher Größe darin einlagern. Das wissen wir bereits aus unseren Analysen. Außerdem könnte Ihr Körper so modifiziert sein, dass Sie nicht einmal Fingerabdrücke hinterlassen.«

»Touché! Das wäre natürlich möglich. In diesem Fall dürfte es aber so oder so schwierig sein, mir die Täterschaft an diesem Mord zweifelsfrei nachzuweisen«, erklärte der makellos geformte Verdächtige.

Dieser Rivera war mit allen Wassern gewaschen, Grund genug, dass er Steiner suspekt blieb. Er fixierte den Zeugen und scannte ihn ein weiteres Mal, jedoch sehr viel gründlicher als zuvor.

»Sie scannen mich schon wieder, nicht? Warum tun Sie das? Hoffen Sie, dass Ihnen das die Antworten auf Ihre Fragen verschafft? Ich glaube, Sie mögen mich nicht. Nicht, dass ich Ihnen deshalb einen Vorwurf machen würde, ich weiß ja selbst, dass ich nicht sonderlich glaubwürdig wirke. Die meisten Menschen wären von dem Anblick, den ich Ihnen geschildert habe, zutiefst verstört. Ich bin es aber nicht. Das ist verdächtig, klar. Aber es gibt meinerseits kein Motiv, es sei denn, Sie unterstellen mir pure Mordlust. Dann müssten Sie natürlich auch erklären, warum ausgerechnet ich die Polizei gerufen habe. Warum hätte ich dies tun sollen, wenn ich der Täter wäre?«

Abgebrüht. Einfach nur abgebrüht. Diese vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod eines anderen Menschen ließ auf eine ausgeprägte psychopathische Persönlichkeit schließen, was heutzutage nur noch ausgesprochen selten war. Aber das brachte Steiner nicht weiter. Weder konnte ein Psychopath etwas dafür, psychopathisch zu sein, noch war es kriminell, zumindest solange er niemanden in öffentlichen Toiletten massakrierte. Steiner brach den Körperscann ab, das brachte ihn nicht weiter.

 

»Dürfte ich nun gehen oder haben Sie noch weitere Fragen an mich? Ihre Kollegin hat meine Kontaktdaten bereits aufgenommen, Sie können mich daher bei Bedarf jederzeit kontaktieren. Zu humanen Zeiten, versteht sich.«

Nein, er konnte ihn nicht gehen lassen. Auch wenn die Beweislage dünn war, war Rivera die beste Spur, auf die sie bisher in dieser Mordserie gestoßen waren. Vielleicht war er der mordende Pharao, den sie so dringend suchten. Natürlich würden gutbezahlte Anwälte noch heute den Verdächtigen gegen Kaution freibekommen. Aber wenigstens konnten Steiner und seine Kollegen ihn so im Auge behalten. Argus, das städtische System zur Videoüberwachung des öffentlichen Raums, dürfte es diesem Verdächtigen in Zukunft so gut wie unmöglich machen, sich unbemerkt in New Hope zu bewegen. Zumindest in den kontrollierten Bezirken, doch das war eine andere Geschichte.

Aber was, wenn er ihn zu Unrecht verhaftete? Dann hatte er einigen Ärger am Hals. Inzwischen wurden sogar Richter für Fehlurteile juristisch zur Rechenschaft gezogen. Und als einfacher Polizist war man ohne gute Rechtsschutzversicherung ohnehin aufgeschmissen.

Als Rivera in Handschellen abgeführt wurde, fiel Steiner ein, woran ihn dessen Blick erinnert hatte: An das tiefschwarze Auge eines weißen Haies, eines Killers der Meere. Bisher hatte er so etwas jedoch nur im Explorer Stream in einer Folge über ausgestorbene Arten gesehen.

Später, die künstliche Beleuchtung von New Hope war schon gedimmt, fuhr Süleyman Steiner nach einem anstrengenden Arbeitstag durch die heruntergekommenen Straßen eines der äußeren Bezirke der dritten Unterebene. Diese Ebene war so verratzt, dass die Einwohner sie nur noch den Bottom nannten. In vielen Vierteln funktionierte nicht einmal mehr der Hologramm-Himmel, der den Bewohnern der unteren Ebenen vorgaukeln sollte, im Freien zu leben. Das Problem der fehlenden Tag-Nacht-Beleuchtung hatten die Einwohner des Bottoms pragmatisch dadurch gelöst, indem sie die Hologramme der Reklameschilder bei Nacht dimmten, die die Straßen säumten. Die Gegend des Bottoms, die der Kommissar mit seinem E-Motorrad durchquerte, glich bei Nacht einem Gewirr von Katakomben, die in schummriges Licht getaucht waren.

Die ursprüngliche Bepflanzung, die die Arkologie für ihre unterirdischen Bewohner einst freundlicher gestaltete, war hier längst eingegangen. Der Asphalt der Straße hatte sich schon vor Jahren zurückgeholt, was ihm gehörte. Die Hologramm-Reklametafeln – ein vergeblicher Versuch, die kärglichen und verhärmten Häuserfronten zu verbergen – zeigten Steiner den Weg zum Ming. Wahrscheinlich wurden sie mit illegal abgezweigtem Strom betrieben. Die Polizei unternahm jedoch nichts dagegen, denn für die Orientierung waren die leuchtenden Schilder unverzichtbar. Denn auch die ursprüngliche Straßenbeleuchtung funktionierte schon seit langem nicht mehr.

Im Gegensatz zu den restlichen Bewohnern der Arkologie war Steiner nicht auf die öffentliche Metropolbahn, das Fahrrad oder die eigenen Füße angewiesen. Denn als Polizeibeamter stand ihm ein Dienstfahrzeug auch für den privaten Gebrauch zur Verfügung. Motorisierte Fahrzeuge waren mit wenigen Ausnahmen nur für Notfalldienste wie Polizei, Erste-Hilfe-Dienste oder Feuerwehr zugelassen. Obwohl über vier Millionen Menschen auf dieser Ebene wohnten, die damit etwas weniger als ein Drittel der Gesamtbevölkerung New Hopes ausmachten, traf der Polizeibeamte nur auf wenige Seelen.

Schließlich erreichte Steiner den Block, in dessen Inneren sich das Ming befand. Ohne abzusteigen, rauschte er mit seiner Maschine verbotenerweise durch den Zentralkorridor der Wohnwabe. Über einen Aufzug gelangte er mitsamt Motorrad in den siebten Wabenstock. Dort angekommen, folgte er dem nur spärlich beleuchteten Gangsystem, vorbei an Pennern und Drogensüchtigen. Endlich gelangte er zu einer abgewrackten, in traditionell chinesischen Stil gehaltenen Gebäudefront, über der schief mehrere gelbe Buchstaben hingen, die das Wort »MING« bildeten. Die Schrift bestand richtig oldschool aus LED-Röhren, statt aus einem projizierten Hologramm. Aus energetischer Sicht war das natürlich ein Albtraum. Das war das Ming, das Abbild einer einstigen Hochkultur, die in den Resten ihrer Ruinen vegetierte.

Der Kommissar aktivierte die biometrische Verriegelung seines Fahrzeugs und ließ sein Motorrad neben den beiden Türstehern zurück. Per Sprachbefehl fuhr sich sein Trenchcoat wieder aus, dessen untere Hälfte während der Fahrt hochgefaltet gewesen war, um nicht in die Speichen zu geraten. Die verlebte, schlecht rasierte Gestalt von Süleyman Steiner war hier bestens bekannt, daher kam er ohne weitere Fragen in die Spelunke. Sofort stieg ihm der aschige Geruch von Zigaretten in die Nase. Es war kein Geheimnis, dass man im Ming den EF-Nichtraucherschutz offen missachtete wie so vieles andere auch. Das war auch einer der Gründe, warum Süleyman diesen Schuppen so gerne aufsuchte: Irgendwann hatte er Dienstende, dann war er kein Polizist mehr. Und das Ming war für ihn schlichtweg die Verkörperung des Dienstendes.

Zielstrebig setzte er sich an den Tresen unter den goldenen Plastikdrachen, der von der Decke hing, und bestellte einen Drink. Dann drehte er sich auf seinem Barhocker um, sodass er mit dem Rücken zur Bar saß, lehnte sich zurück und genoss den ersten Schluck, der seine Kehle hinunterrann. Von dort sah er den Leuten beim Glücksspiel zu, beim Saufen, Rauchen, Kiffen, sah ihnen dabei zu, wie sie eine Line nach der anderen zogen und sich mit den stets neuesten Pillen und Tickets in andere Realitäten bombten. Es war ihm egal.

»Nicht viel los heute, hm?«, meinte er schließlich zu Pete, die heute eine Frau war und hinter der Bar die Drinks ausgab »Du, Pete, wo ist Madame Ming? Ich kann sie nirgendwo sehen.«

»Madame kommt heute später. Ich weiß aber nicht, wann«, versuchte Pete mit weiblicher Stimme zu antworten, was sich allerdings ziemlich absurd anhörte, da ihr Stimmmodulator schon etwas in die Jahre gekommen war. So war es mehr ein burschikoser Bass, ein extremer Widerspruch zur zierlichen Gestalt der gender-fluiden Person.

»Das macht nichts, dann warte ich. Noch einen White Russian, bitte.«

»Schon das erste Glas geleert? Du siehst ziemlich müde aus, Süleyman. Harten Tag gehabt?«

Süleyman rieb sich die linke Schläfe, während er in wenigen Zügen die Reste seines ersten Drinks leerte und sich zu Pete umwandte:

»Ich habe schon viel krankes Zeug erlebt; im Krieg, als Polizist … Und dabei denkt man immer wieder, dass man schon alles gesehen hätte. Vielleicht hat man das auch, aber trotzdem kommt ständig krankes Zeug dazu, das einen erneut fertigmacht. Ja …«, er besah sich sein leeres Glas und hatte das Gefühl, dass er noch nicht genug getrunken hatte, um dieses Gespräch zu führen. Süleyman war kein gesprächiger Mensch und so war der äußerst dankbar, als ihm die über und über tätowierte Pete seinen zweiten Drink rüberschob. Er rieb sich nachdenklich sein schlecht rasiertes Kinn.

»Zum Beispiel hatten wir heute wieder einen dieser Mumienmorde. Man sieht noch in die leeren Augen eines dieser ausgebluteten Opfer, dann zerfallen sie auch schon zu Staub. Aber das ist es nicht, was mich fertigmacht, nicht heute. Es ist unser Verdächtiger. Stranger Typ, ist zu 100 Prozent transhuman. Sogar sein Gehirn! Wie kann man sein Gehirn ersetzen? Das ist man doch nicht mehr man selbst.«