Read the book: «Der Sommer mit Josie», page 2
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Der nächste Tag war zum Glück ein Samstag. Barbara brauchte heute nicht zu arbeiten, und Ilsa war mit Caro baden gegangen.
Sie fühlte sich nicht gut, das hatte Barbara sofort beim Aufstehen gespürt. Zu viele Fragen suchten nach einer Antwort. Das war wie auf einem Schiff: das Deck schwankt, und man wird seekrank. Sie hatte sich einen starken Kaffee gebrüht, der sie wieder etwas auf die Beine brachte. Gerade jetzt brauchte sie doch viel Kraft, und sie durfte Daniel nicht zeigen, wie groß die Last war, die sie bedrückte.
Langsam öffnete sich die Tür seines Zimmers. Daniel kam heraus, in kurzen Jeans und T-Shirt. Bedächtig setzte er einen Fuß vor den anderen, als überlege er noch, wie es nun weitergehen sollte.
»Morgen, Mama.«
»Guten Morgen, mein …«
Barbara fuhr unwillkürlich mit der Hand zu ihrem Mund. Was sollte sie denn nun sagen? Ging es denn in dieser Situation überhaupt noch, ihn ›Sohn‹ oder ›Junge‹ zu nennen?
Daniel musste die Unsicherheit bemerkt haben.
»Ist nicht so schlimm«, entgegnete er leise.
Seine Mutter atmete erleichtert auf. Sogar ein kleines Lächeln fand seinen Weg auf ihr Gesicht.
»Na komm, iss erst mal einen Happen!«
Daniel setzte sich an den Küchentisch, auf dem noch die Brötchen standen. Barbara holte Butter und Käse aus dem Kühlschrank.
»Was möchtest du trinken?«
»Nur ein Glas Mineralwasser, bitte.«
Barbara schenkte ein, dann setzte sie sich ihm gegenüber und wartete. Wartete, dass Daniel seine Sorgen vor ihr ausbreitete. Sie schaute auf den Tisch, auf Daniels Teller – sie schaute nicht in sein Gesicht. Vielleicht hätte er dass als Aufforderung zum Sprechen empfunden.
Ihr war klar, dass sie ihr Kind jetzt nicht in Watte packen konnte. Auch Daniel musste sich der Situation stellen, damit sie weiterkamen. Doch wenigstens am Anfang sollte er das Tempo bestimmen.
»Was willst du heute machen?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. Möglich, dass ein paar belanglose Fragen das Eis brechen könnten.
»Weiß ich noch nicht. Vielleicht lesen. Oder was am Computer.«
»Draußen ist es so schön. Hast du nichts mit Tom vor?«
»Nee, die fahren übers Wochenende weg.«
»Ruf doch Charlie an und frag sie, ob sie uns mal besuchen möchte!«
Bei der Nennung des Namens seiner Cousine wich die Gleichgültigkeit für einen Moment aus seinem Gesicht. Waren Barbaras Überlegungen von gestern doch nicht so abwegig?
Charlie war ein hübsches Mädchen. Mit ihren sechzehn Jahren zog sie die Blicke der Jungs auf sich, ohne jedoch Kapital aus ihrem Aussehen schlagen zu wollen. Die langen braunen Haare, die einen Hauch ins Rötliche schimmerten, wenn die Sonne darauffiel, die nussbraunen Augen, die immer zu lachen schienen. Wer Charlie sah, konnte einfach nicht mehr traurig sein.
Charlie wollte Journalistin werden. Dort zu sein, wo etwas passiert, das reizte sie. Über Sachen berichten, die nicht jeder erlebt, die aber durch ihre Arbeit Tausende erfahren würden – Charlie stellte sich das unheimlich spannend vor.
»Findest du, dass das jetzt eine gute Idee ist?«
Daniel versank wieder in sich.
Barbara riskierte einen Vorstoß.
»Daniel, gestatte mir eine Frage. Was wäre, wenn das gestern nicht passiert wäre?«
Er sah seine Mutter an, etwas irritiert davon, worauf die Frage abzielte. Dann überlegte er. Ja, was wäre geschehen, wenn seine Mutter erst zwei Stunden später gekommen wäre?
Die Antwort schien erst einmal einfach. Er hätte sich wieder umgezogen, und der Tag hätte einen ganz normalen Ausgang genommen …
Hätte er das wirklich? Jetzt erschloss sich ihm der Sinn erst richtig. Seine Mutter öffnete ihm ein Hintertürchen, einen Weg, über das Morgen und Übermorgen nachzudenken.
»Es wäre irgendwann später passiert«, antwortete er und nickte zur Bestätigung. »Ich verstehe …«
Barbara hatte auch verstanden. Daniel begann, über seine Zukunft nachzudenken.
Zum Mittag hatte Barbara Spaghetti gekocht. Sie waren zu zweit, da Ilsa erst gegen fünf Uhr wiederkommen wollte.
Für Daniels Mutter war es schon ungewöhnlich, dass ihr Sohn es heute vorzog, zu Hause zu bleiben. Doch gerade dieser Umstand machte ihr auch Hoffnung. Normalerweise hätte Daniel irgendeinen Freund gefunden, mit dem er etwas unternehmen würde. Er war kein typischer Stubenhocker. Dass er jetzt blieb, konnte wohl nur bedeuten: Er wollte dann da sein, wenn er sprechen wollte. Er hielt das Garnknäuel in der Hand, suchte aber noch den Anfang des Fadens.
»Hat's geschmeckt?«, erkundigte sich Barbara und stellte die Teller aufeinander, um sie wegzuräumen.
»Du weißt doch, dass ich Spaghetti mag … besonders, wenn sie von dir sind.«
Sie schmunzelte über das Kompliment ihres Sohnes.
»Danke. Dafür brauchst du auch nicht beim Abwasch zu helfen.«
»Lass mal, dann sind wir schneller fertig.«
Daniel griff nach dem Tuch, um das Geschirr abzutrocknen.
»Hätten wir eine Spülmaschine«, sinnierte er, »dann hätten wir noch mehr Zeit.«
»Ja, du! Alles nur noch Technik.« Barbara boxte ihn auf den Arm. »Ich glaube, unser bisschen Abwasch schaffe ich gerade noch so. Oder?«
Jetzt musste Daniel lachen.
»Du bist doch die Beste!«
Es verging eine Zeit, in der man nur das Klappern des Geschirrs vernahm. Beide spürten, dass sie einen Schritt aufeinander zu gegangen waren. Und es war gar nicht so schwer, wie es gestern noch aussah.
»Mama …«
Daniel brach das Schweigen als erster, nachdem er das Geschirrtuch zum Trocknen aufgehängt hatte.
»Ja, was gibt's?«
»Können wir reden?«
Barbara fiel ein Stein vom Herzen.
Ilsa saß am Beckenrand und ließ die Beine im Wasser baumeln.
»Sag mal, Caro«, begann sie, »du hast doch auch einen Bruder.«
Ihre Freundin neben ihr sah sie an.
Carolin war Ilsas beste Freundin. Man hätte sie mit ihren feuerroten kurzen Haaren, die immer etwas wirr lagen, und der Stupsnase für Pippi Langstrumpfs Schwester halten können. Denn frech war sie auch.
»Ja, und?«
»Wie ist'n der so?«
Caro verstand die Frage nicht. Sie fixierte Ilsa mit einem fragenden Blick.
»Was soll'n das heißen? Meinst du etwa …«
Caros Bruder war siebzehn.
»Nein, nicht was du jetzt denkst.« Ilsa verstand, worauf Caro hinaus wollte. »Ich meine, wie er sich so verhält? Was er macht?«
Caro zuckte mit den Schultern. »Was soll er machen? Er macht 'ne Lehre als Automechaniker.«
Ilsa musste deutlicher werden.
»Mein Bruder hat sich gestern Abend ganz eigenartig verhalten. Er hat kaum was gesagt und war gar nicht richtig da. So … abwesend.«
»Vielleicht hat er Liebeskummer?«
Ilsa platzte heraus: »Also, das wüsste ich aber!«
Staunend blickte Caro sie an. »Erzählt er dir etwa alles?«
Daniels Schwester spritzte Caro mit einem Fußschlenker nass.
»Nee. Aber ich würd's herauskriegen.« Das sagte sie ziemlich sicher.
Caro kapitulierte: »Ich hab keine Ahnung. Meiner verhält sich nur so, wenn er Stress mit seiner Freundin hat.«
Ilsa kombinierte: »Daniel scheint auch irgendein Problem zu haben. Mit der Schule kann's jetzt in den Ferien nicht sein. Also ist es was Privates.«
Sie stieß sich mit den Händen vom Rand ab und rutschte ins Wasser.
Daniel öffnete die Tür seines Zimmers und ging hinein.
Barbara fragte vorsichtshalber. »Bei dir?«
Daniel nickte. »Ist einfacher für mich:«
Er schob die Bettdecke auf seiner Schlafliege zur Seite und zog sich selbst einen Stuhl heran.
Seine Mutter setzte sich auf die freie Stelle der Liege.
»Keine Angst. Wir schaffen das«, ermutigte sie ihn. Das war wieder diese warme Stimme, die so viel Ruhe ausstrahlte. »Möchtest du … oder soll ich …?«
»Besser, du fragst erst mal.« Das war eine klare Ansage.
Barbara wusste: Jetzt geht es in die Tiefe. Und wie beim Zahnarzt kann ein Stück zu weit verdammt weh tun. Deshalb vermied sie, gleich mit einer Frage zu beginnen. Statt dessen wollte sie ein Sicherheitsnetz weben, das ihren Sohn vor einem harten Aufprall schützen sollte, falls er fiel.
»Sieh mal! Du bist ja nicht der einzige, der so fühlt. Es gibt überall Menschen, die nicht in die alten Schemen passen. Das ist nicht schlimm. Es ist keine Krankheit, die bekämpft werden muss. Es ist ein Gefühl. Ein sehr tiefes. Und sehr wichtiges. Du bist, was du fühlst. Natürlich wird es uns allen erst einmal schwerfallen, das zu verstehen. Es fällt dir ja selbst schwer. Aber du musst es einfach zulassen. Ich kann jetzt nur für mich sprechen. Du bist mein Kind, und du wirst es immer bleiben. Egal, ob als Junge oder als Mädchen. Ich werde es respektieren.« Sie hielt kurz inne. »Es wird seine Zeit brauchen, bis ich es wirklich realisiert habe. Aber ich werde es respektieren. Hab nur etwas Geduld mit mir.«
Barbara zog ihr Taschentuch heraus und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Auch Daniel hatten diese Worte nicht unberührt gelassen. Seine Mutter hörte die tiefen Luftstöße, mit denen er sich das Herz freiatmen wollte.
Nach einer Minute war sein Atem wieder ruhig geworden. Er schaute seine Mutter gegenüber an, und er fühlte: Sie würde ihm jeden Satz verzeihen, den er jetzt sagte. Weil sie in diesem Moment ein unsichtbares Band vereinte. Vielleicht würde sie leiden, aber sie würde verzeihen.
»Was möchtest du wissen?«
»Weißt du, ich war gestern sehr überrascht, dich so zu sehen. Ich habe doch nie etwas bemerkt. Fühlst du das schon lange, diese … Falschheit … als Junge?«
Barbara suchte die richtigen Worte, um nicht zu verletzen.
Daniel sah auf seine Hände im Schoß. Er spielte mit den Fingern.
»Ich weiß nicht so recht. Es ist schon eine ganze Weile so … eigenartig.«
Er machte eine Pause.
»Die anderen haben fast alle eine Freundin. Wenn ich ein Mädchen sehe und es gefällt mir, wünsche ich mir nur, auch so auszusehen. Ich will nichts von ihr. Ich will einfach nur so sein wie sie!«
Daniel war bei diesen Worten immer lauter geworden. Seine Mutter spürte, wie ihn der Schmerz buchstäblich zerriss.
Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Verstehst du! Ich will doch nur so sein …« Er riss die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.
Seine Mutter stand auf. Sie streichelte ihren Sohn über den Kopf, dann ging sie leise hinaus.
Barbara fühlte sich hundeelend.
Kurz nach fünf kam Ilsa nach Hause. Sie ging ins Bad, um die nassen Badesachen zum Trocknen aufzuhängen. Dann lief sie in die Küche.
»Ist Daniel nicht da?«, fragte sie schon auf dem Wege.
Barbara antwortete leise: »Doch. Er ist in seinem Zimmer.«
Ilsa drehte sich um.
»Nicht! Lass ihn!«, hielt sie ihre Mutter zurück.
Ilsa sah die Sorge in ihrem Gesicht.
»Geht es ihm nicht gut? Ist er krank?«
Barbara musste diplomatisch sein. So sehr sie dieses Damoklesschwert verwünschte, aber sie durfte ihrer Tochter jetzt nicht die Wahrheit sagen – noch nicht.
»Nein, nicht krank. Er hat Probleme. Aber«, fuhr sie fort, als sie Ilsas Frage auf den Lippen sah, »davon reden wir später. Nicht heute, und nicht morgen. Aber ich verspreche dir, wir reden darüber. Alles klar, mein Schatz?«
»Alles klar, Mama.« Ilsa gab sich gelangweilt.
Barbara stöhnte. So eine Situation ging an die Substanz. Sie musste die Familie zusammenhalten und doch verhindern, dass alles im Chaos endete. Sie durfte keinen ausgrenzen und musste dennoch im Augenblick Distanzen schaffen.
Was sollte sie als erstes tun?
›Ich muss mehr wissen‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Ich kann das nur in den Griff bekommen, wenn ich mehr über Transgender weiß. Mit den paar Brocken Allgemeinbildung komme ich nicht weiter. Also …‹
»Ilsa, kann ich mal dein Notebook haben? Oder brauchst du es selber?«
Die Zimmertür ging auf.
»Hat es Zeit bis morgen? Da bin ich wieder baden.«
»Natürlich. Es eilt nicht.«
Barbara sah die nächste Hürde direkt vor sich. Zum Abendessen würden sich die Geschwister auf jeden Fall sehen. Das zu verhindern, wäre ausgesprochen dumm. Aber auch so dürfte es der Aufmerksamkeit einer Dreizehnjährigen nicht entgehen, dass es sich hier nicht nur um ein einfaches Problemchen handelte. Sie hatte ihrer Tochter zwar ein Versprechen abgerungen, doch das war nur Fassade. Sie kannte ihr Kind gut genug, um zu wissen, dass Ilsa, wenn es die Situation erforderte, eine geradezu kriminelle Energie entwickeln konnte.
Leise klopfte sie an Daniels Tür. Nichts rührte sich.
Sie versuchte es ein zweites Mal. »Ich bin’s.«
»Komm rein, Mama«, hörte sie. Die Stimme klang müde.
Barbara schlüpfte leise durch die Tür und schloss sie schnell hinter sich.
Daniel lag auf seiner Liege. Das Kopfkissen war zerknüllt, die Decke am Fußende.
»Wie geht es dir?«, fragte sie, etwas besorgt.
»Ging schon mal besser.«
»Daniel, du weißt, was ich dir heute gesagt habe. Und dazu stehe ich. Was ich dir nicht versprechen kann, ist, wie es deine Schwester aufnehmen wird. Deshalb wollte ich ihr vorerst nichts sagen. Leider leben wir alle zusammen in dieser Wohnung, und ich habe keine Ahnung, welches Bild von dir sich gerade in Ilsas Kopf zusammensetzt. Ich weiß, ich sollte das nicht tun – aber ich frage dich jetzt: Was machen wir?«
Daniel setzte sich auf.
»Ganz schön blöde Situation, nicht wahr?«
Beide schwiegen. Für diesen Fall fehlte ihnen die Erfahrung, was im Augenblick das Richtige wäre.
Da kam Barbara ein Gedanke. Erfahrung! Sie hatten keine, aber ihr fiel in diesem Moment jemand ein, der weiterhelfen könnte.
»Sag mal, Daniel, ihr habt doch an eurer Schule so was wie einen Schulpsychologen oder Vertrauenslehrer. Wer ist das?«
Daniel überlegte kurz.
»Frau Richter, unsere Kunst-Lehrerin, ist Vertrauenslehrerin.«
»Gut. Sehr gut. Sie könnte doch wissen, was zu tun ist.«
Daniel zeigte auf den Kalender an der Wand.
»Es sind Ferien!«
Seine Mutter überhörte den Hinweis.
»Hast du ihre Telefonnummer?«
Daniel stand auf und kramte in einer Schublade des Schreibtisches. Schließlich hielt er einen gelben Zettel hoch.
»Den haben wir mal bekommen. Stehen alle wichtigen Leute drauf.«
Barbara nahm den Zettel. Schulleiter, Sekretariat, … Ihr Blick flog über das Papier. Da …
»Anka Richter, Vertrauenslehrerin. Gutenbergstraße 17. Die meinst du doch?«
»Ich glaub, sie heißt Anka. Ja.«
Barbara schaute ihren Sohn an.
»Daniel, wir müssen jetzt zusammenhalten und jede Chance nutzen. Wir brauchen Hilfe, verstehst du?«
»Ist ja in Ordnung. Mama.« Und als sie sich schon anschickte, das Zimmer zu verlassen, sagte er noch leise: »Ich find dich toll. Ehrlich …«
Seine Mutter drehte sich noch einmal um.
»Ich dich auch. Ehrlich!«
Barbara schnappte sich ihr Handy. Dann klopfte sie bei Ilsa.
»Schatz, ich geh noch mal kurz Luft schnappen. Wenn ich wiederkomme, gibt es Abendessen.«
Dann verschwand sie nach unten.
Ilsa musste nicht hören, was sie am Telefon zu sagen hatte. Deshalb ging sie ein Stück die Straße entlang und bog in die enge Gasse ein, die dort einmündete.
Der Zettel! Barbara griff in die Tasche und holte das farbige Papier heraus. Sie wählte die Nummer.
»Richter.«
»Hier ist Barbara Wegener, Daniels Mutter. Klasse 8b.«
»Ja, ich weiß. Guten Abend, Frau Wegener. Was gibt es.«
»Ich habe ein Problem mit Daniel und komme damit nicht klar. Ich brauche Ihre Hilfe als Vertrauenslehrerin.«
Das Telefon blieb still. Wahrscheinlich ordnete Frau Richter erst einmal die Fakten.
»Es ist dringend!«, setzte Barbara nach.
»Gut. Können Sie mir sagen, was genauer …«
Barbara senkte die Stimme: »Ich glaube, mein Sohn ist Transgender.«
Sie hörte ein Rauschen im Telefon. Frau Richter hatte bei der Nachricht wohl selbst tief durchgeatmet.
»Das ist natürlich wirklich wichtig. Können Sie zu mir kommen.«
Barbara schaute auf den Zettel.
»Gutenbergstraße 17?«
»Ja genau. Würde es gegen acht Uhr passen?«
»Glauben Sie mir, es würde zu jeder Zeit passen!«
»Dann sehen wir uns um acht.«
Es wurde still. Frau Richter hatte aufgelegt.
Als Barbara wieder die Wohnung betrat, hatte sie zumindest das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Sie würde Gelegenheit haben, sich jemandem mitzuteilen, sich einen Rat zu holen, und trotzdem konnte sie sicher sein, dass die ganze Sache absolut diskret behandelt wurde. Die Probleme wurden dadurch nicht weniger, aber sie verteilten sich auf mehrere Schultern.
Ilsa hatte bereits den Tisch gedeckt und wartete. Ihr kam das alles höchst verdächtig vor. Ihr Bruder war unter unbekannten Umständen kaum noch zu sehen, und ihre Mutter lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend. Nur sie konnte sich keinen Reim auf das alles machen. Sie beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Mama!«
Barbara kam zur Küchentür und sah in die trotzigfragenden Augen ihrer Tochter.
»Mama, was ist hier eigentlich los?«
Was sollte sie sagen? Das Fass war kurz vorm Überlaufen.
»Schatz, ich habe dir gesagt, du wirst alles erfahren. Aber bitte, lass mir etwas Zeit! Ich muss einiges ordnen, ehe wir reden können.«
»Glaubt ihr wirklich, ihr könnt mich hinhalten? Ich gehöre auch zur Familie! Ist es was Schlimmes?«
Barbara musste ihr etwas entgegenkommen, damit sie das Vertrauen der Kleinen nicht einbüßte. Also rang sie sich zu einer halben Aussage durch.
»Nein. Es ist nichts, was wir nicht in den Griff bekommen könnten. Und es wird keinem von uns ein Schaden entstehen. Es … Es braucht nur einige Zeit, bis wir es alle verarbeiten können.«
Sie kam sich ziemlich schäbig bei dieser Antwort vor. Und sie wusste nicht, ob sie lange vorhielt.
Auch Ilsa merkte, dass etwas in der Luft lag, worüber ihre Mutter eigentlich sprechen wollte, aus irgendwelchen Gründen aber noch nicht konnte. Wenn sie jetzt weiter bohrte, würde es wohl nur noch peinlicher werden. Da wartete sie lieber ab und machte ihre eigenen Recherchen.
Barbara hatte schon während ihrer Antwort begonnen, das Abendbrot auf den Tisch zu stellen. Jetzt rief sie die Kinder.
»Ilsa! Essen! Daniel! Kommst du bitte auch!«
Die Familie versammelte sich am Tisch.
Daniel hatte versucht, die Probleme in seinem Zimmer zu lassen. Er setzte sich auf seinen Platz und langte demonstrativ ordentlich zu. Nur eines entging seiner Schwester nicht. Er war nicht sehr gesprächig.
Sie wollte es wissen.
»Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte sie provozierend und stupste ihn an.
Die Mutter sah sie streng an.
»Lass das, bitte!«
Plötzlich warf Daniel die angefangene Stulle auf den Teller und polterte los: »Ach was! Ist doch sowieso alles egal! Warum tust du das, Mama?«
Er stand auf und wandte sich zum Gehen.
Ilsa schaute ihren Bruder mit großen Augen an. Auch Barbara war zusammengezuckt.
»Nicht, Daniel! Nein!«
Sie sprang ebenfalls auf und holte ihn im Flur ein. Ihn an beiden Schultern fassend, sah sie ihm flehend ins Gesicht und sprach mit leiser Stimme: »Bitte, Daniel! Ein Tag! Ich bitte dich um einen Tag! Tu mir den Gefallen! Tu uns den Gefallen!«
Barbara zog ihn an sich. Sie spürte das leichte Zittern seines Körpers. Da hielt sie ihr Kind ganz fest.
Daniel schluckte. Er schämte sich auf einmal für sein Benehmen.
4
Die Gutenbergstraße lag nicht weit von der Wohnung der Wegeners entfernt. Barbara hatte das Fahrrad genommen und nur fünf Minuten gebraucht.
Sanierte Altbauten bestimmten hier das Bild, die meisten drei, maximal vier Etagen hoch. Barbara drückte auf die Klingel neben dem Namen »Richter«.
In der zweiten Etage öffnete sich ein Fenster. Eine junge Frau steckte den Kopf heraus und sagte einladend: »Kommen Sie herein! Die Tür ist noch offen. Zweiter Stock links.«
Barbara betrat den Hausflur. Während sie nach oben stieg, konstatierte sie: ›Hätte gar nicht geglaubt, dass die Vertrauenslehrerin noch so jung ist. Sie kann maximal Ende dreißig sein, wie ich.‹
Oben wartete Frau Richter schon an der geöffneten Tür.
»Anka Richter«, stellte sie sich vor.
»Barbara Wegener. Guten Abend, Frau Richter.«
Die Lehrerin bat ihren Gast herein. Sie ging ins Wohnzimmer vor und bot ihr einen Sessel an.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Ja, danke. Wenn Sie ein Glas Wasser hätten.«
Die Gastgeberin brachte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser. Sie schenkte ein, dann nahm sie selbst auf der Couch Platz.
Barbara dachte: ›Sie ist noch jünger, als ich vermutete. Höchstens Mitte dreißig.‹ Ihr bordeauxrotes Haar war zu einem flotten Kurzhaarschnitt frisiert. Auch sonst machte sie einen durchaus sportlichen Eindruck.
»Sie haben ein ernsthaftes Problem mit Ihrem Sohn?«, nahm Frau Richter den Faden wieder auf.
»Ja. Seit gestern.«
»Bitte erzählen Sie!« Und als Barbara noch etwas zögerte, verstand die Lehrerin.
»Oh, entschuldigen Sie«, warf sie ein. »Ich möchte Ihnen erst etwas über mich berichten. Ich bin zwar schon fast zehn Jahre am Morgenstern-Gymnasium, aber erst seit zwei Jahren Vertrauenslehrerin. Ich unterrichte Kunst und Latein. Also – damit Sie sich keine Sorgen machen: Alles, was hier besprochen wird, bleibt unter uns. Ich bin nur dafür zuständig, zu beraten oder helfend zur Seite zu stehen. Auch das Lehrerkollegium wird nichts erfahren, solange Sie nicht Ihre Zustimmung geben.«
»Aber Sie sind doch noch so jung?«, erwiderte Barbara.
»Ich bin vierunddreißig. Wissen Sie, das Problem bei Vertrauenslehrern ist, dass die älteren Kollegen im Normalfall als Autoritäts- und Respektsperson gesehen werden. Und der große Altersunterschied zu den Schülern kann zu Hemmungen führen, sich ihnen anzuvertrauen. In mir sehen sie eher noch so etwas wie eine ›Freundin‹.«
Barbara verstand. Sie hatte auch nicht an der Kompetenz ihrer Gastgeberin gezweifelt. Es war eigentlich nur reines Erstaunen über den Widerspruch zu ihrem Bild einer solchen Person.
Da Frau Richter nun schwieg, galt das als Zeichen, selbst das Wort zu ergreifen. In gedrängter Form schilderte sie die Ereignisse seit gestern Nachmittag. Sie gab auch einen Überblick über ihre familiären Verhältnisse, damit sich die Lehrerin ein Bild von der häuslichen Situation machen konnte.
»Gut. Ich habe die Fakten«, fasste Frau Richter zusammen. »Daniel zieht, wahrscheinlich schon mehrfach, Ihre Kleider an. Er hat Ihnen selbst gesagt, dass er sich als Mädchen fühlt, ein Mädchen sein möchte. Ihre Tochter hat wohl eine vage Ahnung, die aber noch nicht bestätigt wurde. Ihr Mann, der getrennt von Ihnen lebt, weiß bis jetzt gar nichts. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Richtig?«
»Ja, das beschreibt die Lage so ziemlich genau. Frau Richter …«
Sie wurde unterbrochen.
»Sagen Sie Anka, das vereinfacht das Gespräch.« Die Lehrerin lächelte ermutigend.
»Danke – Barbara. Wissen Sie, Anka, ich habe versucht, Daniel Zeit zu lassen, sich mir anzuvertrauen. Ich bin einen Schritt auf ihn zugegangen und habe gewartet, dass er das gleiche tut. Soweit waren wir heute schon. Aber dann ist wieder alles in ihm zusammengebrochen.«
»Barbara, eine Gewissensfrage. Akzeptieren Sie das, was da gerade passiert?«
Barbara nahm einen Schluck vom Mineralwasser.
»Natürlich war es erst einmal ein … ein Schock, als ich ihn so sah. Aber dann dachte ich: ›Was soll ich machen? Ich kann es doch nicht aus ihm herausprügeln – bildlich. Daniel ist doch mein Kind.‹ Ich habe mir die letzten Stunden nicht leicht gemacht. Aber mein Kind soll doch glücklich sein. Und wenn es das nur als Mädchen kann …«
Ein Kloß drückte auf ihren Hals und erstickte ihre Stimme.
Anka fühlte mit der Frau.
»Ich verstehe Sie gut. Ich habe zwar noch keine eigenen Kinder, aber ich kenne aus meiner Tätigkeit die Gefühle der Mütter. Sie haben für sich genau das entschieden, was Ihnen Ihr Herz sagt. Mehr konnten Sie bis jetzt einfach nicht tun.«
Sie sah Barbara in die Augen, und die erkannte, dass Anka ihre Entscheidung achtete.
»Danke, dass sie mir den Rücken stärken. Doch was mache ich mit meiner Tochter? Ich kann sie doch nicht länger belügen. Daniel war vorhin schon soweit, irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Ich glaube, er hatte in diesem Moment einfach genug von dem Versteckspiel – ohne an Konsequenzen zu denken. Ich konnte ihn gerade noch auf morgen vertrösten.«
Anka nickte verständnisvoll.
»Gerade deshalb müssen Sie es Ihrer Tochter sagen. Damit der häusliche Frieden nicht zerbricht. Ihre Tochter ist dreizehn, wie sie erwähnten. Ein dreizehnjähriges Mädchen kann das verstehen. Was sie daraus macht, ist allerdings ein anderes Kapitel. Versuchen Sie, ihr nahezulegen, was es für Daniel bedeutet! Ich denke, sie möchte auch das Beste für ihren Bruder.«
Barbara seufzte. Das Leben forderte sie wirklich heraus.
Die Lehrerin fuhr fort: »Und Ihrem Mann dürfen Sie es auch nicht vorenthalten. Erstens ist es der Vater von Daniel, und zweitens ergeben sich für die Zukunft Situationen, in denen auch sein Einverständnis nötig ist. Daniel ist ja noch minderjährig.«
›Auch das noch‹, dachte Barbara. ›Wenn das Schicksal zuschlägt, dann richtig.‹
Es war nach neun, als Barbara wieder nach Hause kam. Die Unterredung mit der Vertrauenslehrerin war sehr hilfreich gewesen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Und ihr war auch klar, dass sie diese Hilfe noch einige Male brauchen würde.
Für heute war es zu spät für weiteren Trubel. Nur ihren Sohn wollte sie noch informieren, wie das Treffen ausgegangen war. Sie klopfte an seine Tür.
»Daniel, darf ich?«
»Ja, komm rein!«
Daniel saß an seinem Tisch. Der Computer war an, ein Textprogramm geöffnet.
»Arbeitest du an etwas?«, fragte seine Mutter mit einem Nicken zum Bildschirm hin.
»Ja. Ich versuch, meine Gedanken etwas zu ordnen. So eine Art Tagebuch der Grausamkeiten.«
Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
Barbara setzte sich auf den angestammten Platz auf der Liege.
»Finde ich gut. Aber nenn es lieber ›Tagebuch einer neuen Zeit‹ oder so. Denn nichts, was mit dir geschieht, ist grausam. Es ist nur neu und ungewohnt. Und du wirst eine Menge lernen müssen. Auch wirklich schlimme Erfahrungen können da vorkommen. Doch wenn du dir sicher bist, überwindest du die.«
»Warst du bei Frau Richter?«
»Ja, und ich bin erleichtert, dass ich das getan habe. Deine Vertrauenslehrerin wird uns helfen, alles richtig zu machen. Du kannst ruhig zu ihr gehen, wenn du mal nicht weiter weißt. Sie behält alles für sich.«
Barbara bemerkte, dass auch Daniels Anspannung etwas nachließ. Sie konnte sich vorstellen, dass da einige Mauern einstürzten, die ihn gefangen gehalten hatten.
»Und was wird mit Ilsa? Das heute hat einfach nur genervt.«
»Tja, Frau Richter meint, wir müssen es ihr sagen, und zwar möglichst bald.«
Daniel zuckte zusammen.
»Dann sagt sie es Caro, und wenn das so weitergeht, kann ich gleich einen Aushang machen.«
Seine Mutter wusste, was jetzt kommen musste.
»Ich kann das verstehen. Aber schau mal – du willst doch nicht die ganze Zeit in deinem Zimmer hocken bleiben. Und was wird im neuen Schuljahr? Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, dann musst du ihn auch draußen, in der ›bösen Welt‹ vertreten. Alle, die das verstehen, werden dir helfen – gegen jene, die das nicht verstehen wollen. Und ich denke, mit der Zeit werden die ersteren immer mehr werden.«
Daniel seufzte laut.
»Es wird eine schwere Zeit werden, nicht wahr, Mama?«
»Ja, aber es wird auch eine schöne Zeit sein, weil du endlich, Stück für Stück, der Mensch wirst, der du wohl schon lange sein wolltest.«
»Schon sehr lange. Und ich glaube, ich habe mich fast entschieden. Danke. Hab dich lieb, Mama.«
Barbara stand langsam auf. Sie war froh, dass Daniel aus seinen düsteren Gedanken heraus gefunden hatte. Sie hatte ihm die Hand gereicht, und er hatte zugegriffen.
Als sie dann allein im Wohnzimmer saß, dachte Barbara nach. Loslassen konnte so wehtun. Sie musste ihren Sohn gehen lassen, um ihre zweite Tochter zu empfangen. So etwas passiert einem nicht alle Tage. Den meisten Menschen passierte so etwas überhaupt nicht. Deshalb konnten sich Unbeteiligte wohl auch kein Bild davon machen, was sie jetzt fühlte. Sie selbst kannte ja auch nur den Moment. Über die nächste Zeit musste sie sich erst Klarheit verschaffen. Vielleicht war Daniels Idee von einem Tagebuch gar nicht so schlecht. Sie sollte selbst ihre Gedanken niederschreiben, um einmal später nachlesen zu können, wie mühsam dieser Weg gewesen war. Und um zu erfahren, wie sie alle ihn gemeistert hatten.