The Blue Diamond

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

»Sag mal, Akira-kun«, murmelte Sōsuke leise an den Jüngeren gewandt. »Hast du schon mit deinen Eltern gesprochen?«

Der Angesprochene nickte. »Sie sagten, dass sie mir helfen würden.«

»Das ist doch gut! Der erste Schritt wäre getan. Als Nächstes ...«

»Ähm ... Kitahara-san?«

»Sōsuke.«

»Sōsuke-san. Danke.« Verlegen lächelnd sah Akira sein ihn an.

Perplex sah Sōsuke zurück. »Wofür?«

»Für deine Unterstützung und ...«

»Unterstützung?«, mischte sich Keisuke in das Gespräch der beiden ein und musterte sie genau. »Was hast du schon wieder angestellt, Sōsuke?«

»Gar nichts. Kann dir doch egal sein.«

Mit großen Augen beobachtete Akira die Szene, die sich vor ihm abspielte. Scheinbar hatte Sōsuke wirklich nichts von seinem Problem weitergegeben.

»Jetzt sag's doch einfach!«

»Nein!«

»Hört doch endlich auf zu streiten«, unterbrach Tamanosuke die Raufbolde und sah sie entnervt an. »Wir sind heute schließlich nicht allein.«

»Das weiß ich doch, Tama. Aber wenn er nicht aufhört ...«

»Warum soll immer ich der Böse sein? Ha? Du willst schließlich alles für dich behalten! Das war schon immer so.« Als wäre er deswegen beleidigt, verzog Keisuke das Gesicht und sah zur Seite.

»Kei ...«, murmelte Tamanosuke und sah ihn betroffen an.

Da hatte Keisuke leider recht. Aber dieses Mal war es schließlich etwas anderes. Sōsuke hatte Akira versprochen, niemandem davon zu erzählen. Da waren auch seine Freunde keine Ausnahme.

»Ist schon okay«, gab Akira zu verstehen. »Er hat es mir versprochen.«

»Oh man«, seufzte Keisuke und zog nun wirklich eine beleidigte Miene. »Okay. Schon gut. Ich hör ja schon auf.«

»Sag, Akira-kun, wirst du morgen wieder kommen? Du bist jederzeit willkommen.« Einladend lächelte Tamanosuke Akira an. »Dann mache ich dir gerne auch ein Obento5.«

»Obento?«, fragte der Angesprochene erstaunt. Da fiel ihm auf, dass die drei dieselben Lunchboxen vor sich liegen hatten. Waren die etwa ...?

»Die mache ich selber. Liegt sozusagen in der Familie.«

»Wenn wir schon beim Thema sind, willst du was abhaben, Akira-kun?« Breit grinste Sōsuke. »Die schmecken richtig gut! Probier mal!«

Dem Brillenträger wurde die Lunchbox regelrecht aufgedrängt, weswegen er nicht umhin kam, etwas daraus zu probieren. Er entschied sich für das Tamagoyaki6. »Das ist wirklich lecker, Michida-san!«

»Das freut mich, aber nenn uns doch alle beim Vornamen. Das stärkt die Gemeinschaft.«

»O-okay.«

»Und?« Gespannt sah Sōsuke Akira an. »Bist du morgen wieder dabei?«

Der Angesprochene dachte nach. Da es sich bei den ›Triple Ke's‹ um eine witzige Gruppe handelte, die noch dazu viel netter erschien als angenommen, war Akira wirklich am überlegen, ob er sich ihnen nicht doch anschließen sollte. So sympathisch sie auch waren, befürchtete er doch, dass Sōsuke etwas ausplaudern könnte – sei es versehentlich – und er dann in der direkten ›Schusslinie‹ war. Vielleicht war es fürs Erste einfach besser, nicht zu viel Nähe zu ihnen aufzubauen.

»Du kannst es dir ja noch überlegen«, warf Tamanosuke ein.

»Genau. Wir zwingen dich ja nicht.«

Während Sōsuke und Tamanosuke sich einig waren, verzog Keisuke ein wenig das Gesicht. Was ihm genau missfiel, behielt er aber für sich.

Das Glockenläuten beendete diese Gesprächsrunde. Die Schüler begaben sich zügig in den Gebäudetrakt. Da Akira in ein anderes Stockwerk musste, trennten sich bald ihre Wege. Tamanosuke und Keisuke waren bereits vorausgegangen, als Sōsuke den Blonden noch einmal ansprach.

»Akira-kun? Oder darf ich Akira sagen? Jedenfalls hat es mich wirklich gefreut, dass du heute gekommen bist.«

»Sōsuke-san ...«

»Mich würde es auch freuen, wenn du Teil unserer Gruppe wirst. Tamanosuke und Keisuke mögen dich ja auch.«

Leicht senkte Akira den Blick. »Ich ... weiß nicht.«

»Komm schon! Du musst mehr aus dir heraus gehen. Und ich bin mir sicher, dass sie dich genauso unterstützen würden. Das sind echt feine Kerle.«

Schweigen.

»Traust du mir nicht? Oder ihnen? Kann ich verstehen, aber ...«

»Sōsuke-san. Ich mag dich. Und deine Freunde scheinen auch sehr nett zu sein, aber ... Es geht alles so schnell. Ich weiß noch gar nicht, was auf mich zukommen wird.«

Auf diese Worte hin machte Sōsuke ein betretenes Gesicht. »Du hast recht. Entschuldige. Ich will dich ja nicht zwingen. Mein Angebot steht aber noch. Du kannst dich jederzeit an mich wenden.«

»Danke«, gab Akira leise zu verstehen und drehte sich um. »Bis dann.« Damit ging er.

»Ja!«, rief Sōsuke seinem neuen Freund noch hinterher und machte sich ebenfalls auf den Rückweg ins Klassenzimmer.

An den darauffolgenden Tagen war Akira nicht zu den ›Triple Ke's‹ gekommen, was Sōsuke ins Grübeln brachte. Spontan war er deswegen zu ihm gegangen, um mit diesem die Telefonnummern und E-Mail-Adressen auszutauschen. Seine Begründung lautete schlicht: »Damit du mich jederzeit erreichen kannst.«

Schließlich war es nicht Akira, der als Erstes anrief. Und obwohl Sōsuke beinahe aufdringlich war, waren diese Anrufe doch von positiver Natur. Der Ältere bewies damit, dass seine Worte ernst gemeint waren. Aufgrund dessen hatte sich Akira doch noch dazu entschlossen, sich der kleinen Gruppe anzuschließen. Und nachdem er auch mit Tamanosuke und Keisuke vertraut war, hatte er auch diesen von seiner Krankheit erzählt. Erstaunt war er – obwohl Sōsuke es bereits erwähnt hatte – über dessen sofortige Hilfsbereitschaft.

Das Jahr neigte sich schnell dem Ende zu, dennoch ging neben den Prüfungsvorbereitungen auch die Planung für das Blue Diamond weiter. Akira hatte sich dazu nach einiger Zeit ebenfalls dazu entschlossen mitzuhelfen; damit er Sōsuke im Gegenzug ebenfalls eine Stütze sein konnte. Mit beginn des neuen Jahres trennten sich jedoch ihre Wege – zumindest auf schulischer Ebene. Während Akira nun in die dritte Klasse der Oberschule kam, begannen Sōsuke und Keisuke ihr Studium. Tamanosuke fing seine Lehre an. Privat blieben die ›Triple Ke's‹ noch zusammen, da sie sich zu einer Wohngemeinschaft entschlossen hatten und fortan in einer Vier-Zimmer-Wohnung lebten – die sie dank der Unterstützung ihrer Eltern bezahlen konnten.

Es war Sōsuke an manchen Tagen nicht leicht gefallen, noch Zeit für sein Blue Diamond zu finden. Sowohl das Studium als auch seine Nebenjobs kosteten viel Zeit und Energie. Er war froh darüber, Tamanosuke, Keisuke und Akira bei sich zu wissen.

Schließlich ging auch diese Phase seines Lebens vorüber und der nächste Schritt in Richtung Ziel war beinahe greifbar.

1 entspricht unserer 7-ten Klasse

2 andere Schriftzeichen. Das ›no‹ ist ein Bindeglied.

3 in Japan schreibt man E-Mail anstelle von SMS

4 entspricht unserer 12-ten Klasse

5 Lunchboxen

6 in Form gebrachtes, gebratenes Rührei

2
Eröffnung.

»Ach, was mach ich nur?«, nuschelte Sōsuke in sich hinein und seufzte laut. Der mittlerweile Fünfundzwanzigjährige saß am Küchentisch, hatte den Kopf auf der Tischplatte liegen und wartete auf einen guten Rat. Doch der war teuer ...

»Dass du nicht auf Anhieb deine Traumimmobilie bekommst, war doch absehbar«, bemerkte Tamanosuke, der an der Spüle stand und den Abwasch machte.

»Ja. Aber ...« Ein wenig hob Sōsuke den Kopf. »Was soll ich jetzt machen? Was meinst du, Tama?«

Tamanosuke legte das Geschirrtuch beiseite und nahm Sōsuke gegenüber Platz. »Gehen wir das Ganze einfach noch einmal durch. Objekt eins hat was von Fabrik. Objekt zwei wäre zwar ideal, aber nicht erschwinglich und Objekt drei ist zu weit außerhalb. Richtig?«

Sōsuke nickte.

In der vorigen Woche hatte sich Sōsuke mit einem Immobilienmakler getroffen, um nach dem ersten Gebäude für das Blue Diamond zu sehen. Der Makler, Sasuke Hatake, hatte drei Immobilien vorbereitet, von denen die Erste ein Betonkomplex war. Zwar war das Gebäude gut gelegen und auch sehr geräumig, doch war der Innenraum gänzlich ungeeignet gewesen – kalt, grau und ohne viel Tageslicht.

Das zweite Objekt ähnelte dem, dass sich Sōsuke immer vorgestellt hatte; moderner Schnitt, genügend Räume, eine angemessene Größe und viel Tageslicht. Auch an der Lage gab es nichts zu bemängeln. Lediglich der Preis hinderte ihn daran sofort zuzuschlagen.

Zur drittem Immobilie gelangte man nach einer etwa fünfzehn Minütigen Autofahrt, wenn man vom Tokyoter Zentrum aus losfuhr. Das Haus lag nahe einer Wohngegend. Zwar befanden sich im Umkreis noch ein paar kleinere Läden, als Einkaufsmeile konnte man die Straße jedoch nicht bezeichnen. Zudem lag die U-Bahn-Station etwa zehn Minuten entfernt. Das Gebäude selber war in gutem Zustand und hatte eine moderne Fassade. In den zweiten beziehungsweise vierten Stock gelangte man über eine seitlich angebrachte Wendeltreppe. Und auch das Innere konnte sich sehen lassen. Wenn nur die Lage nicht wäre ...

»Wenn du mich fragst«, begann Tamanosuke und sah Sōsuke eindringlich an, »solltest du dich für die dritte Immobilie entscheiden.«

Sōsuke blinzelte einige Male. »Und was, wenn keiner kommt, weil es zu abgelegen ist?«

»Dann müssen wir dafür sorgen, dass es sich herumspricht. Du weißt schon. Mundpropaganda und so. Und hattest du nicht von einer Wohngegend gesprochen? Mit ein bisschen Arbeit wird das schon werden.« Er lächelte zuversichtlich.

»Mundpropaganda«, wiederholte Sōsuke leise, grübelnd. »Das klingt nach einer Möglichkeit. Okay. Danke, Tama!« Nun war auch sein Lächeln wieder zu sehen. »Ah, jetzt hab ich Hunger. Kei war heute dran, oder? Wo steckt der schon wieder?«

 

Da sich die ›Triple Ke's‹ eine Wohnung teilten, hatten sie sich darauf geeinigt, sich abwechselnd um die Versorgung – das Kochen eingeschlossen – zu kümmern. Auch wenn das oft nicht einfach war, da Sōsuke und Keisuke oft außerhalb unterwegs waren und auch Tamanosuke nicht regelmäßig zu Hause war.

»Der ist mit Saori-chan weg. Wird heute wohl nicht mehr kommen.«

»Dieses Mal scheint es wohl was Ernstes zu sein, was? Na ja, auch gut. Dann gibt es heute wenigstens etwas Genießbares«, schmunzelte Sōsuke und dachte an Keisukes ›Kochkünste‹.

»Jetzt sei doch nicht so gemein. Er gibt sich immerhin Mühe. Und verbessert hat er sich auch.«

»Haha, ich weiß, ich weiß.«

»Dann machen wir uns halt selber schnell was.«

»Okay.«

Nach einem weiteren halben Jahr waren alle Vorbereitungen abgeschlossen und die Eröffnung der ersten Filiale stand unmittelbar bevor.

»Mein Gott bin ich nervös«, gab Sōsuke zu verstehen und fuhr sich durch die Haare. »Haben wir an alles gedacht?«

»Wie oft willst du uns das denn noch fragen?«, entgegnete ihm Keisuke, der sich gerade die Uniform-Weste, die die Mitarbeiter kommend tragen würden, anzog. Die Weste war in einem nicht zu hellem Blau gehalten und an den Nähten mit einem goldenen Streifen versehen. Das Logo war auf Höhe der Brust angebracht und ebenfalls golden. »Es ist alles vorbereitet. Mach dir nicht so viele Gedanken.«

»In gewisser Weise muss ich ihm da zustimmen«, bemerkte Tamanosuke. »Mach dich nicht so fertig. Du hast alles bis ins kleinste Detail geplant. Wird schon schief gehen.«

»Ihr sagt das so leicht ... Apropos. Wo ist eigentlich Akira?«

»Der ist schon vorgefahren. Wollte noch ein paar letzte Zahlen durchgehen, oder so«, antwortete Keisuke, der sich zu guter Letzt noch die Haare zurechtmachte.

»Wir sollten auch langsam los, wenn wir nicht noch zu spät kommen wollen.«

Sōsuke stimmte dem nickend zu, sah sich noch einmal um und folgte schließlich seinen Freunden, die bereits zum Wagen gingen.

Es war kurz nach zwei Uhr als die ›Triple Ke's‹ beim Blue Diamond ankamen. Die Eröffnung hatte Sōsuke bewusst auf einen Freitag gelegt, da an diesem Tag etwas mehr auf den Straßen – und vor allem in dieser Gegend – los war. So waren bereits einige Personen unterwegs, von denen so mancher am Neueröffnungsschild stehen blieb.

Zusammen gingen sie die, sich linksseitig befindliche und aus einem Stahlgerüst bestehende, Wendeltreppe hinauf. Die Treppe führte jeweils in den zweiten und vierten Stock; der Dritte und Fünfte waren jeweils nur von Innen zugänglich. Oben angekommen gelangte man in einen gläsern überdachten Flur, der an einen Wintergarten erinnerte. Ins Innere des Gebäudes kam man durch eine hölzerne Tür, die nur drei Schritte von der Treppe entfernt lag. Am hinteren Ende des Flures hatte sich vor den Renovierungsarbeiten noch ein zweiter Eingang befunden. Der war nun durch Holztafeln verdeckt.

»Guten Tag, Kitahara-san«, grüßte eine junge Frau mit hellbraunen Haaren und verneigte sich leicht.

»Hallo, Chef«, grüßte seinerseits ein Mann mit kurzen, schwarzen Haaren.

Beide gehörten nun ebenfalls zum Team. Michiko Kudō und Usagi Etō hatten sich auf eine der Stellenanzeigen Sōsukes hin beworben. Als Fachverkäuferin brachte Michiko einiges an Erfahrung im Umgang mit Kunden mit und würde damit sicher gut dem Job als ›Beraterin‹ – wie Sōsuke es nannte – klarkommen. Usagi hingegen hatte gerade sein Studium für antike Geschichte beendet und somit noch keine Berufserfahrung sammeln können. Da Sōsuke sich aber auf Anhieb gut mit ihm verstanden hatte und der erst dreiundzwanzigjährige aufgeschlossen zu sein schien, stellte er auch ihn als ›Berater‹ ein.

»Hallo ihr beiden«, grüßte Sōsuke freudig. »Dann mal rein in die gute Stube.« Mit diesen Worten öffnete er die Tür. Anschließend betrat die kleine Gruppe den Raum.

Ein paar Schritte von der Tür entfernt befand sich rechtsseitig eine kleine Sitzgruppe, bestehend aus einer schwarzen Ledercouch, zwei Sesseln und einem ovalem Glastisch. Die Wand direkt daneben war eine lange Fensterfront, von welcher etwa die Hälfte der Höhe von einer – von außen angebrachten – Metallverkleidung verdeckt wurde. Trotz dessen gelang genügend Tageslicht ins Innere, da der Raum die Höhe von zwei Stockwerken hatte und somit fast sechs Meter maß. Zu ihrer Linken ragte eine Treppe, die zur Galerie hinauf führte, in den Raum hinein. Sie war ähnlich wie die Treppe draußen aus Metall gebaut und mit Holzstufen versehen. Oben hatte Sōsuke das Büro eingerichtet.

Direkt unter der Galerie stand der S-förmige Tresen, der etwa halb so lang war wie die Lobby selbst. Am unteren Ende und direkt hinter der Treppe war außerdem eine Tür in die Wand eingelassen worden – durch die man nun in den Beraterraum gelangte. Am Kopfende des Tresens ragte eine kleine Mauer in den Raum hinein. Ging man den Gang dahinter entlang, gelangte man zu den sanitären Anlagen. Passend zum Namen war der Großteil der Einrichtung Blau oder Silbern gehalten, was das Konzept untermauern sollte.

»Die Eröffnung ist in einer Stunde. Danke, dass ihr alle da seid!«, gab Sōsuke wieder und blickte dabei in die Gesichter der Runde.

»Aufgeregt, Sōsuke-san?«, hörte man eine Stimme schmunzeln. Derjenige kam von der Galerie herunter und lächelte.

»Akira!« Überrascht drehte sich der Angesprochene um. »Schön das du da bist.«

»Selbstverständlich«, entgegnete der Blonde und gesellte sich zu Sōsuke.

»Dann sind wir ja Vollzählig. Heute erfüllt sich dieser lang gehegte Traum. Und das habe ich euch zu verdanken. Danke für alles und auf gute Zusammenarbeit!«

In der letzten Stunde vor der Eröffnung bereiteten sich Usagi und Michiko auf ihre Aufgabe vor – sie würden sich um die Gäste kümmern und ihnen ihr Gehör leihen. Tamanosuke war für die Rezeption eingeteilt und sortierte ein paar Informationsbroschüren. Akira war wieder ins Büro zurückgegangen. Angetrieben von seinem Wunsch, Sōsuke ebenfalls beistehen zu wollen und dem Vorbild seines Vaters folgend, war er eine Laufbahn als Steuerberater angetreten und kümmerte sich nun gemeinsam mit Keisuke um die Finanzen. Letzterer war für die nächste Zeit außerdem für die Bar eingeteilt worden.

»He, Sōsuke. Probier den mal!« Keisuke hielt seinem Freund ein Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit, in der bläuliche Eiswürfel schwammen, entgegen und grinste.

»Was ist das?«, fragte Sōsuke skeptisch, nahm das Glas aber entgegen.

»Wir haben uns gedacht, dass ein hauseigener Drink nicht schaden könnte und haben dann den hier zusammengestellt.«

»Aus was?«

»Wodka, Zucker, Eis und Litschisaft«, antwortete ihm Keisuke knapp.

Kurz sah Sōsuke sich den Inhalt an, ehe er einen Schluck davon nahm und positiv überrascht drein sah. »Echt gut!«

»Ja, nicht? Ist eigentlich wie ein Caipirinha, nur eben mit Litschi statt Limette«, erklärte Keisuke weiter. »Und da der Drink so hell ist, und es außerdem zum Namen passt, haben wir die Eiswürfel mit Lebensmittelfarbe eingefärbt.«

»Als Hausdrink, verstehe. Können wir gerne mal versuchen.«

»Gut. Dann bereite ich einen Schub vor!« Damit begab sich Keisuke zurück hinter die Bar, welche am hinteren Ende der Theke war.

Nur noch wenige Minuten bis das Blue Diamond seine Pforten das erste Mal öffnen würde. Im Geiste ging Sōsuke noch einmal alles durch: Die Einrichtung stand, war sauber und bereit eingeweiht zu werden. Die Bar war gut gefüllt und zum Ausschank bereit. Die Flyer waren vorbereitet und das Team auf ihren Plätzen und somit startklar.

Tief atmete der junge Mann durch, sah noch ein letztes Mal in die Gesichter seiner Freunde und Mitarbeiter, ging dann sicheren Schrittes zur Eingangstür und öffnete diese bis zum Anschlag. Anschließend ging er die Treppe nach unten, um die Gäste zu empfangen. Zu seiner Freude warteten bereits ein paar. »Verehrte Damen und Herren! Ich freue mich, Sie herzlich im Blue Diamond willkommen. Kitahara mein Name. Ich freue mich, Sie als Inhaber begrüßen zu dürfen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Mit einer Handbewegung deutete Sōsuke seinen Gästen, dass der Laden im Obergeschoss zu finden war.

Nach einem kurzen Blickwechsel ging die erste Kundin die Treppe hinauf, dicht gefolgt vom Rest. Als die Gruppe oben ankam, erwartete sie bereits Michiko. »Herzlich willkommen im Blue Diamond«, grüßte sie mit freundlichem Lächeln. »Bitte. Treten Sie doch ein.« Mit diesen Worten führte sie die Gäste ins Innere. Zuletzt betrat Sōsuke den Laden.

Die Männer und Frauen unterschiedlichen Alters sahen sich um, bis Sōsuke und Michiko sie auf ein Glas Sekt einluden. Nachdem die elf Personen angestoßen und die Gläser etwa zur Hälfte geleert hatten, bat Sōsuke seine Gäste an den Tresen vorzutreten. Dort erwartete sie bereits Tamanosuke.

Mit sanftem Lächeln stellte dieser sich vor: »Guten Tag. Ich bin Michida Tamanosuke und stehe Ihnen heute bei allen Fragen zur Verfügung.«

»Dann möchte ich Ihnen eine Frage stellen«, brachte eine Frau mit etwa vierzig Jahren hervor und begab sich an die Spitze der kleinen Gruppe. »Was wird hier genau angeboten?«

Tamanosuke sah die Frauen vor sich an, legte ein paar Informationsbroschüren auf den Tresen und fing zu erklären an: »In erster Linie steht das Blue Diamond dafür, dass man sich von allen Sorgen befreien kann. In dem extra dafür vorgesehenen Raum« – dabei deutete er auf die Tür rechts neben sich – »kann man praktisch über alles reden. Einzig Sie und unser Berater werden davon erfahren. Bei unseren Beratern handelt es sich allerdings nicht um einen Psychologen oder ähnlichem. Niemand wird zu einem Gespräch gezwungen. Wir wollen, dass sie sich wohl fühlen. Daher basiert auch alles auf freiwilliger Basis.«

Tamanosuke hatte in den letzten Tagen lange überlegt, wie er die Funktion beschreiben sollte, aber so überzeugend wie Sōsuke zu reden lag nicht in seiner Natur. Vielleicht, und das dachte er sich öfter, wären Keisuke oder eben Sōsuke für die Rezeption besser geeignet gewesen. Es war zwar nicht so, dass er nicht mit Leuten umgehen konnte – schließlich musste er als Koch auch mit Lieferanten oder Kunden reden. Dennoch hatte er Mühe, sich wirklich mit dieser Aufgabe auseinanderzusetzen.

»Verstehe ich das richtig? Man geht da rein und redet?«, kam es von einer Frau an die dreißig. Sie sah Tamanosuke skeptisch an.

»Ganz recht. Gibt es nicht immer etwas, dass man seinem direkten Umfeld nicht mitteilen möchte? Wir hören Ihnen zu und unterhalten sich mit Ihnen, sofern Sie das wünschen. Außer Ihnen wird niemand davon erfahren; dafür verpflichten wir uns.«

»Dann würde ich es gerne einmal versuchen«, meldete sich eine ältere Dame zu Wort und trat aus der Gruppe hervor.

»Sehr gerne«, erwiderte Tamanosuke lächelnd und reichte ihr ein kleines, noch unbeschriebenes Buch sowie einen Stift. »Wenn ich kurz um Ihren Namen bitten dürfte?«

Sie nahm den Stift in die Hand und setzte ihren Namen in die erste Zeile. »Und nun?«

»Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Lediglich zwei Schritte musste man gehen um zum Beraterraum zu gelangen. Tamanosuke klopfte an die hölzerne Tür an, hinter der Usagi bereits auf ihn wartete. »Etō-san? Darf ich dir Harukaze-san vorstellen?«

Kaum hatten die beiden den Raum betreten, kam Usagi auf sie zu. »Guten Tag und herzlich willkommen«, grüßte er überschwänglich und breit freudig grinsend. »Mein Name ist Etō Usagi und ich bin ihr heutiger Berater. Es freut mich außerordentlich Sie kennenzulernen.« Dabei verbeugte er sich.

»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte Harukaze und lächelte zurück.

»Dann lasse ich euch mal allein«, bemerkte Tamanosuke leise und verließ den länglichen Raum, um sich anschließend um die weiteren Gäste zu kümmern.

Usagi hatte sich nickend von seinem Kollegen verabschiedet, bevor er sich einen Augenblick später wieder seiner ersten Kundin zuwandte. »Bitte setzen Sie sich doch, Harukaze-san«, bot Usagi und deutete auf die lederne Eckcouch, die im hinteren Teil des Zimmers einen Platz gefunden hatte.

»Sehr gerne. Vielen Dank.« Mit langsamen Schritten ging sie auf das Möbelstück zu und nahm dann auf dem dazugehörigen Sessel Platz.

Nachdem sie saß, näherte sich Usagi einer kleinen Vitrine und reichte ihr ein Glas, welches er vor ihr auf dem Glastisch abstellte. »Möchten Sie etwas trinken? Wasser, Saft ...«

»Danke. Dann hätte ich gerne etwas Wasser.«

 

Aus einem kleinen Kühlschrank, der in die Vitrine eingelassen worden war, holte er eine Flasche Wasser. Gekonnt schenkte Usagi ihr die Flüssigkeit ein und stellte die frisch geöffnete Flasche auf einer Ablage ab.

»Nun. Wie funktioniert das jetzt?«, fragte Harukaze und sah Usagi gespannt an.

»Eigentlich ganz einfach, meine Werte. Sie reden, ich höre zu. Wenn Sie wünschen, können wir uns auch unterhalten. Ganz wie Ihnen beliebt«, erklärte Usagi lächelnd.

»Und das Thema spielt keine Rolle?«

»Reden Sie über das, was Ihnen gerade in den Sinn kommt.«

»Was mir in den Sinn kommt ...?«

Usagi sah der Frau an, dass sie nicht so recht wusste, worüber sie reden sollte, also beschloss er etwas nachzuhelfen: »Wie wäre es, wenn Sie mir etwas über sich erzählen?«

»Über mich? Nun. Ich bin in Fukuoka geboren und als Jüngste von drei Schwestern aufgewachsen. Um das Geschäft meiner Eltern fortführen zu können, habe ich eine Ausbildung zur Näherin gemacht.« Sie lächelte sanft.

»Das klingt interessant. Was für ein Geschäft führten Ihre Eltern?«

»Einen Kimono-Handel. Es ist kein großer Laden, aber er existiert schon seit vielen Generationen.«

Usagi spitzte die Ohren. »Dann haben Sie sicher einen Kimono, der Ihnen ganz hervorragend steht. Vielleicht habe ich ja mal die Ehre Sie darin zu sehen?«

Die Frau senkte verlegen den Kopf. Da sie nicht mehr die Schlankeste oder Jüngste war, hatte sie bedenken. »Lieber nicht.«

»Wieso denn nicht?«, fragte Usagi nach. »Sie sind eine sehr attraktive Frau. Ihnen steht ein Kimono sicher ausgezeichnet.«

»Meinen Sie das ernst? Ich und attraktiv?« Skeptisch sah sie ihn an. »Nicht einmal mein Mann sagt das.«

»Aber natürlich. Und ich bin sicher nicht der Einzige, der es so sieht. Garantiert auch Ihr Mann.«

Harukaze war von diesen Worten geschmeichelt und senkte daraufhin verlegen den Kopf. »Vielen Dank.«

Aufgeschlossen lächelte Usagi. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich hier im Kimono besuchen kommen würden.«

»Ich werde darüber nachdenken«, antwortete Harukaze und sah Usagi eine kurze Weile an. »Wollen Sie mir nicht auch etwas von sich erzählen? Sie sind noch so jung und haben sicher noch viel vor.« Ihr Lächeln kehrte zurück.

»Über mich?« Überrascht sah Usagi die Frau an. Damit hatte er nun nicht gerechnet.

»Wieso denn nicht? Ich bin sicher, dass sie spannenderes zu erzählen haben als ich«, meinte sie weiter und nahm einen Schluck ihres Wassers.

»Spannenderes? Na ja, das ist wohl Ansichtssache«, lachte der Jüngere auf. »Ich habe gerade mein Studium für Geschichte der Antike beendet und war auf Jobsuche. Leider hatte ich lange nicht viel Glück dabei. Bis ich Kitahara-san getroffen habe.«

»Er ist der Inhaber, richtig?«

Usagi nickte. »Ja. Kitahara-san hat es nicht gestört, dass ich keine Berufserfahrung oder ein passenderes Studium habe. Er meinte, dass es wichtiger sei, das zu machen, das einem Spaß macht und erfüllt. Für ihn ist es das Blue Diamond, wissen Sie?« Er machte eine kurze Pause und nippte an seinem – bereits dastehenden – Glas Wasser. »Kitahara-san ist ein sehr enthusiastischer Mensch, der nicht so schnell aufgibt. Mit seiner optimistischen Art steckt er alle an. Ich kann noch viel von ihm lernen, obwohl er nicht viel Älter ist.«

»Er scheint ein bemerkenswerter Mann zu sein.«

»Das ist er«, bestätigte Usagi Harukazes Aussage.

Usagis Offenheit führte dazu, dass das folgende Gespräch ins Rollen kam. So erzählte sie von ihren Kindern, die den Ernst des Lebens nicht genug nahmen und von ihrem Gatten, der sich immer mehr zurückzog. Usagi hörte ihr aufmerksam zu und konnte sich ihre Situation bildlich vorstellen. Schließlich gab er ihr den Rat, mit allen offen zu reden. »Und wenn sie nicht einsichtig sein sollten«, fügte er hinzu, »kommen Sie einfach wieder her. Dann haben eben wir beide unseren Spaß.« Frech lächelte er dabei, meinte sein Angebot aber doch ernst. Die beiden sahen einander an und lachten kurz auf. »Vielen Dank für das Gespräch, Harukaze-san.«

»Ich habe zu danken.« Sie verneigte sich noch kurz, ehe sie sich erhoben und gemeinsam das Zimmer verließen.

»Und beim nächsten Mal im Kimono. Einverstanden?« Usagi öffnete ihr die Tür und ließ seinem Gast den vortritt.

»Ach, Sie Charmeur«, lachte sie auf und trat hinaus.

Während Usagi und Harukaze ihr Gespräch führten, unterhielten sich Sōsuke, Tamanosuke, Keisuke und Michiko mit den übrigen Gästen. Besonders Keisuke hatte seinen Spaß. Er stand an der Bar und schenkte mit Freuden die bestellten Getränke aus. Nicht zuletzt war seine offene Art von Vorteil.

Tamanosuke, der praktisch neben ihm stand, beobachtete ihn jedoch skeptisch. Als Sōsuke an den Tresen kam, meinte er zu diesem gewandt: »Ob es wirklich eine gute Idee war, Kei hinter die Bar zu stellen?«

Sōsuke war die Stimmung keineswegs entgangen. »Tja ...« Er und Tamanosuke kannten den Dunkelblonden mittlerweile gut und wussten, dass dieser gerne mal etwas mehr Alkohol zu sich nahm. Da er sich deswegen mit den Getränken auskannte, hatte Sōsuke den Vorschlag gemacht, ihn für die Bewirtung einzuteilen. Im Nachhinein fragten sie sich, ob es eine gute Entscheidung war. Offenbar hatte er nicht nur seinen Gästen etwas angeboten ...

Nachdem auch der letzte Kunde seine Bestellung bekommen hatte, gesellte sich Keisuke zu Tamanosuke und Sōsuke dazu – hatte er doch mitbekommen, worum es bei den beiden ging. »Sagt mal«, begann er und sah seine Freunde streng, beinahe tadelnd, an. »Ihr habt immer noch kein Vertrauen in mich, oder?« Keisuke fühlte sich hintergangen. Wie konnten seine engsten Freunde nur so von ihm denken, wo er doch sein Bestes gab!

»Aber nein. So war das doch nicht gemeint, Kei«, versuchte Tamanosuke die Situation zu beruhigen.

»Genau. Natürlich vertrauen wir dir. Es ist nur ...«, meldete sich auch Sōsuke zu Wort und sah von Keisuke zu Tamanosuke.

»Ja? Ich höre.«

»Na ja. Vertrauen ist gut. Aber manchmal ist Kontrolle eben doch besser.« Sōsuke sagte dies ohne wirklichen Ernst, weswegen er kurz auflachte.

»Pah. Tolle Freunde habe ich da«, meinte Keisuke gespielt beleidigt, drehte sich um und ging an seinen Platz zurück.

Sōsuke beobachtete ihn noch einen Augenblick, ehe er sich wieder seinen Gästen widmete – die zum Teil mit Michiko plauderten. Einige von ihnen hatten bemerkt, wie Harukaze wieder zurückgekommen war und von ihrem Gespräch mit Usagi erzählte. Eine Frau mittleren Alters und ein Mann in den dreißigern traten daher an Tamanosuke heran.

»Entschuldigung? Ich würde es auch gerne einmal versuchen«, meldete die Frau sich schließlich zu Wort.

»Ich ebenfalls.«

Während Tamanosuke die Namen der beiden entgegennahm, gesellte sich Sōsuke kurz zu Keisuke, um bei diesem ein paar der Litschi-Drinks zu ordern. Diese waren nach wenigen Minuten fertig. Dekoriert mit kleinen blauen Schirmen aus Papier servierte Sōsuke seinen Gästen die Getränke. Die anfängliche Skepsis der Kunden schlug nach erstem Probieren in Euphorie um. Die Erleichterung darüber stand Sōsuke förmlich ins Gesicht geschrieben.

»Es scheint gut anzukommen«, bemerkte Keisuke, der nun neben Sōsuke stand. »Ganz wie erwartet.« Breit lächelte er und wandte sich an die am Tisch stehenden Personen: »Wissen Sie, dass er bis zuletzt befürchtet hat, dass sein Konzept nichts wäre?«

»K-Kei!«, versuchte Sōsuke seinen Freund zu unterbrechen, doch war dem das egal.

»Ist doch wahr«, neckte Keisuke ihn weiter.

»Ist das nicht verständlich?« Ein Mann Anfang dreißig sah mit aufgeschlossenem Lächeln zu den beiden Männern. »Ein neues Geschäft zu eröffnen erfordert immer sehr viel Hingabe und Ausdauer. Es ist sicher nicht einfach, sich allen Widrigkeiten zu widersetzen. Ich finde das durchaus bewundernswert.« Nachdem er den Satz beendet hatte, stellte der Mann sein Glas auf den Tisch neben sich. »So wie ich das hier einschätze, ist es etwas Neues. Und viele Menschen meiden das Neue. Es erfordert viel Mut, sich der Gesellschaft zu widersetzen und trotz aller Schwierigkeiten eben diesen ersten Schritt zu wagen. Ich finde es wirklich bemerkenswert, was Sie erreicht haben, Kitahara-san«, fuhr der Mann fort.