Die ersten Tage der Welt

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Die ersten Tage der Welt
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Inhaltsverzeichnis

1

II

III

Roman

Die ersten Tage der Welt

Salem Khalfani


CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

Khalfani, Salem

Die ersten Tage der Welt

ISBN: 978-3-96202-619-6

© der deutschen Ausgabe 2019 by Sujet Verlag

Umschlaggestaltung: Jasmin Tank

Layout: Myriam Sauter

Lektorat: Amir Shaheen

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Taschenbuchausgabe 2021

www.sujet-verlag.de

www.sujet-verlag.de

Meiner Lebensgefährtin,

Suzan Mesgaran,

gewidmet

1

Wenn ich an diesen Ort zurückdenke, dann bemächtigt sich die Erinnerung an diese Frau meiner derart, als hätte sie selbst die Häuser dieses Orts Stein für Stein und mit den eigenen zarten Händen gebaut, obwohl ihre Anwesenheit dort eigentlich nur von ziemlich kurzer Dauer war.

In Kaban, meinem Geburtsort, ist jetzt vieles anders geworden. Das Dorf ist viel größer als damals, es ist, genauer gesagt, kein Dorf mehr, sondern eine mittelgroße Stadt. Die Wohnungen sind wesentlich kleiner als damals, die Gassen und die Straßen enger, Autos und Motorräder, die hin und her rasen, und überall herrscht reger Betrieb. Die Menschen kennen einander nicht mehr, und dementsprechend grüßen sie nicht, wenn sie anderen Menschen auf den Straßen begegnen, fast, als wären sie verhext. Doch wenn man auf das Zeitliche nicht achtet, dann kommt einem alles verhext vor, was mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat und worauf sich eine harte Schicht aus Zeit und Staub gelegt hat. Und ich achte auf das Zeitliche, auf den sichtbaren und unsichtbaren Staub, sonst verliere ich die Welt in einem unübersichtlichen Dickicht aus Ferne und Fremdheit.

Dahinter, hinter dem Staub, hat sich alles verwandelt, während ich nicht dort war. Das sind schon einige Jahrzehnte. Viele sind aus anderen Städten hierher gezogen und wiederum andere haben ihrerseits diesen Ort verlassen und für die Neuen Platz gemacht. Und wenn ich nach meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen suche, dann weiß ich, dass sie sich trotzdem hier befinden und nirgendwo sonst: an den Wänden, unter den Steinen, im Schatten alter, aber auch nicht vorhandener Bäume, in den Gassen und Straßen, die ich nicht mehr kenne, und nicht zuletzt in den kleinen Bruchstücken der Zeit, die hier und dort verstreut wie Steine im Schatten schlummern.

Der Heimatort ist immer dort, wo wir erwartet werden. Und ich glaube nicht, dass man eine Stadt, ein Haus, in dem man einst als Kind gelebt hat, völlig verlassen kann. Man trägt den Ort auf seinen Schultern, und ganz gleich, wo man ankommt, man packt alles wieder aus und sitzt dann im selben Haus von damals. Man beobachtet aus den alten vertrauten Fenstern das Geschehen auf der neuen Straße. Auch wenn man sich später verliebt, sieht man die neue Liebe immer wieder aus diesen, wenn auch verstaubten, Fenstern. Sonst gibt es keine anderen Fenster. Sonst gibt es keine neue Liebe.

Aber wer wartet denn auf uns, wenn wir in unseren Geburtsort, in unsere Heimatstadt zurückkommen? Gewiss niemand. Doch wir wissen, dass unsere Erinnerungen von einst sich noch dort aufhalten wie Küken im Nest. Und dass die Erinnerungen beharrlich warten, um sich nochmals mit uns zu vereinen. Sie warten auf uns auf den alten Plätzen, auch wenn diese Plätze längst verwandelt sind. Auch wenn diese Plätze nicht mehr vorhanden sind.

Wahr ist, dass auch die neu entstandenen Bauten durch unsere Erinnerungen einen Sinn bekommen. Und dass es Menschen gibt, die seit langem auf uns warten, auch wenn sie lange tot sind. Denn wir wissen ja, dass die Lebenden von damals in der Fülle der Zeit uns noch kennen. Sicherlich warten auch sie auf uns, trotz alledem, trotz ihres Todes, trotz der Zeit und trotz der Jahre. Sie heben die Hand und grüßen uns, sobald sie uns erblicken. Sie kennen unsere Gesichter. Sie erkennen uns an unseren Stimmen. Sie hocken in unseren Erinnerungen und warten auf jeden von uns. Deshalb bekommen auch die Toten ihren Sinn erst mit unseren Erinnerungen. Und das ist vielleicht der einzige Sinn der Toten und der einzige Sinn unserer Erinnerung. Und wenn keine Erinnerung da ist, dann hat weder Leben noch Tod einen Sinn.

Die Menschen unserer Erinnerungen bewegen sich hier und dort, sie schauen uns an, sie sprechen mit uns, auch wenn sie ihr Schicksal gegenwärtig in andere Länder und Kontinente verschlagen hat. Auch wenn sie längst tot sind.

Die Schule ist ein Ort, an dem die Kinder auf ihr Schicksal vorbereitet werden, und die meisten Schicksale beginnen bereits in der Schule.

So war es mit mir wie mit jedem Kind sonst in jeder anderen Schule. Wir Kinder saßen wartend auf unseren Bänken. Wir waren in der vierten Klasse. Wir redeten alle durcheinander und warteten gespannt auf die neue Lehrerin. Ein Streit zwischen den zwei Mitschülern auf der hinteren Bank hatte sich gelegt, und sie wurden endlich still. Eine Weile sprach niemand, alle Augen waren auf die blaue, hölzerne Tür gerichtet: Die Tür öffnete sich, und sie trat ein. „Guten Morgen, Kinder!“, sagte sie. Sie hatte glatte schwarze Haare bis zu den Schultern und große schwarze Augen. Sie war zierlich gebaut. Sie war wunderschön. „Ich bin eure neue Lehrerin“, fuhr sie fort, „mein Name ist Leili Mahini.“ Sie hielt dann inne. Wir schwiegen. Sie ging zur Tafel und griff zur Kreide und schrieb: „Leili Mahini“.

Alles sollte genauso sein wie sonst in jeder Schule, doch ich merkte, dass alles zugleich ganz anders war. Der Klang ihrer Stimme, ihr Name, der auf der Tafel und in meinem Kopf eine andere Form und eine andere Bedeutung bekam. Ihr Anblick. Und wenn sie lachte. Alles war anders. Ich merkte sofort, dass mein Leben demnächst anders verlaufen würde, wenn nicht äußerlich, dann jedenfalls innerlich. Und ich wusste sofort, dass mein Innenleben, das ich bis dahin nicht wirklich wahrgenommen hatte, wie ein fernes fremdes Land, wie eine Insel, die im Horizont sichtbar wird, von nun an die Oberhand gewann und eine Gestalt bekam, zu leben anfing und in Aufruhr geriet. Bis dahin war das, was man als Innenleben bezeichnet, noch nicht recht ins Leben gekommen, und wenn doch, dann nur zu schwach und gestaltlos, so fern und fremd, so unbekannt, dass ich es kaum wahrgenommen hatte. Und als ich es in dieser Weise wahrnahm, wusste ich gleich, dass dunkle unbekannte Mächte nun plötzlich von mir Besitz ergriffen hatten und dieser Zustand ausschlaggebend sein würde für meine gesamte Zukunft. Und der Verlauf meines Lebens hat es ja bestätigt. War das der erste Tag der Welt? War das der erste Tag der Welt, an dem man die Augen öffnet und sich in einer vollkommen neuen, großen und fremden Welt vorfindet?

Viel später musste ich erkennen, dass die Ungleichmäßigkeit zwischen Innen und Außen den Menschen aus dem Gleichgewicht bringt. Und wenn man bereits am Beginn des Lebens aus dem Gleichgewicht kommt, dann findet man nie eine richtige Balance, wie bei einem Gebäude, das auf schrägem Grund wächst. Die Erscheinung Frau Mahinis verursachte, dass von diesem Zeitpunkt an mein Innenleben mein ganzes Leben war. Wusste sie schon, was in mir, gleich am ersten Tag, in der ersten Stunde, in den ersten Sekunden, vorging? Sie entgegnete meinen Blicken lächelnd und immer mit strahlenden Augen. Und wenn sie mich an diesem Tag und den nächstfolgenden Monaten ansah und mir zulächelte, dann vergewisserte ich mich, dass auch sie an mich dachte. Mir schien, dass auch sie innerlich mit mir in einem Kreis lebte, an einem geheimen Ort, aus dem alle anderen ausgeschlossen wurden, vor allem die Mitschüler. Mir schien, dass sie, wenn auch undeutlich, ihre eigene Welt, ihr eigenes geheimes Innenleben hatte und dies mit mir teilte. In dieser versteckten Welt, auf dieser fernen Insel, war außer uns beiden niemand sonst anwesend. Wir waren vollkommen allein.

Ein paar Tage später schlug sie als Thema für die erste Aufsatzstunde „Brief an eine geliebte, abwesende Person“ vor. Sie holte ein Buch aus ihrer ledernen Tasche heraus und las uns einige Minuten vor. Es waren Beispiele, wie man mit einem Brief beginnt, wie man zum zentralen Thema kommt und wie das Ende gestaltet werden sollte. In der darauffolgenden Stunde sammelte sie unsere Hefte mit den Aufsätzen ein und einen Tag später gab sie uns bekannt, dass die Aufsätze von Rahman, Hassan und mir die besten waren. Wir mussten also vorlesen.

Darüber hinaus lehrte sie uns Mathematik, Naturwissenschaft, Religion, Sport und alles, was für diese Klasse bestimmt war. Doch in Sachen Sprache und „Aufsatzschreiben“ ging sie ganz deutlich ihren eigenen Weg. Die Besonderheit dieses Weges wurde mir erst viel später, nach und nach, bewusst; statt, wie üblich, jedes Mal ein anderes Thema vorzuschlagen, bestand sie darauf, dass wir immer Briefe schrieben, und zwar an eine beliebige Person, die wir vermissten. Und die Briefe sollten immer an eine geliebte Person geschrieben werden, sei es an die Mutter, sei es an den Vater, die Schwester oder den Bruder, sei es an einen Freund, eine Freundin oder eine Geliebte (ja, soweit ging sie!). Mein Hang zum Schreiben basiert auf dieser ersten Erfahrung, auf diesem sowohl innerlichen als auch äußerlichen Bedürfnis; literarische Texte als Briefe, die der wahre Adressat höchstwahrscheinlich nicht lesen wird, als Briefe an eine Person, die wir vielleicht gar nicht kennen. Damals wusste ich dennoch ganz genau, an wen ich meine Briefe schrieb und wem ich meine Texte widmete, auch wenn ich die betreffende Person nicht erwähnte. Ich schrieb nämlich alle meine Briefe an die Lehrerin, nur an sie. Die geschriebenen Worte schafften eine Atmosphäre, einen Raum, in dem ich Zuflucht fand und mich zugleich mit ihr vereinte. Auch wenn ich, wie alle anderen, sichtbar für ihre Augen, in einer durchsichtigen und offensichtlichen Welt lebte, so war ich hier in einer vollkommen anderen, geheimen, versteckten und unsichtbaren Welt, in der ich mich wohl und sicher fühlte. Als Frau Mahini das Thema zum ersten Mal vorschlug und aus ihrem Buch vorlas und darüber Erklärungen gab, erhaschte ich ihre Blicke, ihre schönen, leicht geschminkten, großen Augen. Sie war vor mir, und ich wollte nur für sie schreiben, von Anfang an, mit dem ersten Wort, lebenslang für sie schreiben und lebenslang für sie leben. Ich hob meine Hand und fragte, ob man ausschließlich für eine abwesende Person schreiben sollte. Ob es nicht möglich wäre, für eine anwesende Person zu schreiben? Das war, muss ich sagen, eine sehr mutige Frage.

 

„So ein Quatsch, schreiben für eine anwesende Person, das ist Blödsinn“, kam Ali, der Klassensprecher, der Lehrerin zuvor, worauf sie mich in Schutz nahm, indem sie mich ansah und mit ihrer zärtlichen Stimme erklärte, dass dies durchaus möglich sei: „Es kommt auf die Vorstellung an“, sagte sie, „man muss sich vorstellen, dass eine bestimmte Person weit weg ist, und erst dann schreiben. So kann man das auch machen, wenn man will.“

Ali hatte sich bereits seit der zweiten Klasse zu meinem großen Feind entwickelt. Er war der erste Feind meines Lebens überhaupt. Er wollte mir, soweit möglich, widersprechen, ganz gleich wie und wann und warum. Und die Klasse von Frau Mahini war der bestmögliche Ort für sein Vorhaben. Er suchte ständig nach Fehlern bei mir, in meinem Verhalten, in meinem Aussehen, in meiner Kleidung, wie ich sprach, wie ich schwieg, um mich vor den Augen der Mitschüler niederzuschmettern. Und er fand genug Fehler. Körperlich war er der größte in der Klasse, er war überdies ein guter Redner. Und diese zwei Eigenschaften hatten vollkommen gereicht, um aus ihm einen Klassensprecher zu machen. Und das war er bereits seit der ersten Klasse. Trotzdem habe ich mich immer wieder gefragt, warum Frau Mahini ihn in dieser Position ließ.

Mir missfiel sehr, dass er als Klassensprecher mehr Gelegenheit bekam, mit der Lehrerin in Kontakt zu treten, mal, weil er sich über einen bestimmten Schüler beschweren, mal, weil er ihr ein Klassenanliegen mitteilen wollte. Mal dieses, mal jenes. Und ich wusste, dass es dabei immer um ihn selbst und um seine eigenen Interessen ging. Er wollte sich wichtigmachen, das war klar. Und das war alles. Und immer wieder, wenn die Lehrerin im Büro saß und mit den anderen Lehrern und dem Direktor ihren Tee trank, dann verließ er die Klasse mit der Begründung, er möchte ihr dies und jenes mitteilen. An der Bürotür war ein Schild angebracht mit dem Hinweis „Lehrerzimmer, Zutritt für Unbefugte verboten“. Ali konnte aber den Raum betreten, weil er ja Klassensprecher war.

Und ich hatte keine andere Wahl. Diese Stärke, diesen Hochmut hatte ich nicht, und ich redete mit der Lehrerin nur in der Sprache des Schweigens. Auch im Traum. Sogar die Briefe waren eine Ablenkung, auch wenn sie einen geheimen, aber sicheren Zufluchtsort für mich schafften. Denn schon damals wusste ich, dass ein Schreiben erst dann gut war, wenn es einen großen Teil dessen, was es zum Ausdruck bringen wollte, verschwieg.

Und ich wusste weiterhin, dass die Lehrerin zwischen meinen Zeilen las, auch wenn sie diskret blieb. Ich fürchtete sogar, dass ich zu deutlich, zu direkt wurde, so dass sie die Sprache meiner Verschwiegenheit ganz deutlich erriet. Deshalb versuchte ich, in meinem Schreiben undeutlicher zu werden, immer undeutlicher und undurchschaubarer, und selbst dahinter zu verschwinden. Und indem ich vollkommen undurchschaubar wurde, hoffte ich, dass sie mich ganz verstand, dass sie mich und meine Gefühle irgendwo im Dickicht der Wörter wiederfand. Ich wusste, dass meine Stärke nicht in dem bestand, was ich sagte, sondern in dem, was ich zu verbergen suchte. So dachte ich es mir jedenfalls damals. Denn ich wusste, dass Rahman, Hassan und Ali in dem, was sie sagten, was sie von sich zeigten und was sie zum Ausdruck brachten, viel beredter und gescheiter waren, und das waren die meisten Schüler und die meisten Menschen in meiner Umgebung.

Einmal, zwischen zwei Unterrichtsstunden, begegnete ich Frau Mahini in dem Flur zwischen dem Lehrerzimmer und der ersten Klasse. Alle Schüler waren im Schulhof und machten dort einen Heidenlärm. Als unsere Blicke sich trafen, machte sie halt. Und ich blieb ebenfalls stehen. Aber ich spürte zugleich, dass mein Herz zu bersten begann und mir der Atem ausging, ich spürte, dass mir kein Wort, kein einziges Wort zur Verfügung stand, und dass ich mich in einem unüberschaubaren Dunst auflöste.

Sie stand vor mir und schaute mich minutenlang an. Dann gingen wir weiter, in zwei entgegengesetzte Richtungen. Aber nur scheinbar. Denn ich merkte, dass mein Herz dort blieb, an jener Stelle zwischen dem Lehrerzimmer und der ersten Klasse. Dass mein Herz innehielt und dort für sich weiter schlug, unabhängig von mir, im Angesicht ihrer Augen, im Angesicht ihres und meines Schweigens, in einer Welt, die sich gelöst hatte von mir und nun unabhängig von mir irgendwo zwischen Himmel und Erde existierte. Ja, ich ging weiter, aber mein Blick verharrte unabhängig von mir dort, wo sie gestanden hatte, und meine Augen gingen mit ihr, in die mir entgegengesetzte Richtung und starrten sie unablässig an. Als ich wegzog, wurde mir klar, dass ich mich von jener von mir gelösten Welt zwischen Himmel und Erde nicht trennen konnte, dass ich auch mitgenommen worden war. Wo ich nun wirklich stand, war anderswo.

Ich kann mich ganz gut erinnern. In einem Aufsatz, den ich zu jener Zeit der Klasse vorlas, hatte ich einiges aus einem Buch, das mir damals in die Hände fiel, abgeschrieben. Darin hieß es: „Ein Gedicht ist wie ein Brief an einen Unbekannten, ein Brief, den man aus dem Fenster eines Flugzeugs hinauswirft.“

Ich hatte bis dahin noch kein Gedicht gelesen und kein Flugzeug aus der Nähe gesehen. Und darüber hinaus verstand ich diese Zeilen nicht ganz. Doch sie beeindruckten mich zutiefst und machten die Gedichte in meinen Augen zu etwas Phantastischem, Wunderschönem, Geheimnis- vollem, das, so schien mir, aus den unbekannten, dunklen Tiefen des Herzens kommt und uneigennützig und voller Unschuld ist. Ich versuchte, diese Zeilen für mich, für einen Aufsatz, den ich wie alle meine anderen Aufsätze nur für die Lehrerin schrieb, zurechtzulegen, umzuschreiben, und ich schrieb Folgendes:

„Briefe an einen Unbekannten zu schreiben, bedeutet, sie aus dem Fenster eines Flugzeugs hinauswerfen; das bedeutet wiederum, dass sie nie ankommen, und wenn sie irgendwo ankommen, dann geraten sie in falsche Hände. Solche Briefe sind wie Gedichte usw.“. Das gefiel Frau Mahini sehr. Einige Schüler lachten über meine komischen Einfälle. Rahman verdrehte die Augen: „Hamed sitzt in seinem Flugzeug, er hat ein Flugzeug“, spottete er. Hassan bekam Lachkrämpfe und die anderen genauso. Doch die Lehrerin versicherte, dass dies das Beste war, was sie bisher gelesen hatte.

Mir war wichtig, was sie sagte, und ich war stolz auf meine Zeilen. Ich war stolz und zugleich hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass die Zeilen nicht ganz von mir stammten. Das war sozusagen mein erstes Plagiat. Aber erst viele Jahre später bekam ich mit, was ein Plagiat ist.

Manche Städte sind nur halbwegs am Leben. Sie atmen, und man weiß nicht, wie lange noch. Ist es möglich, dass eine Stadt einfach ohne Grund in den Boden sinkt und wir von einem Augenblick zum nächsten keine Spur von ihr finden? Gibt es vielleicht ein Erdbeben oder einen Orkan, der alles verwüsten kann, ohne dass jemand es bemerkt? Oder geschieht die Verderbnis ganz langsam von innen her?

Es gibt gewiss Städte, die sich in der Zeit auf- gelöst haben, allmählich, ganz langsam, unbemerkbar. Sie leben nicht mehr, auch wenn auf ihren Straßen und in ihren Häusern reger Betrieb herrscht. Erinnerungen an altes Leben werden in den Friedhöfen aufbewahrt, oder in Museen, in Büchern. Man hat das Gefühl, dass ein kräftiger Sturmwind diese Städte von innen her verwüstet hat, heimtückisch, stillschweigend. Wir lesen ihre Namen auf alten Landkarten und wir wundern uns und werden wehmütig.

Doch dieser Ort, Kaban, in dem ich aufwuchs, lebte noch, auch wenn er hinter den Bergen, ganz weit weg von den Augen der Welt, versteckt blieb.

Er lebte, und er hatte seine Erinnerungen in den Menschen, die dort lebten. Die Erinnerungen, die von einer Generation auf die nächste übergingen, dirigierten und bestimmten damals das Geschehen auf den Gassen und in den Häusern. Und jetzt? Nichts von alldem. Nichtsdestotrotz denke ich, dass auch dieser Ort lebt, dass auch diese Stadt eine Stadt ist wie alle anderen, die nicht nur auf den Karten existieren und in den Köpfen.

Seitdem ich weiß, dass das Haus, das ich in Teheran aufsuchte, zerstört ist, versuche ich, seiner Ruine eine Gestalt zu geben, ihre Wände und Gemäuer wieder aufzurichten, Türen und Fenster einzusetzen, Decke, Boden, damit es wieder ein ordentliches Haus wird. Manchmal gelingt es mir und manchmal nicht.

Und im Dorf? Ich wollte jemanden sehen, mit jemandem sprechen, der sich an all jene fernen Jahre erinnern konnte. Mundi, der einzige noch Überlebende aus jener Zeit, hatte sicherlich noch viel in sich, in seinem Körper und seinem Geist aufbewahrt. Aber er konnte der Welt nur mit seinem Schweigen begegnen. Er war seit seiner Geburt lahm und taubstumm. Und mir schien, dass seine weiterhin schweren und festgefahrenen Beine in Wegen verharrten, die er nie gehen, an Plätzen, die er niemals sehen konnte.

Und sein Geist genauso. Und jetzt schien es mir, als wäre ich an seiner Stelle alle diese Jahre in der Welt herumgereist, herumgeirrt, für mich und für ihn, um jetzt wieder dort zu landen, wo der Anfang war. Mundi stand lebenslang am Rande des Lebens, an dem Punkt, wo das Leben noch nicht begonnen hatte, wo der Wind des Lebens geschwind vorbei wehte, ohne ihn zu berühren (dabei sahen wir, wie seine schäbigen Kleider flatterten). Und später, viel später, als er starb, ging es mit ihm zu Ende, ohne dass er zu leben angefangen und dieses aufregende Erlebnis, das wir Leben nennen, wirklich hinter sich gelassen hätte.

Außer Mundi kannte ich hier sonst niemanden mehr. Das war aber nicht der einzige Grund, warum ich ihn wieder aufsuchen musste. Die Tatsache, dass er nirgendwohin, ich aber fortgegangen und Jahrzehnte um die Welt und in ihren Städten herumgeirrt und schließlich doch zurück zu dem Ort gekommen war, an dem Mundi lebenslang saß, verband mich innerlich mit ihm. Diese Tatsache bewies mir, dass auch ich mich vom Fleck eigentlich genauso wenig entfernt hatte, auch wenn ich jahrzehntelang hin- und hergezogen war. Nun hatte ich das Gefühl, dass ich die Welt jetzt endlich wieder mit den Augen Mundis sah, die Geräusche mit seinen tauben Ohren hörte und viele Wege, die ich beschritten hatte, mit den Füßen von Mundi gegangen war, lahm und zwecklos. Ohne wirklich zu gehen und ohne anzukommen.

Und die unzähligen Städte, die ich gesehen hatte, hatte ich andauernd mit Mundis Geist aufgenommen. Ich fragte mich, ob meine Füße all diese Wege für uns beide gegangen waren? Und vielleicht ebenso für alle anderen im Dorf, die starben, ohne von der weiten Welt etwas gesehen zu haben? Waren meine Füße deshalb jetzt zu schwach? Fühlte ich mich deshalb jetzt so müde, so taub, so stumm und sprachlos?

Damals kam Mundi immer wieder in die Schule; so war es besser, sowohl für seine Eltern als auch für ihn. Wenn er in die Schule kam, saß er entweder im Hof, neben dem großen Stein, oder in dieser oder jener Klasse, immer wieder auch in unserer. Was hatte er gesehen? Was hatte er gehört? Ab und zu ging Frau Mahini zu ihm, streichelte leicht seine zerzausten Haare, lächelte mit ihm. Dabei schaute er sie mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an, in dem einige Zahnlücken zu sehen waren.

Damals lebte er ein paar Gassen weit weg, am Rande des Dorfs. Doch ich stellte jetzt fest, dass seine Familie vor Jahren eine Wohnung im Zentrum gekauft hatte, mit einem Laden, der sich zur Hauptstraße öffnete.

 

Und wie freute ich mich, als ich feststellte, dass Mundi noch lebte. Eine etwa vierzigjährige Frau, die mir öffnete, war seine Tochter, und sie war die Mutter von Hamid, den sie kurz darauf als Begleiter mit mir in die Schule schickte. Ich wusste nicht, dass Mundi geheiratet und Kinder bekommen hatte und zahlreiche Enkelkinder und dass er zu so etwas überhaupt fähig gewesen war. Und jetzt bekam ich alles mit.

Ich konnte meine Freude kaum verbergen, dass zumindest Mundi noch im Dorf war, doch seine Tochter erklärte mir, dass Mundi heute im Krankenhaus sei; seine Krankheit hatte ihm in den letzten Monaten sehr zu schaffen gemacht. Ich solle ihn besser morgen besuchen, sagte sie, morgen sei er bestimmt zu Hause, er sei immer zu Hause, wenn er nicht im Krankenhaus sei, sagte sie.

Auch sie freute sich, – das sah ich in ihren Augen – dass ein alter Bekannter ihren sonst einsamen Vater besuchen würde. Auf meine Frage, wie es ihm sonst ginge, sagte sie, dass es ihm insgesamt schlecht gehe, Tag für Tag schlechter.Und sie hätten fast keine Hoffnung mehr. Dann telefonierte sie mit dem jetzigen Schulhausmeister der alten Schule und bat ihn darum, Hamid den Schlüssel für die verlassene Schule zugeben.

Das Haus, in dem ich geboren wurde und als Kind gespielt hatte, hatte mein Onkel, als wir fort waren und keiner von uns dort wohnte, in vier Teile aufgeteilt und an vier verschiedene Familien verkauft, so konnten wir mehr Gewinn erzielen.

Damit waren auch wir an dem Übergang Kabans zu einer Stadt, in der die Häuser und Zimmer kleiner und die Gassen enger wurden, unmittelbar beteiligt. Auch die Hinterhöfe, in denen wir spielten, sind verschwunden. Man sieht hier und dort Hochhäuser. Fremde Menschen mit verschiedenen Hautfarben und unterschiedlichen Dialekten und Sprachen.

Das Haus besaß jetzt vier Hauseingänge für vier Familien; gen Norden zwei und gen Süden zwei. Neue Wände, andere Farben. Fremde Stimmen und Gesichter und Gerüche bevölkerten die Häuser. Um das Haus von damals von innen zu sehen, musste ich vier Mal an vier verschiedenen Türen klingeln und jedes Mal denjenigen, die öffneten, erklären, weshalb ich hier war und was ich wollte. Und jeweils musste ich erkennen, dass es in keinem dieser vier Häuser irgendetwas gab, was an mein Leben von damals wirklich erinnern konnte. Der kleine Garten, den wir damals besaßen, mit Dill und Petersilie und Koriander und sogar einer Aprikose, hatte Platz gemacht für die Küche und das Badezimmer der neuen Familie. Unsere Zimmer von damals, das Wohnzimmer und das Schlafzimmer, waren abgerissen. Ich sah nun andere Fassaden und Türen, von denen ich nicht genau wusste, wohin sie führten.

An einer Ecke hatten wir einen Kuhstall, indem wir lange Zeit unsere einzige Kuh anbanden, die uns frische Milch gab. An der Stelle des Stalls war jetzt ein dreistöckiges Gebäude entstanden, unten lebte eine Familie, darüber einige ledige Arbeiter, die in der Gasraffinerie arbeiteten. Aber auch wenn nichts geblieben war außer Bagatellen, wusste ich schon, dass alles hier auf diesem Stück Erde und unter diesem Himmel begonnen hatte. Dort saß meine Mutter, hier spielte ich Murmeln, dort bin ich gefallen und Blut ist aus meiner Nase geflossen. Mich umgab jetzt etwas Unsagbares, das ich doch begreifen wollte. Und ich konnte nicht nur begreifen, sondern ich bekam die Gelegenheit, meine Kindheit, das Kind, das ich gewesen war, vor dem Hintergrund nicht mehr vorhandener Gemäuer wiederzuerkennen und zu berühren, vor dem Hintergrund des immer blauen Himmels.

Eine Heimat stelle ich mir manchmal als eine Ruine vor; niemand wohnt in ihr, sie beherbergt trotzdem die Kindheit, die Leichtigkeit, die Erinnerung und die Vergangenheit. Und sie erzählt Geschichten.

Bei einer Familie bekam ich Tee zu trinken. Während die Enkelkinder in einer Ecke spielten, erzählte mir die alte Frau des Hauses, dass sie sich an einiges von damals erinnern konnte, denn sie kam nicht von weit her.

Sie kam aus einem Dorf, das höchstens fünfzig Kilometer entfernt war. Und ihr Sohn arbeitete hier in der Betonfabrik, deshalb zogen sie hierher und kauften dieses Haus und blieben. Ob sie meinen Vater gesehen hat? „Ja, schon“, sagte sie, „zwei, drei Mal habe ich ihn gesehen, er war ein gesprächiger Mann, ein gut gekleideter Herr. Danach, als wir das Haus kauften und hierher zogen, sahen wir ihn nicht mehr. Er lebte ja in der Stadt.“ Sie sagte „ein gesprächiger Mann“ und „ein gut gekleideter Herr“ mit viel Nachdruck. Wollte sie damit das, was sie dachte und nicht zum Ausdruck brachte, aus Gastfreundschaft verschleiern? Wusste sie schon, dass er jahrzehntelang im Gefängnis gesessen hatte, bis er starb? Von Badri hatte sie nur gehört. Sie wisse ja, sagte sie, dass Badri eine geistig kranke und gefährliche Frau gewesen sei, und sie wisse, dass sie irgendwann verschwunden sei, und niemand wusste, warum.

Sie hatte sonst nichts Weiteres zu berichten. Sie fragte, wo ich lebte und seit wann. Und ich erzählte es ihr.

Ich hatte Badri von Zeit zu Zeit gesehen, aber immer nur flüchtig. Sie ging mit großen und schnellen Schritten hin und her. Und wenn Mundi körperlich behindert war, so war sie geisteskrank. Ich hatte nie ihre Eltern gesehen, aber ich wusste, dass Badri oberhalb des Dorfes in einem für sich allein stehenden Haus mit ihren Eltern wohnte. Man sagte, dass sie ein schönes Mädchen war. Und in der Tat, wenn ich sie flüchtig sah, konnte ich einen Anflug von Schönheit in ihrem Profil sehen. Sie schaute niemanden direkt an. Und niemand hatte ihre Augen wirklich gesehen, und wenn sie so stolzierend schnellen Schritts ging, ohne jemals auf jemanden Acht zu geben, sah man ihr nicht an, dass sie geisteskrank war.

Manche sagten, sie hätte blaue Augen, andere behaupteten, ihre Augen seien pechschwarz, wiederum andere sagten, ihre Augenfarbe wechsele stündlich. Jedes Mal, wenn ich sie sah, versuchte ich, dies für mich festzustellen. Doch es gelang mir nicht. Sie huschte an mir vorbei und ging fort wie ein Schatten. Aber wenn sie fort ging, dann sah ich ihre groß gewachsene Figur, die sich im eng anliegenden Kleid bewegte. Sie war dafür bekannt, dass sie eine besondere Leidenschaft für Parfüm hegte. Wenn sie vorbeiging, versuchte ich, so viel wie möglich von diesem scheinbaren Duft in der Nase zu behalten, doch ich konnte nichts wahrnehmen. Und ich fragte mich, ob das wirklich stimmte.

Sie sprach mit niemandem. Nicht, dass sie nicht sprechen konnte, ganz im Gegenteil. Doch ich hatte sie nie sprechen gehört, ich wusste nicht, wie ihre Stimme wirklich klang. Auch meine Mitschüler behaupteten, dass sie Badri nie sprechen hörten. Rahman meinte sogar, sie sei stumm. Aber er war der einzige, der das behauptete, und ich weiß nicht, wie er darauf gekommen war. Es gab Leute, die sagten, sie hätten sie singen hören. Und in der Tat vernahmen wir in zwei Nächten innerhalb eines Jahres – drei, vier Jahre nach dem Fortgehen von Frau Mahini – eine Frauenstimme, die die ganze Nacht hindurch ununterbrochen sang. Ich war ständig wach und hörte ihr dabei zu. Mitten in der Nacht aufzuwachen und Badri beim Singen zuzuhören war etwas Sonderbares. Aber ob das wirklich ihre Stimme war? Am nächsten Tag sprach jeder in der Schule davon.

Und es gab Gerüchte, dass die Leute, die in der Nähe von Badris Haus wohnten, in diesen zwei Nächten keinen Schlaf gefunden hatten. Aber was mich wirklich interessierte, war nicht ihr Gesang, sondern, dass sie so geheimnisvoll war, derartig von dunklen Geheimnissen umhüllt, dass sie immer solche eng anliegenden Kleider trug, die beinahe ihre nackten Schultern freigaben, und hierhin und dorthin stolzierte, ohne jemandem einen einzigen Blick zu gönnen, und sobald man auf sie aufmerksam geworden war, war sie schon an der nächsten Ecke verschwunden wie ein Schatten. Ich hatte es nie geschafft, ihre Augen zu sehen.

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