Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Das Vermächtnis aus der Vergangenheit
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Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

Teil 6: Die Vernichtung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Verrat und Zusammenhalt

Liebe und Sehnsucht

Ein Leben lang

Für immer Erik?

Chancenlose Liebe

Das Ende

Des Schicksals Plan

Der Sieg über die Vergangenheit

Impressum neobooks

Verrat und Zusammenhalt

Ich werde wach, weil von irgendwoher ein Handy klingelt.

„Erik, dein Handy!“, raune ich schlaftrunken und höre nur ein verdrossenes Brummen neben mir.

Das Klingeln hört kurz auf, um erneut wieder zu beginnen.

Das Licht der kleinen Nachttischlampe springt an und ich höre Erik sich aus dem Bett wälzen. „Verdammte Scheiße!“, knurrt er müde und erschöpft.

Er war, nach einer schlaflosen Nacht in einer Gefängniszelle, sofort eingeschlafen, nachdem er all seinen Frust und seine Angst in mir entladen hatte. Geblieben war die Liebe, mit der er mich in seine Arme schloss und die ihn in einen Schlaf schickte, endlich von allem schrecklichen Erlebten und Erdachten befreit.

Ich hatte nicht sofort schlafen können. Zu sehr drängten sich mir die Bilder von dem auf, was ich erlebt hatte.

Ich habe keine Ahnung, wie alles weitergehen wird. Schließlich bin ich jetzt ein Al Kimiya … und was das heißt, ist mir nicht ganz klar. Aber ich habe Erik wieder und das ist alles was für mich im Moment zählt. Doch dass Tim freie Hand über sein Handeln hat, verursacht ein stechendes Gefühl der Angst in mir.

Ich werde mir überlegen müssen, wie ich mit ihm umgehe. Freundschaftlich, um ihn etwas im Griff zu haben oder ihn ignorieren? Darüber hatte ich mir den Kopf zerbrochen, bevor auch mich die Erschöpfung in einen Schlaf schickte, aus dem mich Eriks Handy nun gerissen hat.

Draußen ist es mittlerweile dunkel und ich habe Hunger. Ich schiebe mich aus dem Bett, werfe mir meinen Bademantel über und finde Erik im Flur. Seine Jacke liegt achtlos vor ihm auf dem Fußboden und er hat sein Handy am Ohr.

„Kannst du mir erklären, was bei euch los ist? Wie tief seid ihr eigentlich gesunken?“, tobt er mit einer Wut in der Stimme, die sie erzittern lässt. „Wer hat denen denn gesagt, dass ich das vorhabe? Willst du mich verarschen? Und was war mit dem Zeug bei meinem Auto, das die Polizei für Stoff hielt? Ich hatte nichts bei mir. Sie hätten mich nicht mal mitnehmen können, wenn ihr nicht Tütenweise irgend so einen Scheiß an meinem Auto platziert hättet!“

Erneut scheint Erik zuzuhören und ich gehe verunsichert in die Küche. Ich beschließe, uns ein Sandwich zu machen. Erik hatte zwar im Gefängnis heute Morgen ein Frühstück bekommen, aber ich weiß nicht, ob er das auch angerührt hat, und ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Mir ein großes Glas Wasser aus dem Wasserhahn nehmend, trinke ich erst mal gierig. In meinen Kopf drängt sich das gehörte. Hatten die Al Kimiys nicht gesagt, sie hätten das Zeug an Eriks Auto verschwinden lassen?

„Das sagst du jetzt! Angeblich gab es diese Tüten aber und die hätten mich für immer in den Knast bringen können“, höre ich Erik brüllen.

Ich nehme einige Toastscheiben und lege sie auf den Küchenschrank.

„Das kann doch nicht wahr sein! Die haben mich verkauft? Walter …, ich schwöre dir, das zahle ich denen heim und wenn sie Carolin noch einmal zu nahekommen gibt es Tote. Und ich bin fertig mit euch! Ein für alle Male!“

Es knallt und ich höre das mir vertraute Geräusch, wenn ein Handy sich in seine Bestandteile zerlegt.

Schnell verlasse ich die Küche und sehe Erik im Flur stehen und wie er sich resigniert über das Gesicht fährt.

Ich hebe das Handy, die Kappe und den Akku auf und gehe zu ihm, um ihn in die Arme zu nehmen. „Hey, Schatz! Was ist los?“, frage ich beunruhigt und seine vor Zorn funkelnden Augen treffen mich. Er schüttelt kurz den Kopf und zieht mich an sich.

„Die Hunde behaupten, es war nur ein Deal mit jemand, der sie dafür bezahlte und klargestellt hat, dass wir am nächsten Tag wieder rauskommen … und sie hätten nie etwas an unseren Autos platziert, was den Eindruck erwecken sollte, ich wolle dealen.“ Er schüttelt erneut den Kopf. „Und sie wollten mir nur eine kleine Abreibung verpassen, damit ich wieder nach ihren Regeln spiele. Diese Schweine!“

Er zittert und ich öffne meinen Bademantel und lege ihn um seinen nackten Körper, ihn mit meinem wärmend. Dabei überschlagen sich meine Gedanken. Einer lügt. Seine Leute oder meine neuen Freidenkerfreunde. Und ich muss gestehen, dass ich in diesem Moment eher Walter glaube. Denn auch mir war schon geschossen, dass es zu viele Zufälle gestern Abend gab.

„Komm!“, murrt Erik und schiebt sich aus der Wärme des Frotteestoffes. „Lass uns heiß duschen.“

Ich folge ihm bereitwillig ins Badezimmer. Sein Gesichtsausdruck zeigt eine Traurigkeit, die mich erschüttert. Erik scheint immer mehr die Fähigkeit zu verlieren, seine Gefühle zu verbergen. Ihn immer öfter so zu sehen tut mir weh.

Wenig später rieselt das heiße Wasser über uns hinweg und spült den Schmutz des Wochenendes von uns herunter. Ich lasse Duschgel in meine Handfläche laufen und in meiner Hand aufschäumen.

„Ich schnall das alles nicht“, zischt Erik, während ich ihn einseife und den Schmerz in seinen Augen sehe. Der angebliche Verrat seiner alten Freunde, die mal so etwas wie seine Familie waren, trifft ihn schwer.

Ich raune leise: „Ich glaube, Walter hat recht. Vielleicht haben Sam und Teddy sich kaufen lassen, um dir … oder vielmehr wegen mir … eins auszuwischen. Aber sie wollten dich nicht im Gefängnis verrecken lassen. Bestimmt nicht. Und wahrscheinlich haben diese Al Kimiyaer das mit dem Stoff nur gesagt, um mich auf ihre Seite zu ziehen. Sie behaupteten, den Stoff weggenommen zu haben, damit ihr nicht belastet werden könnt. Aber vielleicht waren sie es, die ihn dort hinlegten? Komm Schatz! Heute klären wir das nicht mehr. Und mir ist klar, dass ich diesen Leuten nicht trauen kann. Zumindest weniger als Sam und Teddy. Die beiden sind nur große Kinder, die etwas überreagieren, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Und Walter hat mich zu sich geholt, damit mir nichts passiert. Wäre ich bei ihm geblieben, hätten mich die Typen nicht gekriegt“, versuche ich Erik aufzubauen.

Es erscheint mir unglaublich schlimm, ihn denken zu lassen, dass es wirklich niemand außer Daniel und mir gibt, der ihm auch nur etwas Respekt und Zuneigung entgegenbringt. Die ganze Welt sollte ihn eigentlich lieben.

Erik hat seine Augen geschlossen, aber in seiner Brust erschüttern krampfhafte Seufzer sein Inneres und über sein Gesicht laufen Tropfen die Wange hinunter, die nicht unbedingt vom Wasserstrahl herrühren. Erschüttert frage ich mich, ob Erik weint. Ich ziehe ihn an mich und schlucke schwer. Dieser Verrat reißt ihn erbarmungslos in die Tiefe.

Als wir am Montagmorgen am Küchentisch sitzen und unseren Kaffee und Tee trinken, setze ich mich auf Eriks Schoß. Meine Hände in seine Haare vergrabend, sehe ich ihm ins Gesicht. „Versprichst du mir etwas?“

„Was du willst!“, antwortet er mir und in seinen Augen sehe ich die Ergebenheit, die er mir mittlerweile entgegenbringt. Wo alles um ihn herum zusammenbricht, bin ich ihm erhalten geblieben und stehe unerschütterlich an seiner Seite.

„Du legst dich nicht mit Sam und Teddy an. Wir klären das mit ihnen in Ruhe und mit Bedacht. Hörst du?“

Erik sieht mich barsch an. „Wir? Dich lasse ich nicht annähernd in ihre Nähe. Und ich werde ihnen das heimzahlen!“

„Schatz, das wirst du nicht. Ich will nicht, dass wir noch mehr Stress mit ihnen bekommen. Du siehst doch, was dabei herauskommt. Nachher bringt ihr euch noch gegenseitig vor den Kadi. Ich will das nicht. Das am Samstag hat mir vollkommen gereicht.“

Erik weiß das und er sieht an meinem Gesichtsausdruck, wie ernst es mir ist.

„Bitte versprich es mir!“, bitte ich noch einmal entschieden und er nickt ernst.

„Aber dann sagst du mir jedes Mal, wenn du etwas von diesen Kimiyaern hörst. Und wenn du zu ihnen gehen sollst oder sie dich aufsuchen, werde ich immer dabei sein“, brummt er.

„Natürlich!“, erwidere ich und küsse ihn lächelnd. „Keine Alleingänge mehr. Nicht von dir und nicht von mir! Versprochen.“

„Okay! Versprochen“, raunt er.

Ich steige von seinem Schoß herunter und setze mich vor meinen Tee. Heute bringt Erik mich zur Schule, weil Daniel Ellen von der Villa aus zur Schule chauffiert. Sie schlafen immer noch dort, weil ihre Eltern auf ihren zweiten Flitterwochen sind.

Ellen steht schon am Schulhof und wartet auf mich, als Erik den Mustang vor der Schule anhält. Mittlerweile ist es für mich völlig egal, ob uns jemand sieht oder nicht. Es wissen sowieso schon alle, die es irgendwie interessieren könnte, dass Erik sesshaft geworden ist und ich der Grund bin. Komischerweise begegnet man mir inzwischen mit einer seltsamen Zurückhaltung.

 

Mir ist das egal, weil Erik mir wichtiger ist als alle anderen.

„Tschüss Schatz! Und sauber bleiben“, sage ich zu ihm und küsse ihn durch sein offenes Fenster.

„Du auch! Bis heute Abend!“, antwortet er mir. „Ich hole dich ab.“

Ellen baut sich neben mir auf. „Hi Bruderherz! Alles gut überstanden?“

Erik nickt nur und ich küsse ihn noch einmal, weil er mir einfach nur leidtut. Er hat noch immer nicht verkraftet, was seine Junkie- und Zuhälterfamilie ihm am vergangenen Wochenende angetan hatte.

Als ich mit Ellen wenig später zum Eingang der Schule gehe, sieht sie mich besorgt an. „Alles klar bei euch?“

Ich nicke und starre betrübt vor mir auf den Boden. Als ich wieder aufsehe, liegt ihr Blick wartend auf meinem Gesicht.

„Das waren wohl Sam und Teddy, die Daniel und Erik eins reinwürgen wollten. Und um das abzurunden ließen sie sich wohl von dem Trupp finanziell dazu anleiten, der mir Tim und Julian auf den Hals hetzt.“

„Was? Woher weißt du das?“, raunt Ellen und sieht sich um, ob auch niemand uns zuhört.

„Erik hat mit Walter telefoniert. Und als sie euch am Samstag von den Bullen einsacken ließen, wurde auch ich geschnappt und entführt.“

Ellen bleibt mit weit offenem Mund stehen und sieht mich entsetzt an. Als sie endlich ihre Stimme wiederhat, flüstert sie: „Was?“

„Ich lief nach draußen, um euch zu suchen, als mich jemand packte, mir eine Spritze in den Arm jagte und ich Stunden später irgendwo aufwachte.“

„Mein Gott! Das waren doch nicht auch noch Teddy und Sam? Erik bringt die um!“

„Nein, nein. Das waren diese Al Kimiy Dingsbums. Die Leute halt, die Julian das Studium finanzieren. Und der Anwalt, der euch rausholte, war auch der gleiche Anwalt, der Julian aus der Untersuchungshaft holte.“

Mein Bruder Julian hatte fast zwei Monate im Gefängnis eingesessen, weil er Tim übel zugerichtet hatte und mich mit einem Messer am Hals verletzte.

Ellen scheint starr vor Schreck zu sein. Aber sie ist nicht dumm und raunt kurz darauf: „Und was musstest du dafür tun, dass er auch bei uns solchen Einsatz zeigte?“

„Nicht viel! Ich soll in Zukunft etwas mit ihnen kooperieren und mich zu ihrem Verein zählen. Die Geschichte mit den Kindern darf noch warten, haben sie gesagt und wenn Julian es hinbekommt, dass sie bekommen, was sie wollen, dann brauche ich gar nichts mehr für sie tun. Und ich kann bei Erik bleiben.“ Das stimmt nicht ganz, aber auch vor ihr will ich die Geschichte so hingestellt sehen.

Ellen scheint mir kein Wort glauben zu können. „Das ist nicht dein Ernst?“

Ich sehe vor mir zu Boden, weil ich nicht weiß, ob ich ihr anvertrauen kann, was mir auf der Seele brennt.

„Carolin?“, knurrt sie bissig und zieht mich an die Seite, weil ein Pulk Lehrer an uns vorbeizieht. Es klingelt im selben Moment, was wir ignorieren.

Ich sehe auf und bitte sie leise: „Versprich mir, dass weder Daniel noch Erik etwas davon erfahren.“

„Wovon?“, brummt Ellen und ihre braunen Augen werden zu Schlitzen.

„Sie sagten mir, dass sie sich aber nicht einmischen, was Tim angeht. Er ist im Moment mein größtes Problem.“

Ellen strafft ihre Schultern und winkt ab. „Ach der! Den machen wir platt, wenn er noch mal auftaucht. Mit dem werden wir spielend fertig!“

Ihr Enthusiasmus in Ehren. Ich hatte ihn erlebt. In all seinen Facetten. Und ich habe Angst vor dem, zu was er noch fähig ist. Aber ich lächele sie an und nicke. „Du hast recht.“

Wir gehen zu unserer Klasse, wo uns der Mathelehrer wegen unseres Zuspätkommens mit bösem Blick auf unsere Plätze verweist. Aber so kann ich wenigstens der mich ständig in den Abgrund ziehenden Gedankenflut entkommen.

Am Nachmittag will Ellen mich zur Arbeit bringen, um haarklein alles von meiner Entführung zu erfahren. In der Schule waren wir keinen Moment mehr allein gewesen und zu meiner Überraschung sehe ich, dass Michaela mit uns in die Stadt fährt.

„Ich muss mit Julian sprechen. Kannst du ihm das ausrichten?“, frage ich Michaela leise und sie nickt.

„Er ist noch in der Uni“, erklärt sie. „Er arbeitet außerdem jetzt irgendwo in einem Labor. Ich weiß aber nicht, wo das ist.“ Sie wirkt etwas traurig und ich lege meine Hand auf ihre Schulter.

„Michaela, dieser Job in dem Labor ist wichtig für euch. Er soll für seinen Arbeitgeber einige Forschungen voranbringen. Sie finanzieren ihm dafür alles. Dass er an diesen Forschungen arbeitet ist Voraussetzung dafür, dass sie das auch weiterhin tun. Julian macht das vor allem für dich. Er hat sich wirklich in dich verliebt. Das hat er mir gesagt. Und er muss denen, die ihm sein Studium finanzieren, jetzt dementsprechend Zeit schenken“, erkläre ich ihr.

Sie soll ihm auf alle Fälle diese Zeit geben. Sie ahnt nicht, wie wichtig das für uns alle noch werden kann. Julian muss es schaffen, etwas für diese Leute zu kreieren, dass sie von ihrem anderen Vorhaben abbringt. Ich hätte ihr beinahe gesagt, dass er es dafür tut, um mit ihr auch weiterhin zusammen sein zu können. Aber ich weiß nicht, wie weit sie eingeweiht ist und ich habe wahrscheinlich sowieso schon zu viel preisgegeben. Wüsste sie, dass Julian und Tim eigentlich mit mir zusammen Kinder zeugen sollen, dann würde sie mich wahrscheinlich massakrieren. Schließlich habe ich ihr, aus ihrer Sicht zumindest, schon Erik ausgespannt.

„Wirklich? Das hat er dir gesagt?“, flüstert sie zurück und ihre Augen leuchten auf. Bei ihr ist nur hängen geblieben, dass Julian sie meines Erachtens liebt.

Ich nicke nur und wende mich wieder Ellen zu, um nicht noch weitere Einzelheiten erfinden zu müssen, auf die Michaela bestimmt ganz scharf ist.

Auf dem Weg zur Arbeit erzähle ich Ellen alles über Samstagabend und die Al Kimiys, wie ich sie nenne. Ich schließe meine Erzählung mit dem Auftauchen der drei in der JVA, als der Anwalt sie zu mir brachte. Alles weitere weiß sie selbst.

„Das ist echt abgefahren! Und jetzt glaubst du, dass sie Sam und Teddy dafür bezahlt haben, um uns Samstag aus dem Weg zu räumen?“

„Überleg doch mal. Erst lädt Sam uns zu seinem Geburtstag ein. Dann werdet ihr von der Polizei einkassiert, als sie auch mich kidnappen wollen. Naja, sie hätten kaum Chancen gehabt, wärt ihr den ganzen Abend bei mir gewesen. Und dann haben sie mir erzählt, sie hätten den Stoff von den Autos weggenommen, damit sie euch damit nicht belasten konnten. Aber Walter sagt, es gab keinen Stoff bei den Autos. Und ich glaube ihm. Woher sollten die Typen wissen, dass Stoff bei den Autos versteckt wurde und gleichzeitig die Bullen kommen, wenn sie ihn nicht selbst dort platziert haben und nicht selbst dafür sorgten, dass jemand die Bullen verständigt?“

Ellen nickt nur und raunt: „Sie haben auch etwas gefunden, das sich letztendlich aber als Vitaminpulver herausgestellt hat. Sonst hätte dieser Anwalt uns nicht so einfach raushauen können.“

Ich schüttele den Kopf. Wem kann man glauben und wer hat wirklich die Fäden gezogen?

„Erik ist auf alle Fälle schwer geknickt, dass Sam und Teddy das mit ihm gemacht haben“, raune ich.

Wieder nickt Ellen nur verstehend. „Sie waren seine Freunde. Fast so was wie Brüder“, murmelt sie.

„Ich weiß!“

Wir kommen vor dem Cafe an und ich sehe auf meine schöne Armbanduhr, die mir Erik zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte.

„Oh Mann, ich muss mich beeilen.“ Ich drücke Ellen kurz an mich und hauche ihr ein „Danke!“ zu, weil sie mich hergebracht hat und mir wieder einmal ein offenes Ohr schenkte.

„Bitte! Wir vier sind auch wie eine Familie. Da ist das selbstverständlich“, meint sie dazu nur.

Ich nicke und drehe mich schnell um. Ihre Worte greifen mir ans Herz und sie hat recht! Wir sind wie eine kleine Familie ohne Eltern.

Alessia empfängt mich wie immer freudestrahlend und wartet nur ab, bis ich umgezogen bin. Dann macht sie sich auch schon auf den Weg zu ihren Enkelkindern, mit denen sie an diesem Tag einen Kinonachmittag geplant hat.

„Wir gehen in einen drolligen Kinderfilm. Niko, ein Rentier hebt ab. So heißt der“, sagt Alessia freudestrahlend und ich schaue sie nur lächelnd an. Seit sie Zeit mit den Kindern verbringt, scheint sie noch ein wenig gut gelaunter und energiegeladener zu sein. Ich freue mich darüber und bin stolz, dass ich ihr das ermögliche. Außerdem verdiene ich damit Geld, um mir einiges kaufen zu können. Aber mittlerweile ist klar, dass es keine Miete an Erik zu zahlen gibt und er übernimmt auch die Nebenkosten. Ich kann mich schon fast freuen, wenn ich mal etwas bezahlen darf.

Aber Erik besteht darauf, mir mein kleines Budget zu erhalten und bei einem Streit vor einiger Zeit darüber hatte er geschimpft: „Das zahle ich allein. Ich bin schließlich auch die ganze Zeit hier und ich bin hier der uneingeschränkte Hausherr über die Wohnung, das Inventar und die Mieterin. Damit das klar ist. Und wenn du mir das streitig machst, kannst du auch gleich ein Messer nehmen und mir die Eier abschneiden.“

Das wollte ich natürlich auf keinen Fall. Das wäre doch zu schade.

Da war Erik noch hart und unerschütterlich gewesen. Doch die letzte Zeit hat ihn regelrecht niedergedrückt und erschreckend weichgemacht.

Alessia sagt zum Abschied: „Okay! Ich gehe dann. Bis Freitag! Dann möchte ich mit meiner Tochter eine Wohnung anschauen gehen und am Abend kommt deine Mutter mich besuchen.“

Ich schaue sie entgeistert an. „Meine Mutter?“

„Ja, ich habe Sophie an deinem Geburtstag eingeladen und sie hat mich am Wochenende angerufen und wir gehen Freitag zusammen essen und dann auf ein Glas Wein zu mir. Dein Bruder nimmt sie dann wieder mit nach Hause.“

Ich bin völlig perplex und Alessia lacht nur über meinen verdatterten Gesichtsausdruck.

„Okay! Nah dann viel Spaß!“, kann ich dazu nur sagen.

Am Abend holt mich Erik ab und wir gehen zusammen nach Hause. Aus der Küche duftet es nach Essen und ich sehe Erik erstaunt an.

„Die letzte Vorlesung ist ausgefallen und ich habe uns ein paar Schnitzel vom Metzger geholt und gebraten. Den Kartoffelsalat habe ich allerdings fertig gekauft.“

„Wow! Ich liebe es, wenn du kochst“, säusele ich und hauche ihm einen Kuss auf den Mund. Beim Essen raune ich ihm neckend zu: „Du bist mein Held! Wer hat schon einen Mann, der auch kochen kann?“

Er grinst nur, sich ein großes Stück Fleisch in den Mund schiebend und ich sehe ihm an, dass er sich langsam wieder fängt. Den ersten Schock darüber, dass seine Zuhälterfamilie ihm eine Nacht in der JVA bescherte, scheint überwunden zu sein.

An diesem Abend schmiege ich mich im Bett an ihn und sage ihm, was seine Schwester mir gesagt hat. „Ellen meint, wir vier sind eine Familie. Ist das nicht süß?“

„Süß? Eher peinlich. Ellen ist doch wohl aus dem Alter raus, dass ihr so etwas noch wichtig ist“, murmelt er.

Das sagt mein großer Gangster, der niemals aus diesem Alter herauszukommen scheint.

Auch wenn Erik den harten Typen immer wieder rauskehrt, so lässt sich nicht verleugnen, dass er tief in seinem Inneren ein Junge ist, der sich mit fünf Jahren von einer liebevollen, fröhlichen Welt verabschieden musste, als ein durchgeknalltes Kindermädchen ihn entführte und böse verletzte.

„Hm, ich finde den Gedanken schön“, antworte ich ihm. „Ich bin froh, euch drei zu haben.“

Er drückt mich an sich und küsst mich auf die Stirn, sagt aber nichts.

Erschöpft von den Auswirkungen des Wochenendes und dem Tag, der hinter uns liegt, liegen wir beide nur da und hängen unseren Gedanken nach, bis uns der Schlaf in seine Dimensionen lockt.

Am nächsten Tag fahren Ellen und ich wieder zur Fahrschule. Es ist unsere dritte Theoriestunde und wir rauchen noch schnell eine Zigarette, bevor wir uns in das graue Gebäude mit der riesigen, gelben Aufschrift begeben. Die beiden Mädels, die mich am Donnerstag ansprachen, kommen an uns vorbei und ich frage sie, wie ihre ersten Fahrstunden waren.

„Oh, schrecklich!“, sagt Nina und lässt ihre schiefen Hasenzähne aufblitzen. „Voll chaotisch! Ich dachte ständig, ich ramme was.“

Sarah winkt ab. „Ach, Heulsuse! Ich fand das gestern voll cool. Ich glaube, ich bin echt gut!“

Sarah macht mir Hoffnung und auch Ellen lassen ihre Worte nicht kalt. Sie hat noch viel mehr Angst vor dem Fahren als ich.

 

Wir rauchen zu Ende und Sarah zieht ihre Freundin schon in das Gebäude der Fahrschule.

Ich frage Ellen, den beiden hinterhersehend: „Wir müssen noch die Passbilder abgeben und wann wollen wir den Erste-Hilfe-Kurs machen?“

Erik hatte mir am Morgen beim Frühstücken gesagt, dass ich in der Fahrschule nach einem Termin dafür fragen soll.

Statt darauf zu antworten, knurrt Ellen: „Ne, nicht der schon wieder! Und sooo dreist! Unfassbar!“

Ich sehe sie verunsichert an und drehe mich um, ihrem Blick folgend.

Grinsend kommt Werner bei uns an, wirft seine lange, blonde Strähne etwas zur Seite, um seine grünen Augen eine freie Sicht zu bieten und sagt: „Hi, ihr zwei Hübschen. Unsere dritte Stunde! Und schon fleißig Fragenkataloge gewälzt?“

„Was willst du denn schon wieder?“, knurrt Ellen nur, statt ihm zu antworten.

Ich lächele ihn an und drehe mich zu ihm um. „Ne, noch gar nicht! Aber diese Woche muss ich ernsthaft damit anfangen.“

„Aber bestimmt! Sonst ziehen wir nicht gleich, wenn du durch die erste Prüfung rasselst“, sagt er und lacht über meinen Gesichtsausdruck. Dabei legen seine vollen Lippen zwei blendend weiße Zahnreihen frei und auf seinen Wangen bilden sich zwei kleine Grübchen, die nur erscheinen, wenn er ausgelassen lacht. Einen Moment verunsichert er mich ein wenig.

Ich sehe schnell Ellen an, die sich einfach umdreht und mich am Arm hinter sich herzieht.

An uns vorbei strömen ganze Völkerscharen in die Fahrschule und ich frage mich schon, ob wir so früh sind, dass noch keiner reingegangen ist oder ob es heute so voll wird.

Carsten und Tobias scheinen nicht da zu sein. Zumindest sitzen auf ihren Plätzen zwei Mädchen, die beide besser zwei Stühle genommen hätten.

Ellen sieht sich nach freien Plätzen um. Aber es scheint alles besetzt zu sein, bis auf die zwei Plätze, auf denen wir letzte Woche auch schon saßen. Ellen grinst und zieht mich nach hinten. Sie wirft sich auf den Platz neben einen Jungen mit roten Haaren, den ich noch nie hier gesehen habe und ich setze mich auf den letzten Platz am Reihenende.

Klaus, der Theorielehrer, kommt herein und mit ihm Werner.

Ellen grinst schadenfroh, weil kein Platz mehr frei ist.

Werner sieht sich um. Hinter ihm kommen noch zwei weitere Jungen in den Raum, die wohl neu sind. Sie wirken angesichts des Platzmangels verunsichert und ein wenig verstört.

„Holt euch bitte von dem Stapel draußen einen Stuhl und setzt euch an den Rand. Vielleicht lassen euch nette Tischnachbarn ihren Tisch mitbenutzen“, sagt Klaus.

Werner verschwindet als erstes in den Gang und die anderen beiden folgen ihm. Er kommt auch als erstes wieder in den Raum, einen weißen Plastikstuhl in den Händen und steuert direkt auf mich zu.

„Das ist doch jetzt nicht wahr?“, knurrt Ellen ungehalten und ich lächele Werner zu. Was soll ich auch anderes tun, um Ellens Unfreundlichkeit zu kompensieren.

„Darf ich?“, fragt er und ich nicke. „Klar! Kein Problem.“

Er setzt sich an die Tischkante meines Tisches, dicht an mich heran.

Ellen wirft ihm einen bösen Blick zu, muss sich dann aber nach vorne wenden, weil Klaus uns erklärt, was wir als Erstes an diesem Tag tun werden.

„Ich gebe allen eine Fragenseite und ihr schaut mal, was ihr darauf ausgefüllt bekommt.“

Nah toll. Das kann ja was werden.

Klaus gibt einen Stapel Zettel herum und jeder nimmt einen runter. Zeitgleich folgt eine Kiste mit Kugelschreibern.

„Die Kugelschreiber hätte ich gerne wieder zurück“, ruft Klaus und Gemurmel und Gelächter hebt an.

„Sind die nicht im Preis mit drin?“, ruft einer.

„Nein, und ich habe auch nur begrenzt welche. Also bitte! Legt sie später in die Kiste zurück oder lasst sie auf dem Tisch liegen.“

Als ich endlich den Zettel vor mir liegen habe und einen Kugelschreiber in der Hand halte, mache ich ein wenig Platz für Werner, damit auch er seinen Zettel problemlos auf den Tisch legen kann.

„Danke!“, raunt er und sieht sich den Zettel an.

Ich werfe Ellen einen hilflosen Blick zu. Oh Mann! Es ist zwar nur zum Ankreuzen, aber das kann auch schwer sein, wenn man nicht weiß, was man ankreuzen soll.

„Manchmal gehen auch mehrere Antworten“, raunt Werner und beginnt Kreuze zu setzen.

Ich lese mir die Fragen durch und die möglichen Antworten. Die erste geht leicht. Als ich bei der zweiten Frage ein Kreuzchen setzen will, schiebt Werner mit seinem Kugelschreiber meinen eine Antwort tiefer.

Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel an und er zwinkert mir zu.

Als ich mich auf die nächste Frage stürzen will, tippt er auf eine weitere Antwort bei der vorherigen und ich lese sie mir nochmals durch.

„Ach so?“, flüstere ich leise.

„Ja!“, flüstert er zurück.

So geht es den ganzen Zettel weiter. Er gibt mir fast immer die Antworten auf irgendeine Art und Weise vor und ich lese schon fast gar nicht mehr die Antworten, sondern warte ab, was er so meint. Da er einen anderen Fragenzettel hat als ich, lese ich eine seiner Fragen und weiß die Antwort. Frech kreuze ich mit meinem Kugelschreiber seine Antwort an.

„Danke!“, säuselt er und schenkt mir ein Lächeln mit Grübchen.

„Bitte!“, raune ich leise und setze mich zurück, um etwas mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Sein Lächeln kann einen schon aus dem Gleichgewicht bringen.

„Poor! Ich muss zu Hause üben“, mault Ellen neben mir mürrisch. „Das ist ja voll schwer!“

Ich beuge mich zu ihr und sehe mir ihre Fragen an. Da sie den gleichen Zettel wie Werner hat, gebe ich ihr die letzten drei Antworten vor und sie sieht mich überrascht an.

„Der Scheiß liegt dir scheinbar!“

„Nicht wirklich“, raune ich und lache leise. Mein Blick fällt auf Werner, der mich ganz offen mustert. „Hat mal jemand deine Sommersprossen gezählt?“, fragt er leise.

„Was“, frage ich irritiert. Ich könnte ihm sagen, dass Marcel es oft versucht hatte, Tim einmal und Erik nie. Aber ich sage nichts und wende mich lieber Klaus zu, der auf die Uhr schaut und ruft: „So, die Zeit ist um. Wir haben drei verschiedene Fragenzettel, die im Umlauf sind. Wir besprechen jetzt jede Frage.“

Auf der Wand hinter ihm erscheint riesengroß mein Fragenzettel und wir beginnen die Fragen alle nacheinander durchzukauen. Zu Ellens Erstaunen habe ich alles richtig. Ihr und Werners Zettel kommt als nächstes dran und Ellen hat zwei Fehler, Werner keinen. Den dritten Zettel durchnehmend, weiß ich, auf dem hätte ich gar nichts gewusst.

„Gute Zusammenarbeit“, raunt Werner mir leise zu. „Danke!“

Mein Gott, ist der lieb.

„Bitte!“, murmele ich leise zurück.

„Sag mal! Was wird das?“, faucht Ellen ein wenig zu laut.

Klaus sieht auf und einige drehen sich zu uns um.

„Was soll was?“, faucht Werner zurück.

Die beiden sehen sich wie Kampfhähne an.

„Sag mal, bist du lesbisch, dass du so ein Theater machst, wenn wir uns unterhalten?“ Werner zeigt auf mich und sich.

Das war laut genug, um alle im Raum aufhorchen zu lassen.

Ich schaue entsetzt von Werner zu Ellen und fahre dazwischen. „Das ist sie bestimmt nicht.“

Klaus ruft uns zu: „Gibt es in der letzten Reihe irgendwelche Probleme?“

Ich schüttele energisch den Kopf, während Ellen und Werner sich anstarren, als wollen sie sich an die Gurgel gehen.

Ich verstehe die beiden nicht. Was haben die bloß miteinander?

„Gut, dann machen wir die letzte Viertelstunde noch einen weiteren Fragenzettel“, höre ich Klaus ausrufen und setze mich mit ausgebreiteten Armen zurück, dass ich den beiden Kontrahenten unsanft vor die Brust stoße und sie sich zurücksetzen müssen. Somit unterbreche ich wenigstens ihren Blickkontakt und nehme mir vor, später Ellen zu fragen, was wirklich los ist.

Die murmelt böse etwas vor sich hin und greift zu ihrem Handy. Das macht sie immer, wenn sie etwas aufregt, und ich widme mich genervt den Ausführungen unseres Lehrers über die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten von irgendwelchen Schildern.

Wir überziehen zehn Minuten, weil einige Fragen in der großen Gruppe aufgetaucht sind, die Klaus noch geduldig mit uns bespricht. Aber dann werden wir entlassen und Werner bringt seinen Stuhl wieder in den Gang zurück. Er scheint sauer zu sein und tut mir leid. Ellen sieht auch nicht mehr gut gelaunt aus und ich frage mich erneut, was sie so sehr daran stört, wenn ich mich mit jemandem unterhalte? Selbst bei ihrem Daniel macht sie nicht so einen Aufstand.

Ich steuere Klaus an, der die Kugelschreiber einsammelt.

„Kann ich Sie mal was fragen?“

„Sicher!“, sagt er freundlich.

„Wie läuft das denn mit dem Erste-Hilfe-Kurs? Können wir den hier machen?“

„Sicher! Ich schaue mal eben nach den Terminen. Ich glaube, der nächste ist in zwei Wochen. Der findet immer samstags statt. Warte, ich sage es dir gleich und wir können dich dafür auch sofort anmelden.