Verfassungs- und Verwaltungsrecht für die Soziale Arbeit

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Verfassungs- und Verwaltungsrecht für die Soziale Arbeit
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UTB 4561

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Prof. Dr. jur. Sabahat Gürbüz, ist Fachanwältin für Familienrecht und lehrt Recht im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit – Health und Social Work an der Frankfurt University of Applied Sciences.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d­nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 4561

ISBN 978-3-8252-4561-0

© 2016 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung © Aintschie / Fotolia.com

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

1 Soziale Arbeit und Recht

2 Gesellschaftliche Grundprinzipien nach dem deutschen Rechtssystem (Staatsprinzipien)

2.1 Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1, 28, 30, 31, 70 GG) (Föderalismus)

2.1.1 Selbstverwaltungsgarantie der Länder

2.1.2 Verwirklichung der Selbstverwaltung der Länder

2.1.3 Aufgaben der Gemeinden

2.1.4 Verhältnis Bund/Länder

2.2 Demokratie (Art. 20 Abs. 1 und 2, 28 GG)

2.3 Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG)

2.3.1 Grundprinzipien der sozialen Sicherung nach dem Bundesverfassungsgericht

2.3.2 Kernprinzipien der Umsetzung der sozialen Sicherung

2.4 Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 3 GG)

2.4.1 Materieller und formeller Rechtsstaat

2.4.2 Wichtige Einzelausprägungen des Rechtsstaatsprinzips

2.5 Vertiefungen zum Thema Rechtsstaat

2.5.1 Vertiefung 1: Allgemeiner Rechtsschutz, Gerichtsaufbau

2.5.2 Vertiefung 2: Gesetzgebungsverfahren

2.5.3 Vertiefung 3: Die Bundesorgane der BRD

3 Grundrechte

3.1 Grundrechtsfähigkeit

3.2 Grundrechtsmündigkeit

3.3 Grundrechtsverzicht

3.4 Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG)

3.5 Grundrechtsschutz bei Sonderrechtsverhältnissen (Schule, Soldaten, Strafvollzug, Beamte, Anstalten)

3.6 Existenz und Verankerung von Grundrechten

3.6.1 Artikel 1 GG

3.6.2 Artikel 1 Absatz 2 und 3 GG

3.6.3 Übersicht über die Grundrechte

3.7 Einzelne Grundrechte

3.7.1 Artikel 2 GG

3.7.2 Artikel 3 GG

3.7.3 Artikel 4 GG

3.7.4 Artikel 5 GG

3.7.5 Artikel 6 GG

3.7.6 Artikel 7 GG

3.7.7 Artikel 8 GG

3.7.8 Artikel 12 GG

3.7.9 Artikel 13 GG

3.7.10 Artikel 14 GG

3.7.11 Artikel 16a GG

3.8 Einschränkbarkeit und Absicherung von Grundrechten

3.9 Subjektiver und objektiver Wertgehalt von Grundrechten

3.9.1 Subjektiver Wertgehalt

3.9.2 Objektiver Wertgehalt

3.9.3 Persönlicher und sachlicher Schutzbereich bei Grundrechten

3.10 Drittwirkung der Grundrechte

3.11 Prüfung von Grundrechten

4 Allgemeine Grundsätze der Rechtsanwendung

4.1 (Lebens-)Altersstufen im Recht

4.2 Abgrenzung öffentliches Recht und Privatrecht

4.3 Prüfungsschritte bei jeder Maßnahme der vollziehenden Gewalt

4.4 Normtypen/Rechtsquellen

4.4.1 Formelles/materielles Gesetz

4.4.2 Arten von Gesetzen/Rechtsnormen

4.5 Beurteilungsspielraum, Ermessensbestimmungen und -ausübung der Verwaltung

4.5.1 Tatbestand: Beurteilungsspielraum (Wenn)

4.5.2 Rechtsfolge: Ermessen (Dann)

4.5.3 Arten des Ermessens

4.5.4 Ermessensfehler (Rechtsfehler)

 

5 Gesetzesvollzug durch die öffentliche Verwaltung

5.1 Verwaltung (Begriff, Grundlagen)

5.1.1 Begriff der Verwaltung

5.1.2 Rechtliche Grundlage des Verwaltungsverfahrens für Sozialbehörden

5.2 Aufgaben der Verwaltung

5.2.1 Aufgabenzuordnung (Struktur)

5.2.2 Aufgaben

5.2.3 Handlungsformen

5.3 Eingriffe als Verwaltungsakt

5.3.1 Verschiedene Arten von Verwaltungsakten

5.3.2 Formelle Anforderungen an den Verwaltungsakt (§§ 33, 35 SGB X)

5.3.3 Wirksamkeit ab Bekanntgabe des Verwaltungsakts (§ 39 SGB X)

5.3.4 Zugangsfiktionen

5.3.5 Zweck der Bekanntgabe

5.3.6 Formen der Zustellung

5.4 Rechtsfehler und Folgen von Verwaltungsakten

5.4.1 Offenbare (unbeachtliche) Unrichtigkeiten (§ 38 SGB X)

5.4.2 Rechtswidriger wirksamer Verwaltungsakt (§ 39 SGB X)

5.4.3 Rechtswidriger unwirksamer Verwaltungsakt (§ 40 SGB X)

5.4.4 Verfahrens- und Formfehler (§§ 41, 42 SGB X)

5.5 Aufhebung von Verwaltungsakten in der Sozialgerichtsbarkeit

5.5.1 Ausgangslage

5.5.2 Entscheidung (§ 85 SGG)

5.5.3 Aufhebung eines Bescheides

5.6 Nebenbestimmungen zum Verwaltungsakt (§ 32 SGB X)

5.6.1 Zulässigkeit von Nebenbestimmungen

5.6.2 Arten von Nebenbestimmungen

6 Gerichtliche Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte in der Sozialgerichtsbarkeit

6.1 Sozialgerichtliche Klagearten

6.1.1 Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG)

6.1.2 Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG)

6.1.3 Kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG)

6.1.4 Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG)

6.1.5 Kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG)

6.1.6 Feststellungsklage (§ 55 SGG)

6.1.7 Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 131 Abs. 1 S. 3 SGG)

6.1.8 Weitere Klagearten

6.2 Sozialgerichtlicher Rechtsschutz (Besonderheiten des Sozialrechtswegs)

6.2.1 Die Prozessmaximen

6.2.2 Prozessvertretung (§ 73 SGG)

6.2.3 Kosten des Gerichtsverfahrens (§§ 183 ff. SGG)

6.3 Prüfungsschema zur Zulässigkeit einer sozialgerichtlichen Klage

7 Verwaltungshandeln von Fachkräften der Sozialen Arbeit

7.1 Doppelmandat der Sozialen Arbeit

7.2 Verantwortlichkeit und Haftung

7.2.1 Arbeits-/dienstrechtliche Haftung

7.2.2 Vermögensrechtliche Haftung

7.2.3 Strafrechtliche Verantwortung

7.3 Beispiele für Straftaten durch Unterlassen (StGB)

8 Fälle zu den Kapiteln und Musterlösungen

8.1 Fall „Der nackte Häftling“

8.1.1 Sachverhalt

8.1.2 Lösung

8.2 Fall „Der alte Glatzkopf“

8.2.1 Sachverhalt

8.2.2 Lösung

8.3 Fall „Muslime tragen keinen Alkohol“

8.3.1 Sachverhalt

8.3.2 Lösung

8.4 Fall „Boykottaufruf gegen AfDler“

8.4.1 Sachverhalt

8.4.2 Lösung

8.5 Fall „Das Papamobil auf dem Christopher Street Day“

8.5.1 Sachverhalt

8.5.2 Lösung

8.6 Fall „Wer zu spät kommt“

8.6.1 Sachverhalt

8.6.2 Lösung

8.7 Fall „Der liebe Nachbar“

8.7.1 Sachverhalt

8.7.2 Lösung

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

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Aus der Rechtsprechung
Aus dem Gesetz

Abkürzungsverzeichnis


Alt.Alternative
Anm. d.
AutorinErläuterungen der Autorin zum Inhalt der Entscheidung
AufenthGGesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz)
Art.Artikel
BAföGBundesausbildungsförderungsgesetz
BEEGGesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit
BGBBürgerliches Gesetzbuch
BKGGBundeskindergeldgesetz
BSGBundessozialgericht
BT-Drs.Bundestagsdrucksache
BVG
BVerfGBundesverfassungsgericht
BVerfGEEntscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGGGesetz über das Bundesverfassungsgericht
BverwGBundesverwaltungsgericht
BVerwGEEntscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
bzw.beziehungsweise
d. h.das heißt
d. Verf.der Verfasser
f.folgende
ff.fortfolgende
GGGrundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
ggf.gegebenenfalls
Herv. i. Orig.Hervorhebung im Original
h. M.herrschende Meinung
LPartGGesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft
i. d. R.in der Regel
i. S.im Sinne
i. S. d.im Sinne des
i. V. m.in Verbindung mit
LSGLandessozialgericht
m. w. N.mit weiteren Nachweisen
Nr.Nummer
Nrn.Nummern
NRWNordrhein-Westfalen
OLGOberlandesgericht
OVGOberverwaltungsgericht
PsychkGPsychisch-Kranken-Gesetz
S.Satz
SGSozialgericht
SGGSozialgerichtsgesetz
SGB IISozialgesetzbuch, Zweites Buch, Arbeitslosenhilfe
SGB VIIISozialgesetzbuch, Achtes Buch, Kinder- und Jugendhilfe
SGB XIISozialgesetzbuch, Zwölftes Buch, Sozialhilfe
SGB XSozialgesetzbuch, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren
sog.sogenannte
StGBStrafgesetzbuch
u. a.unter anderem
UnterhVGUnterhaltsvorschussgesetz
usw.und so weiter
u. U.unter Umständen
VGVerwaltungsgericht
VGHVerwaltungsgerichtshof
vgl.vergleiche
VwGOVerwaltungsgerichtsordnung
VwVfGBundes-Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVGVerwaltungsvollstreckungsgesetz
VwZGVerwaltungszustellungsgesetz
WaffGWaffengesetz
WHGWasserhaushaltsgesetz
WoGGWohngeldgesetz
z. B.zum Beispiel

Vorwort

Die Befassung mit rechtlichen Fragestellungen wird auch für die im Bereich der Sozialen Arbeit Tätigen immer bedeutsamer und komplexer. Dabei genügt es einerseits nicht, nur Gesetzestexte zu kennen, andererseits ist es aber auch nicht erforderlich, jedes juristische Detail zu erlernen und zu beherrschen. Wichtig – und für eine sachgerechte Anwendung in der Praxis notwendig – ist es vielmehr, Systematik und Zweck der Regelungen zu verstehen und auch die wichtigsten Entscheidungen und Leitlinien aus der Rechtsprechung zu kennen. Gerade Letzteres erleichtert den Zugang zu den ansonsten abstrakten Bestimmungen, da ihr Inhalt und ihre Bedeutung durch die Anwendung auf konkrete Lebenssachverhalte nachvollziehbar werden. Das Buch soll die Studierenden mit den für die Praxis wichtigen Grundzügen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts als Grundlagen der Sozialen Arbeit vertraut machen. Dazu gehört auch, den Studierenden die Bedeutung des Rechts als Grundlage allen Verwaltungshandelns noch einmal bewusst zu machen.

 

Neuere Entwicklungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung werden berücksichtigt und führen so die Bedeutung des Rechts im Wandel der Zeit bei der Gestaltung des Zusammenlebens vor Augen.

Die Studierenden sollen in die Lage versetzt werden, die einschlägigen Vorschriften zu erkennen und systematisch richtig auf Sachverhalte anzuwenden. Dazu werden ihnen die Struktur der Gesetze, deren Inhalt sowie Sinn und Zweck erläutert. Sie sollen lernen, sich im Gesetz zu orientieren und Gesetzestexte zu verstehen.

Die zahlreichen Beispiele und Zitate aus der Rechtsprechung sollen die Studierenden aber auch ermutigen, sich selbst Gedanken über den Regelungsinhalt und die praktische Anwendung zu machen und Zielsetzungen und professionelle Handlungsstrategien zu diskutieren. Sie sollen die gesetzlichen Vorgaben umsetzen, ohne eine eigene Meinung und damit Verantwortung zu scheuen. Interessante, möglichst aktuelle Fälle aus der Praxis erleichtern die Erarbeitung der Systematik, das Verständnis und auch die Erinnerung an das Erlernte.

Abschließend möchte ich meiner Tochter und meinem Mann danken.

Sie haben mich geduldig, interessiert und auch kritisch bei der Erstellung des Buches begleitet.

Frankfurt am Main, Oktober 2015

Sabahat Gürbüz

1 Soziale Arbeit und Recht

Soziale Arbeit ist seit Ende des 20. bzw. Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Profession geworden, die wissenschaftsfundiert versucht, praktische soziale Probleme in der Gesellschaft zu lösen, zu lindern oder zu verhindern, woran sich auch schon die Ausbildung von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen etc. orientiert. Der wachsenden Bedeutung der Sozialen Arbeit entspricht eine zunehmende Verrechtlichung, was bedeutet, dass Soziale Arbeit und Recht zusammengehören. Wer Soziale Arbeit leistet, muss die für sie geltenden Regeln – das Recht – kennen. Das Recht ist folglich wesentlicher Teil der fachwissenschaftlichen Ausbildung.

Definition der Sozialen Arbeit

Während die Bezeichnung Soziale Arbeit seit den 1990er Jahren zunächst überwiegend als Ober- und Sammelbegriff für die Fachrichtungen Sozialpädagogik und Sozialarbeit diente, wurde im Jahr 2000 durch den Internationalen Sozialarbeiterverband, die International Federation of Social Workers (IFSW), folgende Definition gegeben:

„Die Profession Sozialer Arbeit setzt sich ein für sozialen Wandel, die Lösung von Problemen in menschlichen Beziehungen sowie die Befähigung und Befreiung von Menschen mit dem Ziel, das Wohlergehen zu fördern. Gestützt auf Theorien menschlichen Verhaltens und sozialer Systeme interveniert Soziale Arbeit an den Stellen, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Wechselwirkung stehen. Grundlage Sozialer Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“ (International Federation of Social Workers and International Association of Schools of Social Work 2004)

Die Definition betont die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit. Sie bezieht somit die Kategorie des Rechts mit ein.

Rolle des Rechts

Die Soziale Arbeit leistet Hilfestellungen in der Gesellschaft. Das Recht legt die Grundprinzipien des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft fest. Es regelt das Zusammenleben in allen Bereichen und versucht einen Ausgleich der Interessen und Ansprüche. Das betrifft aber nicht nur das Verhältnis der BürgerInnen untereinander, sondern – und das ist von besonderer Bedeutung – auch deren Verhältnis zum Staat. Staat und Gesellschaft stehen sich nicht gegenüber, sondern gestalten idealerweise miteinander die Lebenswirklichkeit der Gemeinschaft. BürgerInnen sind nicht untergeordnet, sie haben vielmehr neben Mitwirkungsrechten (z. B. Wahlen) auch Abwehrrechte gegen den Staat. Sie können vom Staat auch Hilfe erwarten und sogar beanspruchen. Die Hilfe wird von der Solidargemeinschaft der BürgerInnen getragen. Es entsteht ein soziales System, dessen Umsetzung wiederum dem Staat obliegt.

Die Regeln hierfür stellt der Gesetzgeber auf. Sie haben – anders als Moral und Sitte – einen allgemeinen Geltungsanspruch. Das System von Regeln ist das Recht und seine Anwendung erfolgt durch die Verwaltung. Die Entscheidungen des Gesetzgebers und der Verwaltung sind durch Gerichte überprüfbar.

SozialarbeiterInnen werden in der Beratung und/oder Verwaltung tätig und wenden die Rechtsregeln somit an.

Das Recht ist also die Grundlage der Gemeinschaft. Die wesentlichen Grundentscheidungen sind in der Verfassung verankert. Die Anwendung der Normen durch den Staat regelt das Verwaltungsrecht. Die Erfüllung der Herausforderung, Mitgliedern unserer Gesellschaft zu helfen und sie zu beraten, erfordert zwingend, die Grundprinzipien der Gemeinschaft und der Gesellschaft, also das System von Regeln, zu kennen und es richtig anzuwenden. Damit rückt Recht stärker in den Fokus der Ausbildung. Seine Kenntnis in der Praxis gehört zu den grundlegenden Beratungskompetenzen aller SozialarbeiterInnen.

SozialarbeiterInnen handeln rechtmäßig. Sie wenden das in den Gesetzen geregelte Recht an, um die Soziale Arbeit zu leisten. Das Recht bestimmt den Handlungsrahmen. Es gewährt Freiraum für Entscheidungen, setzt aber auch Grenzen oder schreibt ein bestimmtes Verhalten vor und begründet Ansprüche der Betroffenen gegen den Staat.

2 Gesellschaftliche Grundprinzipien nach dem deutschen Rechtssystem (Staatsprinzipien)

Die Grundlagen des Zusammenlebens sind in der Verfassung eines Staates geregelt. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland heißt Grundgesetz (GG).

Grundgesetz

Das Grundgesetz verankert Grundrechte der Bürger (z. B. Meinungsfreiheit), legt Staatsprinzipien fest (z. B. Demokratie), beschreibt die Staatsgewalten und ihr Verhältnis zueinander (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung), regelt Bestellung, Aufgabe und Funktionsweise wichtiger Staatsorgane, einschließlich der Teilhabe der Bürger (z. B. Bundestag, Bundesregierung, Bundespräsident) und beschreibt das Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern. Die Ausgestaltung und Konkretisierung des Verfassungsrechts erfolgen u. a. durch Gesetze, Verordnungen und weitere abstrakt-generelle Regelungen. Diese und ihre Anwendung müssen daher mit der Verfassung vereinbar sein. Die wesentlichen Strukturmerkmale der Bundesrepublik Deutschland und die grundlegenden politischen Wertentscheidungen des Zusammenlebens in Deutschland finden ihren Ausdruck in bestimmten Staatsprinzipien (Katz 2010).

Staatsprinzipien

Die wesentlichen Staatsprinzipien sind in Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verankert:


Art. 20 Abs. 1 GG

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

Die Struktur der Länder muss dieser Vorgabe entsprechen (Art. 28 GG). Daraus ergeben sich die nachfolgend beschriebenen Einzelmerkmale oder eben Staatsprinzipien.

2.1 Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1, 28, 30, 31, 70 GG) (Föderalismus)

Der Begriff Bundesrepublik beschreibt einen föderalen Staat, der aus einem Gesamtstaat (Bund) und 16 Gliedstaaten (Länder) besteht (Schmidt 2015a).

Bund und Länder

Das Wesensmerkmal der bundesstaatlichen Ordnung liegt darin, dass sowohl der Bund als auch die Länder eigene Staatsgewalten für ihren Zuständigkeitsbereich besitzen und damit u. a. Gesetze erlassen können (Katz 2010; Ipsen 2014a). Man spricht dann von Bundes- beziehungsweise Landesrecht. Die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben sind grundsätzlich Sache der Länder (Art. 30 GG). Auch das Recht der Gesetzgebung haben grundsätzlich die Länder (Art. 70 GG) (Ipsen 2014a). Ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes, die notwendigerweise einheitlich zu regeln sind, sind z. B. die Staatsangehörigkeitsrecht, das Waffen- und Sprengstoffrecht oder die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken (Art. 73 GG).

Das Grundgesetz geht also von einer starken Position der Länder aus (Katz 2010; Badura 2015).

2.1.1 Selbstverwaltungsgarantie der Länder

Länderhoheiten

Die Absicherung dieser starken Stellung der Länder erfolgt durch die Garantie bestimmter Hoheiten:

Gebietshoheit: Die Befugnis, Anordnungen gegenüber allen in einem Gebiet befindlichen Personen und Sachen zu treffen.

Organisationshoheit: Die Befugnis eines Verwaltungsträgers zur Bildung, Einrichtung und Aufhebung von Organen, zur Festlegung ihrer inneren Ordnung sowie ihrer personellen und sachlichen Ausstattung.

Personalhoheit: Das Recht auf freie Auswahl, Anstellung, Beförderung und Entlassung von Mitarbeitern, allerdings durch arbeits- und beamtenrechtliche Gesetze eingeschränkt (Badura 2015).

Finanzhoheit: Die Kompetenz zur Gestaltung der eigenen Finanzwirtschaft (z. B. Steuern).

Planungshoheit: Das Recht gemäß Art. 28 Abs. 2 GG, in eigener Verantwortung die städtebauliche Entwicklung durch Bauleitpläne (Flächennutzungspläne, Bebauungspläne) zu ordnen.

Rechtsetzungshoheit im eigenen Wirkungskreis: Das Recht zur Regelung aller örtlichen Angelegenheiten, die nicht kraft Gesetzes anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind.

2.1.2 Verwirklichung der Selbstverwaltung der Länder

Rechte der Gemeinden

Zur Verwirklichung der Selbstverwaltung haben die Gemeinden das Recht, Satzungen (= eigene Rechtsnormen) zur Regelung ihrer Angelegenheiten zu erlassen. Die gemeindliche Selbstverwaltung wird daneben durch folgende Rechte gewährleistet:

das Recht der Gemeinden, einen Anteil am Steueraufkommen zu erhalten (Art. 106 Abs. 5–8 GG),

das Recht der Gemeinden zur Einrichtung einer Volksvertretung (Art. 28 Abs. 1 GG) und

das Recht der Gemeinden zur Erhebung einer Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG).

2.1.3 Aufgaben der Gemeinden

Gemeinden nehmen eigene Aufgaben wahr, aber auch solche, die eigentlich dem Bund oder Land zugewiesen sind. Eine Konsequenz der Selbstständigkeit der Länder ist es, dass es in den Bundesländern unterschiedliche Organisationsstrukturen bei der Aufgabenwahrnehmung gibt, denen verschiedene Aufgabentypen entsprechen (Badura 2015). Im Ergebnis muss daher bei inhaltlich identischer Aufgabenstellung in jedem Bundesland zunächst geprüft werden, ob und welche Besonderheiten bei der Aufgabenerfüllung gelten. Dies macht es für den Anwender erforderlich, sich mit den Regelungen des jeweiligen Landes vertraut zu machen und nicht voreilig von der Rechtslage des einen Bundeslandes auf die eines anderen zu schließen. Grundsätzlich kann dabei danach unterschieden werden, ob es sich um eine Selbstverwaltungsaufgabe oder um eine Auftragsangelegenheit bzw. Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung handelt.

Selbstverwaltung der Aufgaben

Bei der Selbstverwaltungsaufgabe nimmt die Kommune eine eigene Aufgabe wahr, bei der sie selbst entscheidet, ob, wann und wie sie sie erfüllt. Es handelt sich dann um eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe (z. B. Errichtung von Schwimmbädern, Museen, Wirtschafts- und Wohnungsbauförderung). Ist die Gemeinde zur Erfüllung kraft Gesetzes verpflichtet (ob) und kann sie daher nur über das Wann und Wie entscheiden, spricht man von einer pflichtigen Selbstverwaltungsaufgabe (z. B. Katastrophenschutz, Errichtung von Kindergärten).

übernommene Aufgaben

Ob eine Auftragsangelegenheit oder eine Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung vorliegt, richtet sich nach der Organisationsstruktur der Aufgabenzuordnung in dem jeweiligen Bundesland. In einigen Bundesländern sind diese Aufgaben nach dem Landesrecht dem Staat zugeordnet, der sich zu ihrer Erfüllung lediglich der Kommune bedient. Man spricht von einer Auftragsangelegenheit (Kommune im Auftrag des Staates). In anderen Bundesländern ist die Aufgabe nach dem Landesrecht der Kommune als eigene zugewiesen. Sie heißt dann Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung (Erfüllung einer eigenen Aufgabe der Kommune). Die Kommunen unterliegen jeweils den Weisungen (wann und wie) des Staates (z. B. Flüchtlingsgesetz).

2.1.4 Verhältnis Bund/Länder

Bundesrepublik

Die Selbstverwaltung der Kommunen ist Ergebnis und konsequente Umsetzung der von der Verfassung vorgegebenen Struktur des Staates. Deutschland ist eine Bundesrepublik (Badura 2015; Wabnitz 2014), d. h., der Bund darf nur staatliche Befugnisse übernehmen, Aufgaben erfüllen oder Gesetze erlassen, wenn dies das Grundgesetz ausdrücklich zulässt (Badura 2015). Ansonsten liegt die Zuständigkeit bei den Ländern und deren Kommunen.

2.2 Demokratie (Art. 20 Abs. 1 und 2, 28 GG)

Das Demokratieprinzip (Katz 2010) ist als tragende Säule des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Grundgesetz selbst definiert (siehe zum Begriff auch Schmidt, 2015a; Wabnitz 2014):


Art. 20 Abs. 2 GG

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Volk und Staatsgewalt

Das Volk ist der Träger der Staatsgewalt. Es übt die Staatsgewalt mittels von ihm gewählter Repräsentanten aus (Bethge/von Coelln 2011; Badura 2015). Dabei gilt das Mehrheitsprinzip.

Alles staatliche Handeln muss durch das Volk legitimiert sein, insbesondere muss es sich auf Gesetze zurückführen lassen. Ein wesentliches Mitwirkungsrecht ist daher die regelmäßige Wahl der Gesetzgebungsorgane auf Bundes- und Landes- sowie auch auf kommunaler Ebene. Damit verbunden, wenn auch nur mittelbar über die Stimmverhältnisse im Bundestag bzw. Landtag, ist der Einfluss auf die Bildung der Regierung als Exekutive. Die Regierungsmehrheit beruht auf der Anzahl der Abgeordneten der eigenen Fraktion im Parlament und damit auf dem Abstimmungsverhalten des Volkes bei den Wahlen zur Legislative. Die dritte Staatsgewalt, die Rechtsprechung, verkündet ihre Urteile schließlich im Namen des Volkes.

Mehrheitsprinzip und Minderheiten

Wer Strukturen und Regelungen ändern will, muss überzeugen und braucht demokratische Mehrheiten. Ein Diktat eines Einzelnen oder einer Minderheit ist nicht gewünscht und ausgeschlossen. Umgekehrt benötigt die Minderheit Schutz vor der Mehrheit, denn auch die Minderheit soll gehört werden und muss die Möglichkeit haben, sich zu entfalten. Denn nur so hat wirklich das gesamte Volk ein Mitspracherecht, das notwendig ist, damit Demokratie lebendig bleibt (Bethge/von Coelln 2011; Badura 2015; zum Begriff: Schmidt 2015a).

2.3 Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG)

Deutschland ist ein Sozialstaat. Das Grundgesetz legt dies als Staatszielbestimmung fest (Bethge/von Coelln 2011).

Zielsetzung

Der Sozialstaat ist darauf gerichtet, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit herzustellen und zu erhalten. Der Staat ist mitverantwortlich für den Ausgleich sozialer Unterschiede zwischen den Bürgern und verpflichtet, in sozialen Notlagen Hilfe zu leisten (Katz 2010). Gemeint ist damit allerdings keine entwürdigende Totalversorgung, sondern Hilfe zur Selbsthilfe (Katz 2010; Badura 2015).

Soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit (hierzu ausführlicher: Degenhart 2014) sind also nicht nur politische Schlagworte. Sie sind zentrale Vorgaben des Grundgesetzes. Was dies im Einzelnen bedeutet, ergibt sich aus der Auslegung des Grundgesetzes. Zuständig dafür ist das Bundesverfassungsgericht (Ipsen 2014a). Will man also den Inhalt des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips näher erfassen, ist es notwendig, die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinzuzuziehen.

2.3.1 Grundprinzipien der sozialen Sicherung nach dem Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmte Prinzipien des Sozialstaats herausgearbeitet, die die Vorgaben des Grundgesetzes näher ausgestalten (Ipsen 2014a; Wabnitz 2014).

Ziele des Sozialstaates

Der Sozialstaat verfolgt die Ziele des Ausgleichs sozialer Gegensätze und die Schaffung einer gerechten Sozialordnung. Er begründet das Gebot der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit.


Entscheidung „Ausgleich der Sozialen Gegensätze“ (BVerfGE 22, 180, Urteil vom 18.07.1967):

„Wenn Art. 20 Abs. 1 GG ausspricht, daß die Bundesrepublik ein sozialer Bundesstaat ist, so folgt daraus nur, daß der Staat die Pflicht hat, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen; dieses Ziel wird er in erster Linie im Wege der Gesetzgebung zu erreichen suchen.“

Entscheidung „Verbot der KPD“ (BVerfGE 5, 85, Urteil vom 17.08.1956):

„Eine Partei ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung (vgl. BVerfGE 2, 1 [12 f.]) nicht anerkennt; es muß vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen. Eine Partei ist schon dann verfassungswidrig, wenn sie eine andere soziale und politische Ausprägung der freiheitlichen Demokratie als die heutige in der Bundesrepublik deshalb erstrebt, um sie als Durchgangsstadium zur leichteren Beseitigung jeder freiheitlichen demokratischen Grundordnung überhaupt zu benutzen, mag diese Beseitigung auch erst im Zusammenhang mit oder nach der Wiedervereinigung stattfinden sollen.“

Entscheidung „Numerus Clausus Entscheidung“ (BVerfGE 33, 303, Urteil vom 03.05.1972):

Anm. d. Autorin: Das BVerfG stellte zunächst fest, dass aus dem Sozialstaatsprinzip kein Anspruch auf eine Ausbildungsstätte erwächst. Wenn der Staat aber Ausbildungseinrichtungen schafft, dann hat jeder einen Anspruch auf chancengleiche Zulassung. Dies folge aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG) i. V. m. dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und dem Sozialstaatsprinzip.

Aus den Gründen: „Aus dem in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufes und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium. Dieses Recht ist durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes einschränkbar. Absolute Zulassungsbeschränkungen für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung sind nur verfassungsmäßig, a) wenn sie in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten angeordnet werden und b) wenn die Auswahl und Verteilung der Bewerber nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber und unter möglichster Berücksichtigung der individuellen Wahl des Ausbildungsortes erfolgen.“