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2.4.4 „Präsentismus“ und affektive Historizität

Auffällig an Seyfrieds Herero sind die tagebuchähnlichen Tages- und Datenangaben am Eingang vieler Abschnitte sowie die fast durchgehende Verwendung des Präsens. Obwohl der Roman den Status eines dokumentarisch geschichtstreuen historischen Romans beansprucht, weicht er mit den soeben genannten Merkmalen von der Gattung des historischen Romans ab und rückt der Gegenwart der Erzählung bzw. der Rezeption näher. Somit wird eine Affinität zum „Präsentismus“ und zur affektiven Historizität sichtbar, die für die vorliegende Studie von grundlegender Bedeutung ist.

Das zentrale theoretische Paradigma, das den kritischen Geisteswissenschaften von heute nach wie vor zugrunde liegt, ist der Historismus sowie – im deutschsprachigen Raum – die historische Hermeneutik. Diese miteinander gekoppelten Paradigmen, die am besten bei Gadamer (1965) zu sehen sind, heben die gegenwartsorientierte Fokalisierung der Vergangenheit hervor und erlauben somit die Historisierung der sukzessiven Etappen von „Erwartungshorizonten“ und deren jeweiligen zeitgebundenen Mustern des historischen Verstehens Kosellecks (1979). Die Konkretisierung jener Konzepte durch die quasi-archäologische Ausgrabung von vergangenen Deutungsmustern der geschichtlichen Zeit zeigt eine „Verzeitlichung der Geschichte“ (ebd.: 19) auf, wodurch die ursprünglich nicht deutlich voneinander getrennten Kategorien Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft am Anfang der europäischen Aufklärung allmählich voneinander entkoppelt werden. Das so in Erscheinung tretende „Vergangensein der Vergangenheit“ (Attwood 1996: xviii–xx) ist das vorherrschende Deutungsmuster des heutigen Historismus. Auf diese Weise umgeht die gegenwärtige Literaturwissenschaft die Frage des immer bestimmenden „Präsentismus“ jeglicher wissenschaftlichen Untersuchung und somit die Unhintergehbarkeit des Gegenwartsbezugs der Wissenschaft. (Die wenigen Ausnahmen von diesem Muster können ohne weiteres zum minderwertigen Status des „Essays“ herabgestuft werden, wie es Adorno vor Jahren [2003: 9–33] bemerkte.) Populäre Versionen dieses „Preteritismus“ dienen besonders nützlichen Zwecken, wenn es darum geht, die bestehenden Beziehungen zwischen der Kolonialzeit und ihrem heutigem Erbe zu verschleiern: Wie in den Worten von Bundespräsident Roman Herzog, der befindet, „das Ereignis“ des Deutsch-Namibischen Kriegs „liege […] allzu lange zurück“, um eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihm zu legitimieren (Pech 1998).

Die wissenschaftliche Arbeit der geschichtlichen Kontextualisierung wird durch den Ansatz der (historischen) Diskursanalyse untermauert, die den Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Analyse von der Abbildung sozialer Realitäten (etwa bei Lukács 1987) hin zur Abbildung von Darstellungen von oder Diskursen über soziale Realitäten verschiebt (beispielsweise bei Foucault 1969). Es ist bezeichnend, dass das grundlegende Modell der Mimesis unverändert bleibt. Es wird lediglich von einer Nähe zur Realität abgerückt, hin zu einer weiter entfernten Position innerhalb der sozialen Landschaft und kommt im Bereich des Diskurses zum Stehen. Das nun besser versteckte Modell der „Abbildung“ beruht auf einer Trennung (daher das „Ab-„) zwischen Wort und Ding, die im strukturalistischen Modell des Signifikanten gegenüber dem Signifikat aufgehoben wird. Das „Abbild“ wird also aus der empirischen Realität in den Bereich der Darstellungen der Realität verschoben. Das Modell geht jedoch von der wissenschaftlich genauen Darstellung (representation) jener Darstellungen (representations) aus, so dass das Abbildmodell lediglich an einem anderen Ort wiederhergestellt (und „re-präsent-iert“) wird. Der Rahmen dieser Arbeit zeigt hervorragende Beispiele für die historischen diskursanalytischen Forschungen zum Kolonialdiskurs Deutsch-Südwestafrikas von Noyes (1992), Rash (2016) und Warnke (2009). Dass das Modell äußerst wirkungsvoll gewesen ist, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es als Grundprinzip die kritische Distanz zum ideologischen Diskurs voraussetzt (Jameson 1992: 48).

Dieses grundlegende Modell ist überall in den Geisteswissenschaften wirksam, die sich in ähnlicher Weise etwas abgerückt vom gesellschaftlichen Alltag befinden, aber gleichzeitig ihre Fähigkeit, den Gang der Welt zu beeinflussen, häufig überschätzen. Es ist dringend notwendig, das Wort wieder in die Welt zu setzen und das trennende Prinzip „Ab-bild“ zu beseitigen. Im Grunde scheint es so zu sein, dass das synchrone Modell der Diskursanalyse, das oft bei der kontextualisierenden Analyse literarischer Werke verwendet wird, historisch-hermeneutische Ansätze verfestigt, ohne die zugrunde liegenden strukturellen Probleme der Distanz und der Repräsentation zu lösen. Die vorherrschende Stellung des Historismus beruht auf einer Abkapselung von Beziehungen zur Gegenwart – auf Kosten der möglichen Relevanz der Geisteswissenschaften für die Gesellschaft, die ihre Aufgaben in Auftrag gibt.

Es geht hier keineswegs darum, die kritische Diskursanalyse bzw. die diskursanalytisch gestützte Gesellschaftskritik der letzten Jahrzehnte über Bord zu werfen. In der gegenwärtigen Situation, in der der „‚Ausnahmezustand‘, in dem leben, die Regel ist“ wie es bei Benjamin (1991, V.2: 697) heißt, ist eine Kritik gegenüber der immer weiter fortschreitenden Verklärung der herrschenden Macht- und Ausbeutungsstrukturen dringend notwendig, ja notwendiger denn je (siehe zum Beispiel Butler 2009: 63–100). In Zeiten des fortschreitenden Populismus, mitsamt seiner Verbreitung von diskriminierenden Einstellungen durch die Beherrschung der Massenmedien, ist die sogenannte „Critical Discourse Analysis“ (vgl. Wodak et al. 2009) eine unabdingbare Strategie gegen einen schleichenden Neofaschismus mit globalen Auswirkungen. In Zeiten von „fake news“ und „alternative facts“ kann auf diskursanalytische Ideologiekritik nicht verzichtet werden. Trotz ihrer dringenden Notwendigkeit beruht diese Kritik aber weiterhin auf skeptischer Distanz, auf nüchternem Abstand, wie Brecht es verlangte. Daher handelt sich bei dieser Arbeit um einen Versuch, einen Dialog zwischen der kritischen Diskursanalyse und einem literaturwissenschaftlichen Ansatz zu ermöglichen, der einen starken Bezug zum gegenwärtigen Kontext herstellt und durch andere auf Nähe und „Proximität“ beruhende Bezugsmodi (vgl. West-Pavlov 2018a) eine kritische Distanz untermauert.

Um diesem Problem auf den Grund zu gehen und zu einer möglichen Lösung zu gelangen, ist es lohnenswert, einen kurzen Blick auf einen der wichtigsten Vorreiter des Modells der kritischen Geisteswissenschaften zu werfen: Brecht. Im Zentrum der Brecht’schen Ästhetik steht ein Prinzip der Distanz als Motor des „Verfremdungseffekts“. Von besonderer Tragweite für diese Studie ist die Tatsache, dass Brecht „Fremdheit und […] Abstand“ (Brecht 1976, II.2: 487) nicht nur synchron versteht, d.h. als fundamentalen Bestandteil des theatralischen Ereignisses und als strukturierendes Element des theatralischen Raumes, sondern dass er diesen Abstand diachron betrachtete, d.h. als zeitliche Fremdheit, etwa nach dem berühmten Muster des englischen Schriftsellers L.P. Hartley („The past is a foreign country“) (2015: 5). So heißt es bei Brecht:

Der Schauspieler muß die Vorgänge als historische Vorgänge spielen. Historische Vorgänge sind einmalige, vorübergehende, mit bestimmten Epochen verbundene Vorgänge. Das Verhalten der Personen in ihnen ist nicht ein schlechthin menschliches, unwandelbares, es hat bestimmte Besonderheiten, es hat durch den Gang der Geschichte Überholtes und Überholbares und ist der Kritik vom Standpunkt der jeweiligen darauffolgenden Epoche aus unterworfen. Die ständige Entwicklung entfremdet uns das Verhalten der vor uns Geborenen.

Der Schauspieler nun hat diesen Abstand zu den Ereignissen und Verhaltensweisen, den der Historiker nimmt, zu den Ereignissen und Verhaltensweisen der Jetztzeit zu nehmen. Er hat uns diese Vorgänge und Personen zu verfremden. (Brecht 1976, XV.1: 347)

Dieses „Technikum […] der Historisierung“ (ebd.; Hervorhebung RWP) ist ein, vielleicht sogar der zentrale Bestandteil der dialektischen Verstehensweise der Geschichte bei Brecht und entspricht passgenau, wie der Ausdruck „der Jetztzeit“ es verrät, dem Standpunkt des eng mit Brecht befreundeten Benjamin.

Bei Benjamin gewährt nicht die lineare, „additive“ Kontinuität des bürgerlichen Geschichtsbegriffs mit ihrer „leeren, homogene[n] Zeit“ (Benjamin 1991, I.2: 702) die Verbindungen zwischen den Epochen, sondern es sind die Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen den Ständen und Klassen und daher die Brüche der Geschichte, die deren Kontinuitäten ausmachen. Die Gefahr, die hier lauert, ist paradoxerweise die, dass sich solche Brüche wieder für die Zwecke eines bürgerlichen, kooptierten Prinzips der geschichtlichen Nicht-Kontinuität zweckentfremden lassen. Der logische Schluss der „additiven“, linearen Geschichtsschreibung ist nicht nur die „Homogenität“, sondern auch das segmentierte Nacheinander der Ereignisse. Die Ereignisse werden wie Perlen an einer Kette konzeptualisiert, so dass sie ohne Problem als grundlegend voneinander getrennt betrachtet werden können. Die Vergangenheit ist nach diesem Muster endgültig vergangen und hat, je nach Auslegungsbedürfnis, entweder einen rein monokausalen Einfluss auf die Gegenwart; oder, bei Bedarf, einen nur sehr bedingten Einfluss; oder, vor allem, wenn es um moralische Verantwortung geht, keinerlei Verbindung zur Gegenwart. Hier kippt die von Brecht gepriesene Fremdheit der Vergangenheit in eine moralisch befreiende Abgeriegeltheit der Vergangenheit, mit der verhängnisvollen Devise, nicht wir, sondern vergangene Generationen trügen die moralische Last der Vergangenheit. Laut dieser Auffassung von Zeit ist die Geschichte eine Einbahnstraße mit vielen Schleusen, die keinerlei rückwärtsläufige Strömungen erlauben. So einfach ist die Temporalität in ihrer materiellen Manifestation aber nicht. Die jüngsten Ergebnisse der Genetik etwa beweisen im Gegenteil, dass Eltern auch von ihren Kindern DNA-Elemente sozusagen „in verkehrter Richtung“ „erben“ können; andere lebenswichtige DNA-Elemente werden „seitwärts“ oder „horizontal“ vererbt (Zimmer 2018). Auf dieser biochemischen Grundlage, deren wirkungsgeschichtliche Verbindungslinien durchaus Artengrenzen überspringen können, könnte man einen Geschichtsbegriff entwerfen, der netzwerkartig und multivektorial funktionierte. Daraus könnte man so etwas wie eine „queer history“ ableiten, die zulässt, dass die Geschichtsschreibung von einem „queer desire for history“ (Dinshaw in Dinshaw et al. 2007: 178) aus der Gegenwart herausgetrieben werden kann. So wird auch die „affektive Geschichte“ Agnews verstanden, die geschichtsinteressierte Personen dazu bewegt, beispielsweise an „re-enactments“ teilzunehmen (Agnew 2007). Der affektive, gefühls- bzw. begehrensbeladene Bezug zur Vergangenheit kann, unter Berücksichtigung des in dieser Studie zur Geltung kommenden erweiterten Affektbegriffs, nicht nur als Emotion, sondern auch als multivektorialer Geschichtseinfluss verstanden werden. Ähnlich verhält es sich bezüglich des Begriffs der „postmemory“ Marianne Hirschs (1992), in dem das Geschichtsgedächtnis immer wieder von Generation zu Generation umgebildet wird.

 

So entsteht ein Geschichtsbegriff, dessen Medien nicht mehr allein die Zeit und die archivbezogenen Transmissionen von Texten sind, sondern aus rekursiven Verbindungslinien bestehen, die multivektorial verlaufen und verschiedene handlungswirksame Informationen tragen. Deshalb ist es bezeichnend, dass in Brechts Auffassung der Geschichtsdramatik die Distanz nicht ganz inkompatibel mit Synergien und Energien ist. Das, was Brecht aus der Warte des Abstands und der Fremdheit mit Hilfe des „Verfremdungseffekts“ entstehen lässt, fungiert als Intervention in einem Bereich, der vielmehr mit Verbindungen, Proximität und Nähe zu tun hat:

Die entscheidenden Vorgänge zwischen den Menschen, welche eine Dramatik der großen Stoffe heute darzustellen hätten, finden in riesigen Kollektiven statt und sind vom Blickpunkt eines einzelnen Menschen aus nicht mehr darzustellen. Der einzelne Mensch unterliegt einer äußerst verwickelten Kausalität und kann Meister seines Schicksals nur als Mitglied eines riesigen und notgedrungen in sich selbst widerspruchsvollen Kollektivs werden. Er registriert nur schwache, dämmrige Eindrücke von der Kausalität, die über ihn verhängt ist. Mit ihm als Mentor erkennt das Publikum, in ihn sich einlebend, erlebt das Publikum nur wenig. Ja, er vermag nicht einmal mehr sich selber zu erkennen oder „auszufühlen“, wenn er nur seinen eigenen Nabel betrachtet, nur subjektiv reagiert. (Brecht 1976, XV.1: 274)

An dieser Stelle tritt bei Brecht, einmal abgesehen von seiner Fixierung auf ausschließlich menschliche „Kollektive“, etwas zum Vorschein, das sehr den netzwerkartigen Kausalitätsstrukturen solcher oben beschriebenen Synergien und Energien ähnelt. Hier wird aufgrund der riesigen Netzwerke von Verbindungslinien und Einflussachsen, die die lebendige, dynamische Welt ausmachen, das Individuum in den Schatten gestellt. Somit kommt das Gefühl als Modus der Selbsterkennung kaum zur Geltung. Mit Recht wird das „Gefühl“ als Basis der „Einfühlung“ bzw. „Ausfühlung“ von Brecht gänzlich von der Bühne und aus dem Zuschauersaal verbannt. Hier erkennt man eine frappante Verwandtschaft mit dem „Einfühlungsverbot“, das als ästhetisches Leitprinzips des Timm’schen Romans Morenga fungiert (Hamann / Timm 2003). Der Vergleich ist bezeichnend; auch bei Brecht jedoch lässt sich so etwas wie ein Gefühl beim Zuschauer ausmachen: „Der Zuschauer befindet sich […] verstandes- und gefühlsmäßig im Widerspruch“ (Brecht 1976, XV.1: 275; Hervorhebung RWP). Daher kommen anstelle von „Gefühlen“ eventuell lokale, konkrete „Eindrücke von der Kausalität“, die nicht so sehr kognitiv als vielmehr konkret-physisch registriert werden. Das sind die „Affekte“ im Sinne Spinozas: physische Kausalverbindungen, die einen Effekt haben und als Affekt wahrgenommen werden. Darauf wird weiter unten näher eingegangen.

In Anbetracht der Wendung hin zu Verbindungslinien quer durch die Geschichte bis in die Gegenwart, die auch die Zuschauer*innen in solchen Netzwerken einbinden, ist es sinnvoll, noch einmal die Auswege aus einer Ästhetik der kritischen Distanz und des skeptischen Abstands kurz Revue passieren zu lassen.

Zwei Alternativen bieten sich an: Die erste bildet einen unverhohlenen „Präsentismus“ (Grady / Hawkes 2007), der davon ausgeht, dass alle Geschichtsschreibung eigentlich eine „Geschichte der Gegenwart“ beinhaltet. Eine wichtige Variante dieses „Präsentismus“ bilden, wie soeben angemerkt, die „affective histories“, welche untersuchen, wie bestimmte historiografische Praktiken wie z.B. „re-enactments“ die körperlichen und emotionalen Ressourcen der Teilnehmer*innen bzw. Historiker*innen aufgreifen, um die Vergangenheit in der Gegenwart wieder lebendig werden zu lassen (vgl. Agnew 2007). Solche Forschungen sind faszinierend, neigen jedoch dazu, den Begriff des „Präsentismus“ in Randbereiche wie die der „re-enactments“ zu verbannen.

Trotzdem bietet diese Art des „Präsentismus“ eine zweite Alternative: Sie eröffnet Möglichkeiten, soziale Verbindungen, Synergien und Energien zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu entfalten, die gewöhnlich abgekapselt oder ignoriert werden. In diesem Sinne bilden sich andere, weniger eng eingekreiste Ansätze zur Erforschung der mannigfaltigen Bezüge zwischen Zeitlichkeit und Affektivität (z.B. Angerer / Bösel / Ott, Hg. 2014) mit einem flexiblen Begriff des „Affekts“, der einerseits die Emotionen der Subjekte ins Visier nimmt, um zu verstehen, wie und warum die Geschichte in den Augen des historischen Betrachters erscheint, und um andererseits die Gesamtheit der sowohl historisch wie augenblicklich wirksamen Verbindungslinien zwischen verschiedenartigen Akteuren zu beschreiben.

Hier fließen die beiden Alternativen in eine tragfähige Theorie zusammen, die imstande ist, einen Ausweg aus einer ausschließlich auf Distanz beruhenden Kritik zu zeigen. Solch eine Theorie der historischen Konnektivität bietet den Literaturwissenschaften ein Repertoire an differenzierten Konzepten der historischen Konnektivität, die imstande wäre, historische Ereignisse bzw. deren gegenwärtiges Erbe sowie ihre textuellen Darstellungen bis in Gegenwartsdiskurse miteinander in Verbindungen zu bringen, und zwar anhand einer Verwendung von affektiven Strategien bzw. Technologien. In diesem Sinne wird im Folgenden eine Art literarische Affekttheorie erläutert und beispielhaft in Gang gebracht, ohne dass Elemente der Kritik völlig unberücksichtigt blieben.

2.4.5 Affekttheorie

Seyfrieds Roman Herero ist durch eine Vielzahl langer Textstellen gekennzeichnet, die sehr ausführlich technische Geräte bzw. Waffen, Orte, Landschaften und dergleichen beschreiben. Die Beschreibungsmanie des Romans ist von manchen Kritikern als „Beschreibungs-Overkill“ beurteilt worden (Hielscher 2005: 200). Dieser Auffassung zufolge stellen solche Beschreibungen einen Versuch dar, dem Text als realistische Dokumentation der vergangenen Zeit absolute Legitimität zu verleihen. Demnach bilden die mannigfaltigen Details metaphorische Zeichen, die auf etwas krampfhafte Weise ein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen vergangener Realität und gegenwärtiger fiktionaler Abbildung herstellen sollen. Ikobwa (2013: 115) spricht (vielleicht versehentlich, jedoch durchaus treffend) von einem „Beglaubigungs-Overkill“ des Seyfried’schen Texts. Bezeichnend ist jedoch, dass solche Methoden der literarischen Darstellung nicht auf metaphorischen Signifikant-Signifikat-Beziehungen beruhen, sondern, wie Jakobson es in seinen Ausführungen zur Rolle der Metapher bzw. Metonymie in der Literatur (Jakobson / Halle 1956: 78) anhand von Textstellen aus den Werken Tolstois (genauer: zur Handtasche der Protagonistin in Anna Karenina und den Lippenhaaren und Schultern einiger weiblicher Figuren in Krieg und Frieden) zeigt, auf metonymischen Beziehungen basieren. Dieser „effet de réel“ (Barthes 1968) entsteht aus einer Fülle an Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen, die sie umgeben. Nicht eine monoaxiale Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, sondern multiaxiale Beziehungen zwischen Signifikanten, oder besser: zwischen Signifikaten unter sich und ihren jeweiligen Signifikanten, machen die Welt aus:

Seltsame Bezeichnungen gibt es in diesem Land! Er lauschet den Namen nach, den klingenden, fremdartigen Bezeichnungen des zentralen Herero- oder Damara-Landes, die zumeist mit O beginnen: Otjimbingwe, Otjiwarongo; melodische Namen, ein Genuß, sie auszusprechen: Otschi-wa-rongo. Es gibt auch reichlich Zungenbrecher wie Okahoamosondjupa oder Owikangowiagandjira. Weiter südlich im Namaqualand gibt es Namen, deren Herkunft oder Bedeutung ihm ganz rätselhaft ist: Aredariegas, Tsaobis. Klein-Onanis. Nachas, Tinkas. (Seyfried 2003: 8)

Namen, Orte und Dinge bilden unter sich, wie Latour (2004: 223–4) gezeigt hat, eine Art Gemeinschaft, deren Wirkung bereits im mittelhochdeutschen „dinc“ und im althochdeutschen „thing“, d.h. Gerichtsversammlung bzw. Parlament, enthalten ist. Von diesem Standpunkt aus erscheint Seyfrieds Roman als nicht ganz gelungener Realismus, dessen technische „Detailbesessenheit“ (Attikpoé 2006: 94) dazu dienen soll, die Modernität des Kolonialismus und seine ethnische Überlegenheit hervorzuheben – so werden z.B. Ettmanns Karten als „auf dem neusten Stand“ beschrieben (Seyfried 2003: 35) – und dadurch die „obszöne Unterseite“ des kolonialen Unternehmens zu selben Zeit zu verdecken und zu legitimieren. Im Roman erscheint dank dieses Beschreibungswahns eine Welt, in der die Dinge überhandnehmen und eine solche Dichte und Substanz erreichen, dass sie eine eigene Existenz und sogar Wirkung erlangen:

Die Wand fasziniert sie: da hängt rund ums Kruzifix ein Sammelsurium von Dingen, mit Nadeln angesteckt oder an Nägeln angebunden: getrocknete Blätter, Knöpfe, ein Handschuh, dem zwei Finger fehlen, ein Eichenblatt aus getriebenem Silber. Dazwischen hängen Papierstücke, das Etikett eines Tintenfasses und ein Billet der alten Mainzer Pferdebahn. (Ebd.: 269)

So kann man behaupten, dass Seyfrieds Herero ganz unbeabsichtigt innerhalb seines eigenen ästhetischen Projekts einen Übergang von einem Universum der menschlichen Weltbeherrschung durch Technikbeschreibung und Beschreibungstechnik zu einem Raum der geteilten menschlichen und nicht-menschlichen Wirkungsfähigkeit vollzieht:

Das Bild des dargestellten Geländes entsteht ganz plastisch vor seinem geistigen Auge […]. Höhenlinien, Schraffuren oder Farbtöne formen sich für ihn zu Hängen, Hügeln, Tälern und Schluchten. Aus Signaturen der Bodenbewachsung und aus den Vegetationszeichen wachsen ihm Wälder, Buschgruppen, Sümpfe und Steppe, Weideland und Karst, gangbares und unwegsames Gelände (ebd.: 7).

In diesem Raum sind Menschen und Dinge nicht mehr durch instrumentale Beziehungen verbunden, sondern multipolare und komplexe kausale Verhältnisse bestimmen die Handlungsmöglichkeiten und -abläufe der Fiktion. Eine solche Transformation untergräbt stillschweigend das Projekt des Seyfried’schen Romans.

Anstatt eines polarisierten und hierarchisch geordneten Gesellschaftsmodells mit (weißen) Menschen und ihrer modernen Technik auf der einen Seite und den Eingeborenen und der Natur auf der anderen, entsteht im Rahmen von Seyfrieds Ästhetik unfreiwillig ein alternatives Modell dicht verflochtener Konnektivität, das nicht als „Erzähltes“ nach dem Muster des Realismus dargestellt wird, sondern unsichtbar, aber trotzdem massiv präsent in Seyfrieds eigener Schreibtechnik, d.h. in der Erzählung selbst immanent vorgeführt wird.

Beispiele für nicht beschriebene, sondern direkt im Text „performativ“ vorgeführte Affekte tauchen an den unwahrscheinlichsten Stellen auf, wie im folgenden Zitat:

Carl Ettmann glättet mit der linken Hand das Blatt […]. […] Carl Ettmann ist nicht nur Kartenzeichner, sondern auch Kartenliebhaber, ein ‚Gourmet des Cartes‘, wie es ein Kollege einmal ausgedrückt hat. […] Seine Hand streift über das Papier, der Wanderung der Augen folgend (ebd.: 7–8).

Solche Symptome des Affekts unterlaufen subtil die an vielen anderen Stellen explizit angegebenen Zeichen der Gleichgültigkeit: „‚Naja‘, er zuckt die Achseln, […] Geschehen ist geschehen, und ein grausamer Krieg wäre es auch dann geworden‘“ (ebd.: 565).

 

Was bei solchen affekt-symptomatischen Textstellen auf dem Spiel steht, ist die Verbindung zwischen den Dingen, zwischen den Wesen und die Art und Weise, wie diese Verbindung die Dinge ändert bzw. transformiert. Auffällig am Text ist die stetige Arbeit, die von der Erzählung aufgebracht werden muss, um die Markierung der Wirklichkeit im Register des empirischen Realismus (Karten, Fotografien, Zeichnungen) in der verbalen Erzählung aufrechtzuerhalten. Jeglicher paratextuelle Einschub wird durch einen metatextuellen Begleittext vorbereitet:

Vor einer der Kugelhütten wärmen sich drei Hererofrauen in ihren langen, bunten Gewändern. Es ist ein schön gebauter Pontok, mit einem Kranz aus Riedbinsen rundherum […]. Lutter und Schwarz tragen Cecilie den Tisch herbei und stellen einen Schemel darauf. Auf dieses Behelfsstativ kommt die Kodak. So kann sie die Pontoks aus normaler Augenhöhe photographieren. Die Frauen wollen flüchten, aber Schwarz überredet sie, sitzenzubleiben. (Ebd.: 268–9)

Mitten im Wort „norma-/ler“ wird durch einen Silben- bzw. Seitenumbruch eine schriftsatztechnisch oft als unschön empfundene Unterbrechung erzeugt. An dieser Stelle wird das Foto, dessen Inhalt und Aufnahmeverfahren soeben beschrieben wird, eingeschoben. Weniger bedeutend als die Mikro-Darstellung bzw. -Performanz des ethno-fotografischen Blicks (vgl. Krech 1989; Wiener 1990) ist an dieser Stelle die Performanz der Konnektivität zwischen den vielfältigen Instanzen der Episode. Die Beschreibung des Fotos und seine Entstehungsgeschichte umklammern das Foto und dienen nicht nur als Einrahmung, sondern gar als Einfassung bzw. Halterung. Sichtbar wird an dieser Stelle eine sonst unsichtbare „Naht“, die die Erzählung an der Wirklichkeit festbinden soll. Es handelt sich hier fast um eine „suture“ (Nahtstelle) im Lacan’schen Sinne des Begriffs (Miller 1966), die psychische Strukturen und weltliche Erlebnisse miteinander verbindet. Noch wichtiger ist jedoch die ganz einfache Funktion, die in solchen Kontexten immer wieder performativ aufgeführt wird: Die Verbindung zwischen den Dingen wird im Text selbst herbeigeführt, just in dem Augenblick, wo sie aneinanderrücken. Somit werden beide transformiert: Der Text erlangt eine erhöhte „Authentizität“ durch die Untermauerung des Bildes; das Bild dagegen wird aus dem bewegungslosen, statischen Zustand herausgeholt und erhält eine narrative Dynamik und Tiefe. Die erzählerische Geschichte gewinnt an zeitgenössischer Substanz. Der reglose Schnappschuss aus der Vergangenheit wird wieder lebendig. Es entsteht somit eine belebte bzw. erlebte Geschichte, die durch einen „affektiven“ Bezug zur Vergangenheit gekennzeichnet ist (Agnew 2007). Während sich der Text als Performatives immer wieder an die Vergangenheit anschmiegen will, schließt er als Denotatives explizit mit einer Abkehr von Afrika: „In Gottes Namen! Gehen wir!“, heißt es in der letzten Zeile des Romans (Seyfried 2003: 588). An solchen Stellen kommen multidirektional transformative Verbindungsmodi – oder eben auch deren Umkehrung ins Negative – zum Vorschein, die in der vorliegenden Studie unter dem Begriff des „Affekts“ zusammengefasst werden.

Die vorangegangenen Überlegungen ermöglichen es, eine Typologie von Verbindungsmodi zu erstellen, die die Spannbreite zwischen den Polen der gesellschaftlichen „Kälte“ (Adorno 1971: 100–2) bzw. der globalen „Gleichgültigkeit“ (Neumann 2017), dem synchronen Pendant zu der vom Historismus konstruierten geschichtlichen Distanz, und der „Konnektivität“, welche am besten in der Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität verkörpert wird, die mitten in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 entstand [Bade 2016: 73, 76], darstellen. Das sind die gesellschaftlichen Facetten der Theorie affektiver Konnektivitäten, die dieser Studie zugrunde liegt und im Folgenden systematisch dargelegt werden soll, um die Verwendbarkeit für die literaturwissenschaftliche Textanalyse herauszuarbeiten.

Im Rahmen dieses Gesamtkonzepts wird ein erweiterter Affektbegriff entwickelt und erprobt, den es nun näher zu erläutern gilt. Im Folgenden werden drei „Stufen“ der Verwendung des Begriffs „Affekt“ identifiziert, die im Laufe der kultur- bzw. literaturwissenschaftlichen Textanalysen an verschiedenen Stellen zum Tragen kommen werden. Zunächst sollen sie schematisch benannt werden, um ein konzeptuelles Gerüst für die anschließende Detaildarstellung zu schaffen:

Affekt I: Der Affekt wird gewöhnlich als Emotion oder Gefühl eines Individuums betrachtet und steht meistens im Gegensatz zur Rationalität, obwohl die neueren Emotionstheorien den Affekt als wichtige Ergänzung zu rein rational geleiteten Entscheidungsprozessen sehen (Damasio 1994, 2003). Diese Betrachtungsweise kann man als Affekt I bezeichnen. Neuere Ansätze stellen die Emotionen oder Gefühle in den Kontext der Körperlichkeit und verstehen die Affekte als physische Regungen, die oft an vorbewusste Vorgänge anknüpfen.

Affekt II: Da die Affekte auch aus Bereichen der Subjektivität stammen, die der Ausdifferenzierung des individuellen Bewusstseins und der Persönlichkeit vorangehen, sind die Affekte keine Attribute eines Einzelnen, sondern können transindividuell wirken, sogar über Artengrenzen springen. Diese Auslegung des Affekts kann man als Affekt II bezeichnen.

Affekt III: Der Hinweis auf Artengrenzen überschreitende Affekte bedeutet eine fundamentale Brechung des Affektbegriffs. Er beschreibt nicht mehr ein Gefühl, sondern ein physisches Kommunikationsmedium, das zugleich einen wirkungsvollen Auslöser von Effekten und daher Transformationen darstellt. Affekt aus dieser Warte betrachtet ist nicht nur eine Information, die entlang bestimmter physischer Kanäle fließt, sondern das, was dem Kontakt zugrunde liegt und ihn herstellt und somit die in Verbindung gesetzten Wesen gegenseitig verändert. Der Affekt hat / ist (ein) Effekt. Affekt bedeutet Information und Veränderung zugleich. Der Affekt wirkt sowohl synchron, auf allen Ebenen und in allen Bereichen des Lebens (auch nicht-menschlichen), wie auch diachron, quer durch die Geschichte. Somit rückt ein netzwerkartiges „Meshwork“ (Ingold 2011) an Verbindungslinien abgeleiteter und gegenseitig übertragener Mit-Handlungsfähigkeiten (dispersed and devolved co-agency) in das Blickfeld, die das Wesen der Geschichte als Wirkung, d.h. die Geschichte als Geschichte des Lebens bildet. Diesen erweiterten Affektbegriff kann man als Affekt III bezeichnen.

Der in der vorliegenden Studie erprobte „erweiterte Affektbegriff“ wird mit Sicherheit in bestimmten theoretischen Kreisen auf Skepsis stoßen, nicht zuletzt, weil die hier hervorgehobene Idee der Konnektivität schwer mit dem herrschenden Prinzip der konzeptuellen Diskonnektivität zu vereinbaren ist. Ein Grundmuster des westlich-europäischen Denkens ist die Analyse: Die Operation, die eine Größe in ihre Einzelteile zerlegt, um sie anschließend wieder als ein Ganzes zusammenzusetzen. In der Analyse ist die Auflösung die Voraussetzung für die Lösung. Diesem Muster liegt die Annahme zugrunde, die Teile können voneinander getrennt werden, ohne dass sie als solche verschwinden oder zerstört werden. Unversehrt könnten sie danach wieder zusammengeführt werden. Mit anderen Worten: Die Einzelteile erhalten konzeptuell eine eigene Existenz, die durch die Analyse sichtbar wird. Auch wenn das Ganze wieder zusammengebracht wird, bewahren die Einzelteile konzeptuell ihre diskrete Existenz. Dieses Grundmuster unterscheidet sich grundlegend von Denkmustern des Globalen Südens, zum Beispiel vom chinesischen System der Binärpaare, die nur dank ihres Gegenpartes existieren und nicht getrennt voneinander gedacht werden können (Jullien 2014: 44–53). Auch physisch gesehen lässt sich das Trennungsmuster kaum halten: Die Einzelteile sind Funktionsbündel, die nur in Zusammenhang mit anderen Funktionsbündeln ihre Funktionen ausüben können; ohne ihre Nachbarn verschwinden sie daher als solche und entstehen nicht zwangsläufig wieder, sobald sie wieder zusammengeführt werden, da die ganze Umwelt im Zuge der Abtrennung nun anders strukturiert ist (vgl. Canguilhem 1972: 137). Das Grundprinzip der Analyse ist daher die Trennung, die als konzeptueller Ausgangspunkt angenommen wird und aus diesem Grund eine gewisse konzeptuelle „basale Realität“ erlangt. Eine Begriffsbestimmung beruht auf genau dieser Annahme der trennscharfen Begriffsunterscheidung. Problematisch aber wird es mit einem Begriff wie „Affekt“, der als solcher nur schwer dekliniert werden kann, ohne dass die grundlegende Konnektivität, die er beschreibt, in der Analyse selbst verleugnet wird. Deshalb wird der Begriff des „Affekts“ mancherorts mit Skepsis betrachtet. Er beschreibt und führt tendenziell etwas vor, was der Operation der Analyse grundsätzlich zuwiderläuft: