Read the book: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 384»
Impressum
© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-792-1
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Roy Palmer
Entscheidung bei Morgengrauen
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
1.
Als das Heulen des Windes zunahm, die Rahen stöhnten und ächzten und die Dreimastgaleone „Almeria“ in den wogenden Fluten zu tanzen begann, setzte bei dem zehnjährigen Pablito und seiner drei Jahre älteren Schwester Sabina wieder das Zittern ein. Sie kämpften dagegen an, aber die Angst war stärker als jegliche Selbstkontrolle und Disziplin. Sie bebten am ganzen Leib und klammerten sich aneinander fest.
Es war nicht der erste Sturm, den sie wie die anderen Passagiere der spanischen Galeone erlebten. Zweimal hatten die Urgewalten der Natur zugeschlagen, als die „Almeria“ mit der „San Sebastian“ – ebenfalls einer Dreimastgaleone – von Cadiz aus den Atlantik überquerte. Beide Male waren Sabina und Pablito vor Panik und Grauen fast gestorben.
Da nutzte es ihnen auch nichts, daß ihr Vater, der Schmiedemeister Ramón Vega Venteja, sie schützend in seine Arme nahm und ihnen beschwichtigend zuredete. Grenzenlos war ihre Angst. Sie glaubten, dieser dritte Sturm, der sie in der Windward Passage zwischen Kuba und Hispaniola traf, bedeute ihr sicheres Ende.
„Mama!“ klagte Pablito. „Mamita, warum bist du nicht bei uns?“
„Sei ganz ruhig“, sagte sein Vater. Aber auch um seine Mundwinkel spielte ein tief trauriger, bitterer Zug. Vor zwei Jahren war seine Frau gestorben. Seither hatte er es nicht leicht gehabt, seine Kinder zu ernähren und zu versorgen. Aufopfernd hatte er sich um sie bemüht und versucht, es ihnen an nichts mangeln zu lassen.
Aber die Zeiten wurden immer schwerer. Bald, so hatte Ramón Vega Venteja gewußt, würden sie am Hungertuch nagen, denn auch seine Arbeit war nicht mehr so gefragt wie früher. So kam das Angebot der Casa de Contratación, das spanische Mutterland zu verlassen und in die Neue Welt überzusiedeln, wie gerufen. Drüben, so hieß es, brauche man viele gute Handwerker, die bei der Besiedlung des Landes mithelfen sollten. Ein guter Lohn winkte, mehr als daheim in Spanien. So hatte Ramón wie viele andere zugegriffen und alles aufgegeben, um ein neues Leben zu beginnen. Und selbstverständlich hatte er seine beiden Kinder mitgenommen.
Doch nicht alles, was glänzt, ist auch wirklich Gold. Der Vertreter der Casa, der ihn angesprochen und von dem Unternehmen überzeugt hatte, hatte in vielen Dingen übertrieben. So befanden sich nicht nur „ein paar“ Passagiere an Bord, sondern die Frachträume waren vollgestopft mit dieser menschlichen Ladung, mit Männern, Frauen und Kindern. Dabei handelte es sich nicht nur um „ordentliche Leute“, wie es geheißen hatte, sondern teilweise um die übelsten Huren und Galgenstricke.
Da war zum Beispiel diese Marcela Buarcos. Als Ramón in Cadiz mit seinen Kindern an Bord der „Almeria“ gegangen und ihnen ihr Platz zugewiesen worden war, hatte ihm ein einziger Blick genügt, um diese Frau zu taxieren. Sie war ein ausgekochtes Luder, durchtrieben und skrupellos. Während der Überfahrt hatte sie sich schon mit vielen Kerlen eingelassen – schamlos und fast ohne jegliche Rücksicht auf die anderen Mitreisenden. Sie lockte jedem, der auf ein flüchtiges Liebesabenteuer aus war, das letzte Geld aus der Tasche.
Auch bei Ramón hatte sie es versucht. Es kümmerte sie nicht, daß Sabina und der kleine Pablito dabei waren. Jetzt, im Heranorgeln des Sturmes, arbeitete sie sich wieder heran. Wie zufällig verlor sie ihren Halt und prallte auf den schwankenden Planken mit Ramón zusammen.
„Es geht wieder los“, sagte sie mit ihrer rauhen, etwas kehlig klingenden Stimme. „Hast du eigentlich überhaupt keine Angst, mein Freund?“ fragte sie ihn und drängte sich provozierend gegen ihn.
Er rückte etwas von ihr ab.
„Nicht mehr als du“, erwiderte er.
„Du scheinst eine Menge Mumm in den Knochen zu haben.“
„Nicht mehr als jeder andere Mann“, sagte er.
Die Öllampen und Talglichter waren wegen der hohen Brandgefahr gelöscht worden. Es war stockfinster, und das Rauschen des Wassers an den Bordwänden, das Jaulen des Sturmwindes und das Knarren der Verbände klangen unheimlich. Ramón konnte weder seine Kinder noch die Frau sehen, doch er spürte, wie sie nach ihm griff.
Er schob sie von sich fort und zog seine Kinder dichter zu sich heran. Sie schmiegten sich zitternd an ihn. Pablito hatte leise zu weinen begonnen.
„Narr“, sagte Marcela. „Du weißt ja nicht, was du verschenkst.“ Sie war ihm immer noch sehr nah. „Warum läßt du es uns nicht tun? Keiner sieht es in der Dunkelheit. Anschließend passe ich auf deine Kinder auf.“ Sie lachte leise und verächtlich. „Du suchst doch eine Ersatzmutter für sie, oder?“
„Verschwinde!“ sagte Ramón. „Ich erlaube dir nicht, so zu reden. Noch ein Wort, und du kriegst eine Ohrfeige von mir.“
Sie kroch weiter, zischte dabei aber noch: „Elender Bastard! Das wirst du noch bereuen.“
Kinder hatten zu jammern begonnen, auch ein paar Frauen weinten und stöhnten vor Furcht. Die Männer fluchten. Ramón murmelte besänftigende Worte für seinen Sohn und seine Tochter. Mehr Sorgen als der Sturm bereitete ihm die Stimmung an Bord. Wieder schweres Wetter – und das Murren und Fluchen nahm zu. Die Unzufriedenheit konnte zur offenen Meuterei führen.
Juan Alentejo, der Kapitän der „Almeria“, würde es nicht leicht haben, die aufkeimenden Aggressionen zu dämpfen, wenn die Reise länger, als ursprünglich vorgesehen, dauerte. Mußte er in einen Nothafen verholen, damit das Schiff im Sturm nicht sank oder auf gefährliche Riffs getrieben wurde, bestand die Möglichkeit, daß die Galgenstricke unter den Passagieren die Gelegenheit ergriffen, das Kommando an sich zu reißen.
Was aber geschah, war die Entscheidung des Kapitäns Gomez Rascón an Bord der „San Sebastian“. Er hatte den Oberbefehl über beide Galeonen und trug damit die volle Verantwortung. Das Schicksal der Schiffe und ihrer Menschen lag in seinen Händen.
Während er mit seinen Kindern betete, daß das Wetter bald wieder nachlassen möge, versuchte Ramón Vega Venteja sich vorzustellen, wie Gomez Rascón zumute war. Er hätte nicht in seiner Haut stecken mögen.
Kapitän Gomez Rascón hatte die Logbucheintragungen soeben abgeschlossen und verstaute Buch, Federkiel und Tintenfäßchen in seinem Pult, ehe sie durch die Schlingerbewegungen abgeräumt werden konnten. Man schrieb den 27. April 1594, es ging auf Mitternacht zu. Rascón war nicht sicher, ob er den 28. April erleben würde, wenn er es sich in den Kopf setzte, den Sturm abzureiten.
Deshalb rief er Solares, seinen Ersten Offizier, und den Steuermann Elcevira zu sich. Sie hielten eine kurze Besprechung ab, in der sie die Situation erörterten und Möglichkeiten abwägten, wie sie sich am besten verhalten sollten.
Denn es war ein Sturm, der es in sich hatte: Vom Atlantik her fegte er westwärts in die Karibik und peitschte die See mit ungezügelter Macht. Die Handels-Galeonen „San Sebastian“ und „Almeria“ wurden von dem Toben der Urgewalten voll erfaßt, es gab kein Entweichen, obwohl sie bereits in der Windward Passage standen.
Ihr Zielhafen war Santiago de Cuba. Vor zwei Monaten waren sie in Cadiz in See gegangen, und es war alles andere als eine leichte, problemlose Überfahrt gewesen. Die Stürme hatten Menschenopfer gefordert, auch das Fieber hatte in drei Fällen zugeschlagen. Zwei Kinder und eine Frau hatten ihr Leben lassen müssen. Alle waren mit seemännischen Ehren bestattet worden, mehr hatte man nicht für sie tun können.
Ein Kerl an Bord der „Almeria“ hatte vor einer Woche versucht, heimlich die Proviantkammer zu plündern. Er war dafür mit sechs Peitschenhieben bestraft worden. Jeder andere Kapitän hätte ihn für den versuchten Mundraub garantiert zu der doppelten Menge verurteilt. Aber das ging keinem der Galgenstricke und Schlagetots auf, die Rascón und Alentejo gezwungen gewesen waren, aus Cadiz mitzunehmen.
Dabei waren beide Kapitäne handfeste Seeleute, gestandene Männer also, und zwar von der ehrlichen Sorte. Sie hatten es eigentlich nicht verdient, daß ihnen das üble Gelichter überantwortet worden war. Aber sie waren machtlos gegen die Entscheidungen der Casa, sie mußten sich der Order beugen.
Rascón und Alentejo waren miteinander befreundet. Alentejo war grundsätzlich mit jedem Befehl einverstanden, den Rascón, der ältere Mann, für beide Schiffe gab. Er wußte, daß er keine Entscheidung besser hätte treffen können.
Mehrmals schon hatten sie gemeinsam die Karibik bereist, waren in diesen Gewässern also nicht unerfahren. Aber es waren auch nicht die Wetterbedingungen, Wind, Strömung, Korallenbänke oder Klippen, die ihnen Kopfzerbrechen bereiteten. Ihre einzige Sorge war die „Ladung“, die sie an Bord ihrer Schiffe hatten.
Die Männer, Frauen und Kinder in den Frachträumen waren von der Casa de Contratación zur Besiedlung Kubas ausgesucht worden. Sie sollten auf der Insel ansässig werden und Ackerbau und Viehzucht betreiben, auch den Anbau von Zuckerrohr. Ferner waren Handwerker und Bergbauleute unter ihnen, die für die Kupferminen bei Santiago de Cuba vorgesehen waren.
Aber auch Abenteurer, verkrachte Hidalgos, Diebe, Räuber, Mörder und leichte Mädchen befanden sich an Bord beider Schiffe. Bedauerlicherweise hatte das Büro der Casa in Cadiz Rascón und Alentejo diese Kerle und Weiber aufgezwungen, die man in Cadiz loswerden wollte. Um die Mannschaft „aufzufüllen“ – so hieß es offiziell in einer Verlautbarung.
In Wirklichkeit war dies eine der Methoden, die man anwandte, um die Gefängnisse in Spanien zu entlasten. Dabei rechneten die Vollzugsbehörden ohnehin damit, daß die Galgenstricke die Überfahrt nicht überlebten. Die Seefahrt war hart und forderte viele Opfer.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Huren und Raufbolde, Beutelschneider und Wegelagerer mochten dazu bestimmt sein, früher oder später das Zeitliche zu segnen. Doch wenn der Zufall es wollte, erwiesen sie sich als zäher und widerstandsfähiger als alle anderen. So auch hier: Die Ängstlichen und Schwachen, die Kränkelnden und Unerfahrenen landeten in Gottes tiefem Keller, nicht aber die Hartgesottenen und Skrupellosen.
Somit war es eine sonderbare Art von „Strafvollzug“, die man den beiden geplagten Kapitänen überließ – und sie mußten für solchen Mannschaftszuwachs auch noch „Danke schön“ sagen. Zwar litten Handels-Galeonen wie die „San Sebastian“ und die „Almeria“ an chronischer Unterbesetzung, aber lieber wären Rascón und Alentejo unterbemannt in die Karibik gesegelt als mit derartigen Galgenvögeln.
Weigerte sich ein Schiffskapitän jedoch, solche aus den Gefängnissen rekrutierten Kerle an Bord zu nehmen, dann konnte es passieren, daß die Casa sehr schnell Mittel und Wege fand, ihm das Patent zu entziehen und ihm sogar das eigene Schiff wegzunehmen oder es zu beschlagnahmen. Mit anderen Worten: Er wurde auf sanfte, aber nachdrückliche Art dazu erpreßt, sich der „Schützlinge“ anzunehmen, die für sein Schiff den Untergang bedeuten konnten.
„Señores“, sagte Gomez Rascón. „Wir stehen wieder einmal einer heiklen Situation gegenüber. Wie lautet unsere genaue Position?“
Solares, der Erste, nannte sie ihm und fügte hinzu: „Wir befinden uns also bereits fast auf der Höhe von Santiago de Cuba.“
„Aber der Wind ist zu stark“, erklärte der Steuermann Elcevira. „Ein höllischer Sturm, Señor Capitán. Wir dürfen nicht wagen, nach Norden auf den Hafen zuzusteuern.“
„Dem stimme ich zu“, sagte Solares. „Wir riskieren dabei Kopf und Kragen.“
„Sehr richtig“, pflichtete Rascón ihnen ebenfalls bei. „Wir haben nur noch die eine Wahl. Wir müssen vor dem Sturm lenzen, also westwärts segeln. Nur so können wir uns retten. Señores, geben Sie Juan Alentejo ein entsprechendes Lichtsignal. Dann setzen Sie ein Hecklicht, denn er wird in unserem Kielwasser segeln und uns folgen. Geben Sie der Mannschaft alle erforderlichen Anweisungen, und sorgen Sie dafür, daß die Verschalkungen der Schotten und Luken sowie die Festigkeit der Manntaue regelmäßig überprüft werden.“
„Jawohl, Señor“, sagten die beiden gleichzeitig.
Dann war es Solares, der sich noch einmal zu Wort meldete. „Aber was sollen wir den Leuten in den Stauräumen sagen?“
„Vorläufig gar nichts“, erwiderte der Kapitän mit ernster Miene. „Lassen wir sie im Ungewissen. Sie müssen glauben, daß wir Santiago bald erreichen. Wenn sie erfahren, daß es eine Verzögerung gibt, werden sie noch unruhiger. Das müssen wir verhindern.“
„Was ist mit den Hundesöhnen, die mit zur Mannschaft gehören?“ fragte Elcevira. „Denen können wir es nicht verheimlichen.“
„Der Bootsmann soll ein waches Auge auf sie haben.“ Rascón erhob sich. „Gott segne unser Schiff und die ‚Almeria‘. Hoffen wir, daß wir unser Ziel unbeschadet erreichen.“
Solares und Elcevira bekreuzigten sich mit ihm zusammen, dann zeigten sie klar und verließen die Kapitänskammer im Achterkastell. Sie eilten nach vorn, enterten das Hauptdeck und teilten die Kommandos aus.
Wenig später lenzte die „San Sebastian“ vor dem Sturm und rauschte westwärts. Die „Almeria“ war in ihrem Kielwasser. Alentejo orientierte sich an dem auf und ab tanzenden Hecklicht, das Rascón hatte setzen lassen.
Die Schiffe ritten donnernde Brecher auf ihren gischtenden Kämmen ab, sie taumelten über den schmalen Grat in gähnende Wasserschluchten und drohten darin unterzugehen. Sie stampften, schlingerten und rollten und waren den Mächten der Natur ausgeliefert. Nur wenig konnten Rascón und Alentejo noch tun. Sie ließen Trossen durch das Hennegat ausbringen, die im Kielwasser ihrer Dreimaster schlingenförmig mitliefen und den Schiffen weniger Fahrt und mehr Kursstabilität verleihen sollten.
So trieben sie durch die Nacht, ihrem Schicksal ausgeliefert. Nie war es so fraglich gewesen wie jetzt, ob sie Santiago jemals erreichten, selbst auf dem Atlantik nicht. Was brachte die nahe Zukunft?
Weiter westlich, ebenfalls an der südlichen Küste von Kuba, kämpften zwei andere Schiffe mit dem Sturm – eine Dreimastgaleone und ein düsterer, unheimlich wirkender Zweidecker. Geheimnisvoll und mit komplizierten Zusammenhängen verbunden waren die Zukunft, der Auftrag und das Ziel dieser Schiffe, deren Anblick jeden Beobachter in Staunen versetzt hätte.
Die Galeone mit den drei Masten war spanischer Herkunft. Einst hatte sie „Santa Clara“ geheißen und Perlen befördert. Dann aber war sie aufgebracht und entführt worden, und ein findiger Schiffsbaumeister hatte sie gründlich umkonstruiert, so daß sogar der frühere spanische Kapitän sie nicht wiedererkannt hätte.
Hesekiel Ramsgate hieß dieser ausgefuchste Schiffsbaumeister. Er hatte die „Santa Clara“ in eine deutsche Galeone aus Kolberg in Pommern verwandelt. Im Großtopp flatterte die Flagge mit dem roten Greif auf silbernem Feld, das Wappen Pommerns, an der Besanrute die Flagge von Kolberg mit der Bischofsmütze, den drei Stadttürmen und den beiden Schwänen. Die Galionsfigur war ein Greif, rot angestrichen, das Wappentier von Pommern. Das Schiff war überdies schwarz angestrichen worden, und auf jeder Seite hatte Ramsgate an den Schanzkleidern Halterungen anbringen lassen, in denen beliebig viele Drehbassen zusätzlich montiert werden konnten.
Und der Kapitän dieses rätselhaften Schiffes? Nun, er hieß Philip Hasard Killigrew und hatte es selbst gekapert. Er galt als Spaniens Todfeind, doch bislang war es selbst Don Juan de Alcazar, dem Sonderbeauftragten in Havanna, nicht gelungen, ihn zu stellen oder gar zu fassen. Vielmehr war es der Seewolf, der der spanischen Nation immer neue Stiche und Hiebe zufügte, nicht zuletzt dank seiner guten Verbindungen in Havanna. Dort nämlich saß ein gewisser Arne von Manteuffel, sein leiblicher Vetter, der sich als Handelsherr getarnt und eine Faktorei eröffnet hatte. Die Verständigung klappte prächtig: durch Brieftauben, die von Havanna zur Schlangen-Insel und umgekehrt aufgelassen wurden.
Damit nicht genug: Zuletzt hatte Hasard auch noch die Verwegenheit gehabt, frech und gottesfürchtig an Bord der „Pommern“ in den Hafen von Havanna einzulaufen. Allerdings hatte er sich nicht offen an Deck gezeigt. Die Begegnung mit Arne hatte in der Kapitänskammer stattgefunden, und Arne hatte ihm alles erzählt, was sich zuletzt auf Kuba ereignet hatte.
Hasards Ziel war es, die Black Queen endgültig zu vernichten. Aber wieder einmal war sie ihm entwischt, zusammen mit Caligula und ihren vier letzten Getreuen. Ihr Schiff, den Zweidecker „Caribian Queen“, hatte er den Meuterern abgenommen, die damit auf Beutefahrt gegangen waren.
So gehörte die „Caribian Queen“ jetzt mit zum Verband der Schlangen-Insel-Schiffe – und boxte sich gemeinsam mit der „Pommern“ ostwärts laufend durch die See. Am 27. April hatten sie die Islas de Mangles verlassen und gerieten mitten in den Sturm. Sie waren gezwungen, dicht unter Land in jeweils kurzen Schlägen ostwärts zu kreuzen. Eine mühselige Schinderei, die dadurch erschwert wurde, daß beide Schiffe unterbemannt waren.
Hasard hatte zu dem Raid auf die Black Queen als Crew an Bord der „Pommern“ Renke Eggens, Dan O’Flynn, Ferris Tucker, Big Old Shane, Edwin Carberry, Smoky, Blacky, Al Conroy, Stenmark, Gary Andrews, den Kutscher, Pete Ballie, Matt Davies, Sam Roskill, Luke Morgen und die Zwillinge samt Plymmie, der Wolfshündin, mitgenommen, außerdem dreizehn Männer der „Wappen von Kolberg“. Somit war die „Pommern“ bislang mit zweiunddreißig Mann besetzt gewesen. Nach der Kaperung der „Caribian Queen“ jedoch war Dan O’Flynn als Kapitän mit fünfzehn Mann auf den Zweidecker übergewechselt.
Das war die Situation – und die Crews hatten es nicht leicht, ihre Schiffe im Sturm zu halten. Das Risiko, auf ein Riff zu laufen oder auf Legerwall gedrückt zu werden, war groß, doch andererseits war Hasard gleichsam dazu gezwungen, es auf sich zu nehmen. Die letzte Chance, die Black Queen und Caligula zu erwischen, durfte nicht verspielt werden. Deshalb galt es, keine Zeit zu verlieren.
Daß die Aussichten, die Queen und Caligula noch irgendwo zu stellen, dennoch gering waren, war Hasard klar. Er hatte in dieser Beziehung keinerlei Illusionen. So hatte sein Befehl denn auch gelautet: Rückkehr zur Schlangen-Insel. Sollten sie auf dem Weg dorthin auf die Queen stoßen, würden sie alles daransetzen, sie gefangenzunehmen. Wenn nicht, war es vorläufig auch nicht so schlimm. Denn die Queen war geschwächt, und Caligula hatte in Havanna eine Niederlage erlitten, die auch er nicht so schnell verwinden würde.
Folglich stellten die Queen und Caligula vorerst keine Gefahr dar, obwohl sie versucht hatten, die Spanier als den verlängerten Arm ihrer rächenden Hand zu benutzen und auf die genaue Position der Schlangen-Insel hinzuweisen. Doch das hatte nicht geklappt. So leicht ließen sich die Spanier nicht beeinflussen, und schon gar nicht waren sie bereit, hergelaufenen Schnapphähnen dafür etwas zu bezahlen. Die Queen und Caligula waren total gescheitert.
„Sie werden einige Zeit brauchen, um sich von diesem Schlag zu erholen“, sagte Hasard in dieser Nacht noch einmal zu Renke Eggens und Ferris Tucker. „Wir haben wieder Ruhe vor ihnen, vor allem weil die ‚Caribian Queen‘ nicht mehr in ihren Händen ist und künftig unter der Flagge des Bundes der Korsaren segeln wird.“
„Ja“, sagte der rothaarige Riese. „Und ich wünsche der Queen, daß sie an den Spätfolgen ihrer Verletzung stirbt. Ich habe keinerlei Mitleid mit ihr.“
„Ich auch nicht“, sagte Renke Eggens. „Aber ich glaube doch, daß sie zäher ist als jeder andere Pirat, dem wir bislang begegnet sind.“
„Das ist mit Sicherheit richtig“, sagte der Seewolf. „Sie ist noch nicht am Ende. Aber sie braucht viel Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen, eine neue Crew zusammenzustellen und sich ein neues Schiff zu beschaffen.“
„Was meint ihr, ob Siri-Tong wohl die ‚Caribian Queen‘ übernimmt?“ fragte Renke Eggens.
„Überlassen wir die Entscheidung ihr“, entgegnete Hasard. „Vielleicht findet sie es richtig, das Schiff ihrer bisher härtesten Gegnerin zu übernehmen, vielleicht aber auch nicht. Wir werden sehen, was sich tut. Auf jeden Fall ist es wichtig, daß wir die Schlangen-Insel so schnell wie möglich wieder erreichen, um zu erfahren, was in der Zwischenzeit passiert ist.“
Ereignisreich genug war die letzte Zeit gewesen – und immer wieder konnten Nachrichten aus Havanna eintreffen, die einen neuen Raid gegen die Spanier einleiteten. Nicht zuletzt aus diesem Grund drängte es Hasard, die Schlangen-Insel und Coral Island so schnell wie möglich wieder anzulaufen.
Ihre Unterredung, in der Kapitänskammer der „Pommern“ geführt, fand ein jähes Ende. Das Tosen und Rauschen nahm zu, das Schiff begann stärker in der See zu rollen. Die Sturmgeräusche ließen keine Gespräche mehr zu, und jede Hand wurde an Deck gebraucht, wo längst die Manntaue gespannt, die Schotten und Luken verschalkt und die Sturmsegel gesetzt worden waren. Hasard, Ferris und Renke eilten zu ihren Männern und unterstützten sie bei der beschwerlichen, lebensgefährlichen Arbeit an den Brassen und Schoten. Hasard selbst übernahm das Ruder der „Pommern“ und steuerte sie durch das tobende Inferno.
Die „Caribian Queen“ konnten sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr sehen. Aber der Seewolf hoffte inständig, daß Dan O’Flynn nicht den Kontakt zu ihnen verlor, daß es ihm gelang, mitzuhalten und trotz der Unterbemannung wieder mal dem Teufel ein Ohr abzusegeln, wie sie es so oft getan hatten.
Doch der Ausgang des Höllentörns war ungewiß. Keine Situation war mit früheren Erfahrungen vergleichbar, jede neue Lage wies andere Bedingungen auf. Ob sie es schafften, dem Wetter zu trotzen oder doch noch einen Nothafen anlaufen mußten, würde sich erst in den nächsten Stunden zeigen, je nachdem, wie lange der Sturm dauerte.
The free excerpt has ended.