Read the book: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 183»

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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-519-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Tückisch glimmende Augen zwischen den Blättern des Inseldschungels, schmatzende und blubbernde und andere abscheuliche Laute, Krallenhände, die vorsichtig die Zweige des Dickichts teilten – alles das schien Thomas Federmann plötzlich um sich herum wahrzunehmen.

Das Grauen war erschienen, um ihn heimzusuchen und einen qualvollen Tod sterben zu lassen hier, im Paradies auf Erden.

Die Dämonen der Südsee, die Mächte der Finsternis – plötzlich schienen sie überall zu sein. Sie hatten ihn umzingelt, schoben sich von allen Seiten auf ihn zu, krochen aus den Büschen hervor, griffen mit ihren feuchten, kalten, schwartigen Pfoten nach ihm.

Ein würgendes Gefühl stieg in seiner Kehle auf. Die Sinne drohten ihm zu schwinden. Ihm wurde übel und grenzenlos schwach zumute. Der Urwald schien sich mit mahlenden und singenden Geräuschen um ihn herum zu drehen, schneller, immer schneller.

Die Kreaturen hatten ihn umzingelt und duckten sich lauernd. Sie entblößten spitze Zähne, fuchtelten, keiften, heulten – und sprangen ihn ganz unvermittelt an.

Ein entsetzes Keuchen, mehr brachte Thomas Federmann nicht mehr hervor.

Der schwere Spaten mit dem groben, wuchtigen Holzstiel entglitt seinen Fäusten. Die Schatten der Nacht verwandelten sich in brüllende Wirbel, die ihn mitrissen und den Rachen der tobenden Bestien entgegenwarfen. Thomas lehnte sich zunächst vornüber, dann etwas nach rechts, dann gaben seine Knie nach, und er brach zusammen und blieb auf der rechten Körperseite liegen, reglos und zusammengekrümmt.

Seine Ohnmacht war nur kurz. Er kam wieder zu sich und bemerkte als erstes, daß die grausige Vision gewichen war. Die Realität jedoch war bitterer als jeder Alptraum.

Thomas wurde sich der Wirklichkeit wieder voll bewußt. Er preßte die Lippen zusammen, hielt die Augen fest geschlossen und wartete darauf, die Peitsche, die verdammte Peitsche wieder knallen zu hören.

„Hund!“ tönte Masots rauhe Stimme über die dunkle Insellichtung. „Willst du wohl aufstehen? Denkst du im Ernst, ich falle auf deine närrischen Tricks herein? Auf die Beine mit dir, oder ich lasse dich wieder tanzen, du Bastard!“

Thomas wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Seine Gaumenhöhle war ausgetrocknet und ohne jedes Gefühl, die Zunge lag wie ein pelziger Klumpen darin.

Die Peitsche knallte. Gierig griffen die Lederriemen mit den hineingeflochtenen Knoten nach seinem nackten Rücken und schienen sich darin festzukrallen. Neun Riemen, die dem Höllenwerkzeug seinen Namen gegeben hatten – die neunschwänzige Katze, die Geißel der Piraten.

Heiß überrann es Thomas Federmann, stechend war der Schmerz, der seinen Rücken und den ganzen Körper durchfuhr. Er biß die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schrei. Nur ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen.

Diesmal, dachte er, diesmal stirbst du wirklich. Es ist endgültig aus, aus und vorbei. Du warst ein Narr, dies alles zu beginnen und auch noch zu hoffen, daß es irgendwie schon klappen würde.

„Hund!“ schrie Masot, der Piratenführer, noch einmal. „Ich will dein Gewinsel nicht hören. Zwing mich nicht, dich dauernd zu verdreschen! Grab weiter, schufte bis in die tiefe Nacht hinein, du kannst dich davor nicht drükken. Ich will den Schatz, hörst du? Den Schatz! Ehe du ihn mir nicht zeigst, gebe ich keine Ruhe. Er liegt doch hier, nicht wahr? Genau hier, an dieser Stelle, auf dieser elenden Lichtung ist er vergraben, stimmt’s?“

Thomas war versucht, ihm die Wahrheit zu gestehen, aber dann bezwang er sich doch, denn er dachte an Zegú, den König von Hawaii, und an die Mädchen Mara und Hauula und an die anderen achtzehn Geiseln an Bord der Galeone „Saint Vincent“, die in der Lagune ankerte. Wenn er, Federmann, sich jetzt verriet, dann waren auch sie geliefert.

„Ja“, preßte er darum hervor. „Es – stimmt – bin sicher …“

Masot beugte sich etwas vor und fragte mit gespielter Freundlichkeit: „Du stehst also auf?“

„Ja.“

„Ich danke dir, mein Freund. Ich wußte, daß du wieder Vernunft annehmen würdest. Bist ein kluger Bursche, ich hab’s von Anfang an gesagt.“ Er richtete sich wieder auf und blickte zu den beiden anderen Piraten, die auf der Lichtung Wache hielten. „Gugnot und Saint Cyr, ist es nicht so? Sagt mir, daß es wahr ist.“

„Ja“, brummte Gugnot. „Ein schlauer kleiner Hurensohn ist unser Freund. Das hast du gleich behauptet, als wir ihn auf Hawaii geschnappt haben.“

„Mhm“, machte Saint Cyr bestätigend.

Thomas erhob sich wankend. Unter Schmerzen, die siedendheiß und pulsierend über seinen Rücken jagten, griff er von neuem nach dem Spaten, stellte den rechten Fuß auf die Kante des Eisens, klammerte sich an dem Stiel fest und rammte die Spitze des Spatens in das Erdreich. Er verlor fast das Gleichgewicht, konnte sich aber im letzten Augenblick noch fangen.

Masot, der bereits wieder drohend die Neunschwänzige schwang, entblößte seine großen, weißlich schimmernden Zähne. „Es ist klug von dir, folgsam zu sein. Was nutzt es dir, wenn ich dich windelweich schlage? Nun? Nichts, gar nichts, du hast recht. Mich beeindruckt dein Zustand nicht, ich habe kein Mitleid mit dir. Und jemand anderes stelle ich schon gar nicht an deinen Platz, denn ich will ja, daß du den Schatz hebst – du ganz allein. Du hast ihn hier eingekuhlt. Dir allein steht es nun zu, ihn wieder herauszuholen.“

Ätzender Hohn lag in seiner Stimme.

Thomas grub mit verbissener Anstrengung und bemühte sich, nicht auf Masots Worte zu hören. Knirschend schob sich das zugespitzte Eisen in den weichen Untergrund, und mit leisem Schmatzen löste sich die Scholle.

Scholle um Scholle packte Thomas nach rechts und nach links auf die Erde, die er bereits ausgestochen hatte. Jedesmal hatte er den Eindruck, viele Pfunde Gewicht zu bewegen.

Die Grube, die er hier aushob, war noch keinen halben Yard tief. Er wußte, daß er es nicht schaffen würde, auch nur einen Yard tief zu graben, und war schon jetzt sicher, daß er vorher wieder zusammenbrechen würde. Dieses war nicht das erste Loch, das er in den Inselboden trieb, er hatte auf dem großen, seltsam geformten Eiland, das die Lagune umschloß, schon ein halbes Dutzend gegraben – jedes Mal ohne den gewünschten Erfolg.

Damit aber nicht genug: Vor drei Tagen hatten sie mit der Piraten-Galeone „Saint Vincent“ die nördliche Nachbarinsel angelaufen – wie sie hieß, wußten weder Federmann noch die entführten Bewohner Hawaiis – und waren dort gelandet. Masot hatte den Behauptungen des Deutschen geglaubt, bei diesem Fleckchen Erde handele es sich garantiert um die Insel, auf der er „seinerzeit den immensen Schatz vergraben hätte“.

Dieser „immense Schatz“ war ebenso erfunden wie die Aussage, daß Thomas Federmann vor Jahren die Inselwelt der Südsee bereist hätte. Thomas, der Deutsche, hatte außer Hawaii und dessen Nachbarinseln bislang kein einziges der vielen Eilande, die es in diesem riesigen Meer geben sollte, kennengelernt.

Er war dereinst aus Neu-Granada, das neuerdings auch Kolumbien genannt wurde, geflohen, und zwar an Bord einer spanischen Galeone – das stimmte. Was er für Masot, den französischen Freibeuterkapitän, jedoch hinzufabuliert hatte, war folgendes: Er, Thomas Federmann, hätte den Spaniern in der Neuen Welt einen Schatz entreißen können, ihn heimlich mit der Galeone fortgeschafft und nach einer gelungenen Meuterei an Bord des Schiffes, die ihm zum Kommando über die komplette Mannschaft verholfen hätte, auf zwei weit auseinander liegenden Inseln des Stillen Ozeans versteckt.

Die eine Insel hatte keinen Namen, aber er hatte ihr Aussehen und ihre ungefähre geographische Lage auf einer Skizze festgehalten. Die zweite Insel war Hawaii, dort hätte er sich niedergelassen und Freundschaft mit den Insulanern geschlossen, hatte er Masot erzählt.

Dieser Teil der Schilderung entsprach der Wahrheit, aber der Rest war wieder ein Produkt der reichen Phantasie des Deutschen: Bald hätte es Streit mit den übrigen Meuterern von der Galeone gegeben, hatte er behauptet, und ein Kampf wäre unvermeidlich gewesen. Aber die Insulaner hätten auf seiner Seite gestanden und bei einem Überraschungsangriff die Spanier dank ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit überwältigen können.

Die letzten Überlebenden wären in einer Schaluppe davongejagt worden, man hätte sie nie wiedergesehen. Die Galeone, mit der Thomas aus Neu-Granada geflohen war, hätte man zwischen Hawaii und Maui versenkt. So hätte man gehofft, mit dem einen Teil des Schatzes für alle Zeit in Frieden leben zu können – bis vor wenigen Tagen Masot und seine Piratenbande an Bord von zwei Schiffen, der „Saint Vincent“ und der „Saint Croix“, erschienen waren, um Hawaii zu überfallen.

Was Masot gesucht hatte? Nun, in erster Linie hatte er wohl mit seinen Kerlen über die hübschen Mädchen der Insel herfallen wollen. Weiter hatte er sicherlich vorgehabt, seine Proviant- und Trinkwasservorräte zu erneuern. Ganz zufällig hatte er auf seiner Fahrt durch die Südsee dieses Inselparadies Hawaii entdeckt und sogleich beschlossen, ein wüstes Fest darauf zu feiern, eine Orgie.

Thomas Federmann hatte ihn ablenken können. Natürlich hätte Masot ihm die abenteuerliche Geschichte niemals abgenommen, wenn nicht der „Beweis“ gewesen wäre: die spanischen Piaster, goldene und silberne Achterstücke, die der Deutsche vor einigen Jahren auf Anraten des Seewolfs hin im Inneren der Insel vergraben hatte. Es waren wohl fünfhunderttausend oder noch mehr Münzen, Thomas und die Polynesier hatten sie nie genau gezählt.

Sie stellten den Anteil der Insulaner an dem gelungenen Überfall auf die legendäre Manila-Galeone dar – und sie hatten Federmann und den Ureinwohnern von Hawaii nun diesen einmaligen Dienst erwiesen, daß nämlich die Piraten von den Mädchen abgelassen hatten. Trunken vor Gier hatten sie in den Münzen gewühlt – und unter dem Einfluß dieses wilden Freudentaumels hatte Thomas dem Anführer Masot die Mär aufgebunden, es gäbe noch einen zweiten, größeren Teil von diesem Schatz.

Schon seit Jahren fertigte Thomas, der ein begabter Maler und Zeichner war, Bilder und Skizzen von Phantasie-Inseln der Südsee an. Es waren Tagträume von der Beschaffenheit des weltabgeschiedenen Paradieses schlechthin, hier und da mit Hawaii identisch, meistens aber dem großen Vorstellungsvermögen des Deutschen entsprungen.

Eine dieser Skizzen hatte Thomas dem Franzosen vorgelegt. Wie immer dieses Eiland, das als wichtigstes Merkmal über eine große Bucht im Westen verfügte, hieß, wo es lag und wer immer es bewohnte – Masot hatte beschlossen, es zu finden. Auf südlichem Kurs segelnd, so hatte er sich überlegt, müßte er auf die angegebene Position stoßen.

Zuerst hatte er vermutet, bei der Insel handele es sich um einen Teil des Hawaii-Archipels, aber das hatte sich bald als Irrtum herausgestellt.

Südlich von Hawaii gab es zunächst keine Inseln mehr – nur Wasser, endlos wirkendes, tiefblaues Wasser.

Masot hatte nicht aufgegeben. So war er mit seiner Meute und den Geiseln, die er von Hawaii mitgenommen hatte, zuerst auf der einen unbekannten Insel – die mit der Skizze hätte identisch sein können – und anschließend auf diesem Eiland gelandet, das genauso namenlos und unerforscht wie das erste war.

Die Hauptinsel und einige winzige Eilande, die an sie anschlossen, bildeten ein Atoll, in dessen Zentrum sich die Lagune ausdehnte. Masot hatte eine Passage zwischen den gefährlichen Korallenriffen entdeckt und so mit dem Dreimaster in die Lagune einlaufen und dort ankern können. Die Insel selbst war öde und unbewohnt, wie sich bald herausgestellt hatte, es gab hier nur viele Schildkröten und Vögel, und in der Lagune konnte man Fische fangen, soviel man wollte.

Unbewohnt – damit war eine Hoffnung von Thomas Federmann zerstört worden. Er hatte darauf gebaut, daß sie auf Eingeborene stoßen würden, mit denen Zegú und er sich verbünden konnten. Aber diese Illusion war nun zerstört. Es gab keine Hoffnungen mehr.

Thomas hatte Masot gegenüber immer wieder bestätigt, daß er das genaue Versteck des Schatzes zwar auf der Skizze nicht eingezeichnet habe, es jedoch aus dem Gedächtnis wiederfinden würde.

So hatte er behauptet, dies wäre nun die gesuchte Insel, und er würde auch den Schatz – gut eine Million spanische Achterstücke – heben. Er allein würde sich das zutrauen.

Masot war nach den sechs vergeblichen Versuchen mißtrauisch geworden, daraus rührte jetzt sein Hohn her. Andererseits hielt ihn seine Gier nach noch größerem Reichtum davon ab, das Unternehmen abzubrechen.

Masot stand mit gespreizten Beinen auf der kleinen, leicht erhöht liegenden Insellichtung und ließ seinen Gefangenen keinen Moment aus den Augen. Masot war ein großer, wuchtig gebauter Mann mit dunklen Augen, einer kleinen Nase und einem breiten Mund, der sich in einem mächtigen schwarzen Vollbart verbarg. Als Zierde und Symbol seiner Stellung trug er eine Art Dreispitz auf dem Kopf. Diese Kopfbedeckung war zwar an manchen Stellen eingerissen und verbeult, aber keinem der französischen Freibeuter wäre es eingefallen, über das ramponierte Stück zu grinsen.

Masots mächtiger Körper war fast bis zu den Fußknöcheln in einen einstmals weinroten und jetzt kaum noch definierbar gefärbten Umhang gehüllt – eine Trophäe aus einer von vielen Seeschlachten. Seine Beine steckten in weiten schmutziggrauen Hosen, die am Bund von einem Rohledergürtel zusammengehalten wurden. Er trug Stiefel, richtige Stulpenstiefel, während seine Kerle barfuß liefen, und quer über seine Brust spannte sich von der linken Schulter herab bis zur Hüfte hinunter ein breiter, schwerer Gurt mit einer riesigen Schnalle. Zwei geladene Pistolen steckten darin, außerdem ein Schiffshauer mit leicht gekrümmter Klinge und ein Messer.

Vom Strand der Lagune flackerte Feuerschein herüber.

Gugnot wandte den Kopf, sah zu dem zuckenden Licht hinüber und brummte: „Die anderen braten jetzt den Fisch, den wir heute nachmittag in der Lagune gefangen haben.“

„Die haben’s gut“, sagte Saint Cyr so leise, daß Masot ihn nicht verstehen konnte.

Das Grölen der Piraten drang deutlich an ihre Ohren.

Gugnot zerdrückte einen Fluch auf den Lippen, dann meinte er gedämpft: „Sie saufen Rum und machen sich’s so richtig gemütlich. Ich wette, sie holen sich auch noch die Weiber. Ja, die Hunde toben sich aus, nur wir zwei Narren stehen uns hier die Beine in den Bauch. Wie lange? Bis zum Morgen? O Mann, möglich ist alles.“

Saint Cyr schüttelte den Kopf und deutete auf den wankenden, schwitzenden Deutschen. „Kaum, Gugnot, kaum. Der hält nicht mehr lange durch. Er krepiert noch heute nacht, entweder vor Erschöpfung oder unter Masots Hieben, das versichere ich dir.“ Er grinste gemein.

Hier, in der unmittelbaren Nähe des Äquators, ging die Sonne von einem Augenblick zum anderen unter, und die Dunkelheit senkte sich übergangslos auf die See. Die Schatten der Nacht drohten die Umrisse des großen Dreimasters, der sich mit südlichem Kurs durch die Fluten schob, zu schlucken. Es gelang ihnen, als sich eine Wolkenbank vor die Mondsichel schob. Die Konturen der Galeone verschmolzen mit der Finsternis.

Old O’Flynn hatte das Achterdeck der „Isabella VIII.“ geentert und war zu Philip Hasard Killigrew und Siri-Tong getreten. Seine Miene war verkniffen und voll Mißtrauen, seine Augen schienen überall Unheil zu erspähen.

„Der Wind schralt“, sagte er. „Es ziehen immer mehr Wolken herauf, und ich schwör’s euch, bald ist der Himmel über uns dicht. Wir kriegen ein Wetter um die Ohren, das ist mal sicher – und die verfluchte Insel finden wir sowieso nicht mehr.“

„Donegal.“ Der Seewolf drehte sich langsam zu dem Alten um. „Du weißt schon, was ich dir jetzt sagen will.“

„Ja. Daß ich mal wieder die Geduld und das Vertrauen verloren habe.“

„Eben.“

„Aber das stimmt nicht. Die Geduld, schön, die geht mir abhanden, das will ich gern zugeben. Aber das Vertrauen in dich und unser Schiff fehlt mir natürlich nicht, soweit führt’s bei mir auch im allerdicksten Schlamassel nicht.“ Der Alte schnaufte verdrossen. „Nur das eine will ich dir verklaren, Sir: Allein mit dem Vertrauen und dem Glauben an das Glück ist es nun mal nicht getan. Und herzaubern kannst du die Insel, die wir suchen, auch nicht.“

„Dann tu du es doch, Donegal“, meldete sich eine unfreundliche Stimme von achtern. Big Old Shane trat auf sie zu. Der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle hatte sich am Heck aufgehalten und offenbar den Befehl des Seewolfs abgewartet, die große Achterlaterne anzuzünden. „Streng dich an und zaubere sie her, die Insel, Donegal“, fuhr er fort. „Du bist doch so ein alter Hellseher und Geistermann, vielleicht hast du ja magische Kräfte. Statt so laut und beleidigt herumzuquaken wie ein alter Ochsenfrosch, würde ich an deiner Stelle lieber was Brauchbares unternehmen.“

Er blieb dicht vor Old O’Flynn stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ben Brighton und Ferris Tucker stiegen gerade den Backbordniedergang hoch, der das Achterdeck mit dem Quarterdeck verband. Sie hatten das meiste von dem Gesprochenen gehört, vor allem die Sätze von Old O’Flynn und Shane. Sie tauschten einen Blick und grinsten belustigt.

Donegal Daniel O’Flynns Züge verfinsterten sich noch mehr. „Paß mal auf, Shane, was es gleich für einen Zauber gibt, wenn du dein Lästermaul nicht hältst“, sagte er drohend.

„Lästermaul?“ Shane senkte den Kopf ein wenig und fixierte den Alten grimmig. „Das mußt du auch gerade sagen, du Stint. Soll ich dir mal verraten, was du bist?“

„Ja. Kann’s kaum erwarten, die Wahrheit über mich zu erfahren“, sagte der grantige Alte.

Siri-Tong lachte auf und sagte: „Nun hört aber auf, euch zu streiten, ihr beiden. Damit kommen wir auch nicht weiter. Donegal, auf was willst du überhaupt hinaus? Meinst du, es wäre besser, wenn wir umkehren?“

„Umkehren? Nein, das nicht. Aber wir können nach Westen ablaufen. Der Wind dreht immer mehr und bläst bald aus Südosten, wie’s mir scheint. Mit der steifen Brise laufen wir bei westlichem Kurs verdammt gute Fahrt.“

„Da schau mal einer an“, sagte Ben Brighton, der jetzt hinzugetreten war.

„Jetzt schlägt’s aber dreizehn“, fügte Ferris Tucker hinter seinem Rücken ziemlich aufgebracht hinzu.

Und Big Old Shane stemmte die Fäuste in die Seiten und rückte noch einen Schritt näher auf Old O’Flynn zu. Seine Stimme sackte tief in den Keller ab, klang grollend und unheilverkündend. „So ist das also. Nach Westen, wie? Womöglich nach den Ladronen, den gottverfluchten Diebes-Inseln, hinüber und alte Bekannte besuchen, was? Das könnte dir so passen …“

„He!“ stieß der Alte verblüfft aus. „Was glotzt ihr mich denn alle so an? Ihr tut ja fast so, als hätte ich euch zur Meuterei aufgefordert.“

Ferris Tucker ließ einen dumpfen, grunzenden Laut vernehmen. „Hölle und Teufel, Donegal“, sagte er. „Bist du dir dessen, was du eben erklärt hast, überhaupt bewußt?“

„Wenn du damit sagen willst, daß ich nicht richtig im Oberstübchen bin, kannst du dich auf was gefaßt machen!“ fuhr der Alte ihn an.

„Nein, ich meine was anderes“, teilte der rothaarige Schiffszimmermann der „Isabella“ ihm grimmig mit. „Mit dem, was du vorgeschlagen hast, lassen wir Thomas Federmann und die Leute von Hawaii nämlich im Stich. Mit anderen Worten, wir gewähren es diesem französischen Hurensohn Masot, den Deutschen und die einundzwanzig Insulaner – Zegú inbegriffen – abzuschlachten. Verzeihung, Madam.“

„Verzeihung?“ fragte Siri-Tong verwundert zurück. „Warum, Ferris?“

„Wegen des Hurensohnes.“

„Oh, bitte.“ Die Rote Korsarin lachte wieder auf. Sie wollte entgegnen, daß sie ja eigentlich noch ganz andere Ausdrücke gewohnt sei, aber sie unterließ es lieber. Die Männer fluchten auch so schon genug, es war nicht richtig, sie darin noch zu bestärken.

Old O’Flynn hob seine Krücke an und begann damit zu fuchteln. „Du verlauster Quadratschädel, du wurmstichiger Klamphauer!“ wetterte er. „Du hast sie wohl nicht mehr alle, was? Ich bin weder ein Feigling noch ein Verräter unserer Sache, ich will lediglich darauf hindeuten, daß Masot, dieser Bastard, sich mit seiner Scheiß-Galeone ‚Saint Vincent‘ genausogut nach Westen gewandt haben könnte – äh, tut mir leid, Siri-Tong.“

„Soll ich solange in meine Kammer gehen?“ erkundigte sie sich amüsiert. Es schwang aber auch ein wenig Angriffslust in ihren Worten mit, denn allmählich ging ihr die Debatte der Männer auf die Nerven.

Von der Kuhl tönte Carberrys Stimme dröhnend zu ihnen herauf. „Was ist denn los da oben? Sir, ist was nicht in Ordnung? Hölle, wer brüllt denn da herum?“

„Schon gut, Ed“, rief Hasard zurück. „Bleib auf deinem Posten. Donegal meinte nur, es würde wohl Sturm geben.“

„Aber – Schockschwerenot noch mal, das braucht er doch nicht so herauszuposaunen. Wir merken’s schon noch früh genug, wenn wir was aufs Haupt kriegen!“

Old O’Flynn wollte schon wieder aufbegehren, aber der Seewolf fuhr zu ihm herum und sagte: „Ruhe an Deck!“

Der alte Donegal blieb mit offenem Mund stehen, und Ferris Tucker, Big Old Shane und Ben Brighton wußten für einen Moment auch nicht mehr, wie sie sich verhalten sollten. Dann aber beschlossen sie, ein gemeinsames „Aye, aye, Sir“, zu murmeln.

„Männer“, sagte Hasard. „Holt tief Luft und denkt mal darüber nach, was für ein Bild ihr vor der Crew abgebt, wenn ihr herumstreitet. Nun?“

Shane erwiderte: „Verzeihung, Sir, es war wohl meine Schuld. Ich nehme das gerne auf mich und erwarte eine Bestrafung.“

Old O’Flynn hob die rechte Hand. „Augenblick mal. Kommt gar nicht in Frage. Ich hab mich wohl ein bißchen verunglückt ausgedrückt, und das hat Shane und Ferris auf die Palme gebracht.“

„Mich auch“, erklärte Ben Brighton. „Ich schließe mich da nicht aus.“

„Es war also meine Schuld“, sagte der Alte verdrossen. „Wie viele Stock- oder Peitschenhiebe kriege ich verabreicht?“

„Zwanzig, wenn du nicht sofort den Mund hältst“, versetzte der Seewolf lächelnd. „Ist ja gut, ich nehme euch die kleine Diskussion nicht übel. Zugegeben, unsere Geduld wurde in den letzten Tagen auf eine harte Probe gestellt, und ein Ende unserer Suche ist zur Stunde nicht abzusehen. Da kann ich es verstehen, wenn du zu zweifeln beginnst, Donegal. Ich selbst habe auch nicht mehr als die Vermutung, daß wir auf dem richtigen Kurs segeln. Das heißt, ich reise nach Gutdünken und Gefühl.“

„Nicht ganz“, mischte sich die Rote Korsarin ein. „Unser Abstecher nach Kahoolawe hat sich zwar als Schlag ins Wasser erwiesen, zumindest, was die Suche nach den Verschleppten betrifft. Alewas Zeichnung von der Insel Thomas Federmanns war leider höchst unzureichend, so daß wir mehr oder weniger auf Verdacht nach Süden weitergesegelt sind. Aber dann haben wir ja dieses Eiland gefunden.“

„Ja, es lag in direkter Linie südlich von Hawaii“, bestätigte Ben Brighton. „Die Spuren im Sand waren frisch. Jemand war gelandet und hatte nach etwas gegraben. Mehr als dreißig Männer müssen sich über die Insel bewegt haben.“

„Dann, als sie nicht fündig wurden, verließen sie die Insel wieder“, fuhr Siri-Tong fort. „Es liegt doch auf der Hand, daß es sich um Masot und seine Kerle handelte. Und fast ebenso logisch ist es, daß sie weiter in südlicher Richtung segeln, aller Wahrscheinlichkeit nach auf Thomas Federmanns Angaben hin.“

Hasard sagte: „Von dieser Voraussetzung gehe ich aus. Aber wir müssen natürlich auch in Betracht ziehen, daß wir inzwischen jemand Falsches verfolgen und uns nur einbilden, dem Richtigen auf den Fersen zu sein. Daß wir ganz einfach einem Irrtum aufgesessen sind.“

„Dieses Risiko müssen wir eingehen“, meinte die Korsarin.

„Und wir geben nicht auf“, sagte Ben Brighton. „Weder heute noch morgen, noch in einer Woche, Sir.“

Hasard grinste ihn an. „Den Sir kannst du dir an den Hut stecken Ben, das habe ich dir schon öfter gesagt.“

„Aber du bist doch von Elizabeth I. höchstpersönlich zum Ritter geschlagen worden …“

„Und was nutzt mir das?“

„Eine ganze Menge, Sir!“ rief Ferris Tucker.

„Ja“, sagte der Seewolf gedehnt. „Masot zum Beispiel wird vor Ehrfurcht erstarren, wenn er mir endlich gegenübersteht. Fehlt bloß noch, daß ich ihm dann unseren Kaperbrief zeige. Shane, was hältst du davon?“

„Soll ich ehrlich meine Meinung sagen?“

„Ich befehle es dir.“

„Meiner Ansicht nach hilft’s mehr, wenn wir diesem Franzosen kräftig eins über die Rübe ziehen.“

Hasard lachte. „Ja, das finde ich auch.“

„Sir, soll ich jetzt die Hecklaterne anzünden?“ fragte Shane.

„Nein. Es sieht zwar so aus, als befänden wir uns in einem gottverlassenen Winkel der Erde, aber dieser Schein kann auch trügen. Ich will nicht, daß Masot oder irgend jemand anderes uns schon aus der Ferne sehen kann.“

„Aye, Sir.“

Der Seewolf drehte sein Gesicht in den jetzt steif aus Ostsüdost heranpfeifenden Wind. Die Bewegungen der „Isabella“ wurden heftiger, rollender. Man mußte sich schon am Schanzkleid oder an der Schmuckbalustrade festhalten, wenn man das Gleichgewicht nicht verlieren wollte.

„Wir knüppeln unsere alte Lady weiter nach Süden!“ rief Hasard. „Jedenfalls so lange wir den Kurs halten können!“

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100 p. 1 illustration
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9783954395194
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