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Hitlers Großmutter

Maria Anna, Adolf Hitlers Großmutter, geboren 1796 in Strones, stammte aus einer Bauernfamilie, deren Hof mit 19 Joch (10 ha) Grundbesitz in dieser kargen Gegend eher der kleinbäuerlichen Unterschicht, aber sicherlich nicht einer bäuerlichen Oberschicht zuzuordnen war. Über die Lebensverhältnisse im Waldviertel und über den Lebensstandard der Schicklgrubers lässt sich kein genaues Urteil fällen. Im späten 18. Jahrhundert hatte die Protoindustrialisierung den unterbäuerlichen und kleinbäuerlichen Familien mit Handspinnerei und Handweberei einen bescheidenen Wohlstand bringen können. Aber die Napoleonischen Kriege und die nachfolgende schwere Klima- und Hungerkrise hatten das weitgehend zunichte gemacht. Witterungsmäßig waren die Jahre 1816/17, als Johann Schicklgruber, Maria Annas Vater, den Hof an die nächste Generation übergab, die kältesten des ohnehin kalten 19. Jahrhunderts: 1816 war das Jahr ohne Sommer, mit schweren Missernten, Hungersnöten und einer galoppierenden Inflation.

Den elterlichen Hof Maria Annas hatte im Jahr 1817 ihr Bruder Josef übernommen, mitten im schlechtesten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Der Vater erhielt ein Ausgedinge in einem kleinen Haus (Strones 22) mit recht detaillierten Naturalansprüchen, deren Geldwerte sich angesichts der 1817 herrschenden Teuerung unverhältnismäßig hoch ausnahmen und die in Naturalien zugeteilt in dieser Hunger-und Inflationszeit Goldes wert waren. Maria Anna zog zu ihrem seit 1821 verwitweten Vater: Das war ein zwar sicheres, aber doch recht freudloses Dasein: ihm den Haushalt führen, kochen, waschen, spinnen, weben, taglöhnern, ohne Möglichkeit, dem zu entkommen oder gar in die große Stadt zu gehen. Vielleicht ein bisschen tanzen, sich verlieben, träumen. Aber die industrielle Fabrikware drückte die Erlöse aus der Heimarbeit immer mehr. Dass sie den Vater jemals verlassen hätte, um nach Wien oder gar Graz in ein Dienstverhältnis zu gehen, und gar zu einer jüdischen Familie, von denen es damals in Österreich nur sehr wenige gab, ist ganz unwahrscheinlich.

Der Wohlstand, den die Historikerin Maria Sigmund aus einigen inflationär überhöhten Einkommens- und Vermögensangaben aus der napoleonischen Zeit und aus einigen bemalten Möbelstücken und Gegenständen aus dem angeblichen Besitz von Maria Anna Schicklgruber – ein bemalter Schrank, ein Butterfass, ein Spinnrocken, Feuerböcke, mehrere Rechen und ein Ochsenjoch – im Horner Höbarth-Museum herauslesen wollte, ist ohnehin ein Betrug, dem die Sammler der NS-Zeit, die im »Ahnengau« des »Führers« eine Gedenkstätte mit Hitler-Reliquien aufbauen wollten, aufgesessen waren. Diese schönen Möbel stammten in Wirklichkeit nicht von Maria Anna und ihrer Familie, sondern waren ihr nur mit einem gefälschten Herkunftszeugnis zugeordnet worden.38 Ob die 74,25 fl, die Maria Anna 1821 von ihrer Mutter geerbt hatte und die bis 1838 bei der örtlichen Waisenkasse auf 165 fl angewachsen waren, ein großes Vermögen oder ein nahezu wertloser Posten waren, hängt davon ab, ob man in Konventionsmünze, der damaligen Silberwährung, oder in Wiener Währung, dem Papiergeld, rechnete, was viel wahrscheinlicher ist. Angegeben ist das in den Quellen leider nicht: In Konventionsmünze wären es heute ca. 3.656 Euro, in Wiener Währung nur ca. 1.462 Euro.39

Als Maria Anna 1836 im Alter von 40 Jahren schwanger wurde und 1837 die Entbindung heranrückte, übersiedelte sie kurzzeitig zu ihrer jüngeren Schwester, die den etwas wohlhabenderen Bauern Johann Trummelschlager geheiratet hatte. Dort, in Strones Nr. 13, erblickte Alois Schicklgruber am 7. Juli 1837 das Licht der Welt. Schwester und Schwager fungierten als Taufpaten. Die Rubrik für den Kindesvater blieb im Taufbuch leer.40 Nach der Entbindung lebte Maria Anna mit dem Kind wieder bei ihrem eigenen Vater im Ausnehmerhaus. 1842 heiratete sie den 50-jährigen, verwitweten (und nicht »ledigen«, wie er vor dem Pfarrer für die Trauungsmatriken fälschlicherweise angegeben hatte) Müllergesellen Johann Georg Hiedler, der bis dahin auf verschiedenen Mühlen des Waldviertels gearbeitet hatte.41 Normalerweise wäre in so einer Situation das uneheliche Kind der Braut, wenn es vom Bräutigam gestammt hätte, legitimiert und für ehelich erklärt worden. Warum es in diesem Falle unterblieb, gab und gibt immer noch Anlass zu Spekulationen. Dass Johann Georg der Vater war, ist jedenfalls wahrscheinlicher als die Vaterschaft seines damals bereits verheirateten, jüngeren Bruders Johann Nepomuk, der den jungen Alois später als Ziehkind aufnahm. Der Ort Spital, wo dieser den elterlichen Hof führte, lag zwar mit etwa 20 km Entfernung näher bei Strones als das 30 km entfernte Dorf Thürnthal, wo Georg vor 1840 gearbeitet hatte. Aber für den gerade erst jung verheirateten Johann Nepomuk wäre es, was von allen Historikern, die sich für ihn als Alois Vater entschieden haben, übersehen wird, angesichts von drei eigenen Kleinkindern ein nur schwer erklärbarer ehelicher Seitensprung und Ehebruch gewesen, für den verwitweten Johann Georg hingegen nur eine damals weitverbreitete voreheliche Beziehung.

In vielen Gegenden Ober- und Niederösterreichs herrschte damals das Jüngstenerbrecht. Der jüngste Sohn erbte den Hof, die anderen Söhne und Töchter mussten sich anderswo ein Auskommen suchen und wurden bestenfalls mit einem kleinen Heiratsgut abgefertigt. Johann Georg Hiedler teilte dieses Schicksal der Ausgesteuerten. Er hatte das unstete Wanderleben, sein Bruder Johann Nepomuk den schönen Hof. Die unterschiedliche Schreibung der Familiennamen der beiden Brüder, Hiedler und Hüttler, sagt nichts aus, sorgte aber später im Fall Hitler für Verwirrung. Das damalige Heiratsalter war extrem hoch. Ein Leben als Dienstmagd und uneheliche Mutter war das Schicksal vieler Töchter, das Leben als Taglöhner oder Handwerksburschen das der weichenden Söhne. So ein Leben war nicht nur eine enorme psychische Belastung, sondern auch eine finanzielle Benachteiligung.42 Für eine Familiengründung war eigentlich kein oder erst sehr spät ein Platz.

Im Ausnehmerhaus des Vaters bzw. Schwiegervaters fand das jung verheiratete Ehepaar Hiedler zwar weiter Unterkunft, was ihm auch eine grundherrschaftliche Eheerlaubnis ermöglichte. Aber als Existenzgrundlage reichte das nicht aus. Man brauchte einen Erwerb. Als der alte Großvater Johann Schicklgruber 1844 wegen der immer härter werdenden Wirtschaftskrise das Ausnehmerhaus aufgeben musste, zog die kleine Familie mit dem Großvater nach Kleinmotten, wo sie bei einem Verwandten zur Miete wohnten und wo auch Alois Hitler die ersten Volksschuljahre absolvierte.43

Die 1840er Jahre waren überall schwierige Jahre. Im Waldviertel spürte man vor allem die Ernteausfälle durch die Kartoffelfäule und die Arbeitslosigkeit in der Textilwirtschaft. In dieser von Heimarbeit geprägten Landschaft stieg das Elend sprunghaft an. Armut und Kinderarbeit waren überall die Norm, in den Fabriken, in der Hausindustrie und in der Landwirtschaft. So ist es gut möglich, dass die Familie, die vorher ein bescheidenes Auskommen gefunden hatte, völlig abrutschte, wenn es auch nur bildlich zu verstehen sein dürfte, dass Maria Anna und das Kind tatsächlich »in einem Sautrog« schlafen mussten.44

Als 1847, in diesem schlechtesten aller Jahre kurz vor der Revolution, die Mutter an »Auszehrung infolge Brustwassersucht« und kurz darauf auch der Großvater starben, waren Johann Georg und der junge Alois mit einem Mal ganz auf sich allein gestellt. Ob Johann Georg zu dem Zeitpunkt überhaupt noch im gemeinsamen Haushalt gelebt hatte, weiß man nicht.45 Auf jeden Fall musste der Witwer sich spätestens jetzt um einen Erwerb und für das Kind um eine Unterkunft und Versorgung umsehen. Es war naheliegend, es auf den Bauernhof des jüngeren Bruders Johann Nepomuk zu geben, der dort genügend Platz hatte und eine zusätzliche Arbeitskraft gut brauchen konnte, auch wenn diese nur ein zehnjähriges Kind war.46

Mit der Unterbringung bei einem Verwandten waren die Überlebenschancen und Startbedingungen für den jungen Alois wahrscheinlich besser als für viele andere uneheliche Kinder, die zu ganz fremden Leuten verschickt und in Kost gegeben wurden.47 Ob Johann Nepomuk den heranwachsenden Alois Schicklgruber als Neffen oder gar leiblichen Sohn betrachtete oder nur als bloßes Ziehkind, das er von der Ehefrau seines Bruders übernommen hatte, ist nicht bekannt. Während der Woche wurde hart gearbeitet, an den Sonntagen ging man zur Kirche und in die Sonntagsschule. Dass das eine sonnige Kindheit gewesen sei, wie manche Hitler-Biografen meinen, verkennt die Härte der damaligen bäuerlichen Welt.48

Die neue Ziehmutter, Johann Nepomuks Ehefrau Eva Maria, geb. Decker, war um vierzehn Jahre älter als ihr Gatte. Ihre drei Töchter Johanna, Walburga und Josefa, mit denen Alois Schicklgruber nun in einem gemeinsamen Haushalt lebte, waren etwas älter als er. Die älteste, Johanna, heiratete 1848 den Besitzer des benachbarten Bauernhauses Spital Nummer 37 namens Johann Pölzl, den Vater von Alois Schicklgrubers späterer dritter Ehefrau und Adolf Hitlers Mutter Klara Pölzl. Walburga heiratete 1853 den Bauernsohn Josef Romeder aus dem Nachbardorf Ober-Windhag, der dazu ausersehen war, Johann Nepomuk Hüttlers Bauernhaus in Spital Nummer 36 zu übernehmen. Johann Nepomuk wurde dafür ein Ausgedinge mit Haus, Grundstücken und Naturalleistungen zugestanden, das ihm ein gesichertes Auskommen im Alter ermöglichen sollte. Die dritte Schwester, Josefa, heiratete Leopold Sailer in Spital Nummer 24, starb aber bald nach ihrer Heirat bereits im Jahr 1858.

Es ist einiges merkwürdig an Alois Schicklgrubers unehelicher Herkunft. Denn der größere Teil der unehelichen Kinder in vorindustriellen und agrarischen Zeiten stammte von Eltern, die keine Chance auf eine Hausstandsgründung finden konnten: von ländlichen Dienstboten in hausrechtlicher Abhängigkeit und von Gesellen und Lohnarbeitern im städtischen Gewerbe, die Lebenspartnerschaften eingingen, ohne die Möglichkeit zu haben, diese legalisieren zu lassen. Der kleinere Teil der unehelichen Kinder stammte aus Beziehungen zwischen vermögenden und mächtigen Dienstgebern und abhängigen Mägden oder zwischen reichen, nach Erfahrung suchenden Söhnen und armen Mädchen. Maria Anna, Adolf Hitlers Großmutter, stand nach allem, was wir wissen, nicht in hausrechtlicher Abhängigkeit, sondern lebte bei ihrem Vater und führte ihm den Haushalt. Sie hätte in diesem Häuschen, zwar auf sehr beschränktem Raum, auch schon 1837 die Gelegenheit für eine Ehebewilligung und Hausstandsgründung gehabt. Das tat sie auch mehrere Jahre nach der Entbindung, als sie den vermutlichen Vater ihres Kindes heiratete, ohne allerdings das Kind legitimieren zu lassen. Das nährte Spekulationen.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die Unehelichenquote in Österreich den historischen Höchstwert. Das war Ausdruck einer tiefen Krise. Für die Mütter bedeutete ein uneheliches Kind eine massive soziale und wirtschaftliche Schlechterstellung, für die Kinder eine große Erschwernis für den Start ins Leben mit subjektiv empfundenen Kränkungen und objektiv verringerten Zukunftschancen. Ein schönes Leben war das sicher nicht. Kinderarbeit, schlechte Ernährung, Prügelstrafen und das Stigma des »ledigen Bankerts« prägten solch ein Leben. Nur wenigen gelang der Ausbruch aus dieser fremdbestimmten Spirale der Ausbeutung.

Feierliche Enthüllung einer Gedenktafel in Strones: Nach dem »Anschluss« erinnerten sich die Nationalsozialisten auch an das Geburtshaus von Alois Hitler im Waldviertel.


Die erste Ehe Alois Hitlers endete 1880 mit einer Trennung von »Tisch und Bett«. 1949 bestätigte der Pfarrer von Theresienfeld die Taufe von Anna Glassl am 27. März 1823.

Vielleicht hatte es Alois Schicklgruber/Hitler mit seinen Bezugspersonen gar nicht so schlecht erwischt: Mit fünf Jahren hatte er einen Stiefvater, der vielleicht auch sein wirklicher Vater war, auch wenn dieser ihn formell nie anerkannt hatte. Nach dem frühen Tod der Mutter folgte die Verpflanzung zu Zieheltern in ein anderes Haus und eine fremde Umgebung, auch wenn es Verwandte waren. Geborgenheit war das nur schwerlich. Wie alle Ziehkinder wurde wohl auch Alois vor allem als Einkommensquelle und Arbeitskraft gesehen und möglichst früh in verschiedene Arbeitsprozesse integriert. Eine Entlohnung oder auch nur ein geringes Taschengeld waren nicht üblich: Sei froh, dass du das Essen hast!49 Ob Alois zu seiner leiblichen Mutter oder zu seinem Stiefvater engere oder gar konfliktfreie Beziehungen entwickelt hatte oder bei längerem Zusammenwohnen entwickeln hätte können, wissen wir nicht. Auch über die Konfliktzonen im Haus der Zieheltern wissen wir nichts. Auf jeden Fall gelang es Alois später, zu seiner Ziehfamilie Bindungen fürs Leben aufzubauen, als er eine Enkelin seines Ziehvaters oder vielleicht sogar wirklichen Vaters bzw. eine Großnichte seines Stiefvaters oder doch auch natürlichen Vaters heiratete.

Aus Schicklgruber wird Hitler

Im Jahr 1876 trat jenes Ereignis ein, das Adolf Hitler später einmal als die beste Entscheidung bezeichnet haben soll, die sein Vater Alois jemals getroffen hätte, seine Namensänderung. »Keine Maßnahme seines alten Herrn befriedigte ihn so vollkommen wie diese«, erinnerte sich Hitlers Jugendfreund Kubizek: »Schicklgruber erschien ihm so derb, zu bäurisch und außerdem zu umständlich und unpraktisch. Hiedler erschien ihm zu langweilig, zu weich. Aber Hitler hörte sich gut an und ließ sich leicht einprägen.«50 Das klingt zwar logisch. Aber diese Passage ist von Kubizek und seinen Koautoren mit ziemlicher Sicherheit erfunden worden. Denn Adolf Hitler wusste als Jugendlicher nichts von dieser Namensänderung, die erst 1932 öffentlich bekannt gemacht und thematisiert worden war, als der Wiener Journalist János Békessy in einer Extraausgabe des Wiener Sonn- und Montagsblatts mit der groß aufgemachten Meldung herauskam: »Hitler heißt Schicklgruber!«51 Hätte Hitler auch unter dem Namen Schicklgruber eine politische Karriere starten können? Wie hätte ein »Heil Schicklgruber!« wohl geklungen? Oder hätte eine Schicklgruber-Partei ähnlichen Zulauf gefunden wie eine Hitler-Partei? Und wäre Hüttler wie sein Ziehvater oder Hiedler wie sein Stiefvater nicht doch ein bisschen zu proletarisch oder zu weich gewesen? Solche Fragen sind berechtigt. In Deutschland war 1932 Reichspräsidentenwahl. »Es berühre sonderbar«, schrieb der Bayerische Kurier am 12. März 1932, einen Tag vor dem ersten Wahlgang, »dass der gesprächige Adolf Hitler über seine Ahnenreihe und über seinen Familiennamen sich so schweigsam erweist«.

In seinen 1954 erschienenen Lebenserinnerungen erzählt János Békessy alias Hans Habe, dass er 1932 die Beweise und Dokumente für den Namenswechsel am Pfarramt und Gemeindeamt Braunau gefunden hätte und er die dunklen Gestalten, die ihn daraufhin auf ihren Motorrädern verfolgten, nur nach einer abenteuerlichen Autojagd über 200 km auf nächtlichen Straßen bis Amstetten abschütteln konnte – das ist jedoch richtiges Reporterlatein, weil es in Braunau dazu nichts zu finden gibt und auch nie gab.52 Denn der Namenswechsel spielte sich nicht in Braunau, sondern in Weitra und Döllersheim ab: Am 6. Juni 1876 war es auf dem Weitraer Notariat zu einem merkwürdigen Zusammentreffen gekommen, im Rahmen dessen der Notar Josef Penkner zu Protokoll nahm, dass Alois Schicklgruber der legitime Sohn des längst verstorbenen Johann Georg Hiedler sei. Beim Notar waren drei angesehene Männer erschienen, die auch als Zeugen fungierten: Josef Romeder, der Schwiegersohn von Johann Nepomuk Hüttler, ferner Johann Breiteneder, ein Verwandter, und Engelbert Paukh, ein Nachbar oder ebenfalls Verwandter.53 Die drei bezeugten vor dem Notar die Vaterschaft des Johann Georg Hiedler mit ihren Unterschriften und ließen sich das auch gar nicht so niedrige Entgelt für den Notar und die 50 Kreuzer für die Stempelmarken kosten. Dass Johann Nepomuk persönlich dabei gewesen war, der eigentlich der einzige noch lebende Hauptzeuge gewesen wäre und meist als Anstifter des Ganzen genannt wird, oder Alois Schicklgruber als eigentlich Betroffener, wird in der Urkunde nicht erwähnt. Sie waren wahrscheinlich wirklich nicht anwesend. Und derjenige, der zum Vater erklärt wurde, war ohnehin schon zwanzig Jahre lang tot.

Für einen Notariatsakt ist das Schriftstück überraschend fehlerhaft und schlampig: Es fehlt das Geburtsdatum des angeblichen Vaters Johann Georg, sein Sterbedatum ist falsch (statt 9. 2. 1857 steht 5./6. 1. 1857), sein Vorname ist mit Georg und nicht Johann Georg nur verkürzt wiedergegeben, ganz abgesehen von einer etwaigen Anwesenheitsliste und der nicht gerechtfertigten neuen Schreibweise Hitler statt Hiedler oder Hüttler. Ob die Version, die vom Notar gewählt wurde, nur ein Hör- oder Schreibfehler oder ein ausdrücklicher Wunsch der Anwesenden oder gar eine bewusste Festsetzung des neuen Namensträgers Alois Hitler war, der damit vielleicht auch eine deutliche Differenzierung zu seiner ländlichen Verwandtschaft erreichen wollte, kann nicht beantwortet werden.

Am folgenden Tag nahm der Pfarrer im 20 Kilometer entfernten Döllersheim das notarielle Protokoll zur Kenntnis und trug »Georg Hitler« als legitimen Vater in das Taufbuch seiner Pfarre ein, wobei er die drei Zeugen mit drei Kreuzerln vermerkte. Wer dem Pfarrer das notarielle Protokoll überbracht hatte, ist nicht ganz klar. Dass es die drei Zeugen waren, ist unwahrscheinlich, sonst hätten sie, die nachweislich schreiben konnten, doch nicht wie Analphabeten unterzeichnet. Viel wahrscheinlicher ist, dass nur ein Bote zu dem Pfarrherrn geschickt worden war, der aufgrund des notariellen Schriftstücks den Namen »Schicklgruber« im Taufbuch durchstrich und durch »Hitler« ersetzte.

Wer wirklich die treibende Kraft hinter dem ganzen Vorgang war, ist unklar. War es Alois Schicklgruber selbst, der auf diese nachträgliche Legitimierung drängte, oder war es Johann Nepomuk Hüttler, der seinerzeit als Ziehvater fungiert hatte und nun seinen Namen fortgeführt sehen wollte, aber in anderer Schreibweise? Oder gab es andere, die daran Interesse haben konnten? Ian Kershaw sieht wie viele andere Forscher Alois als Motor, der damit den Makel, ohne Vater dazustehen, oder die Zweifel und Unklarheiten, die ihn plagten, im reifen Alter loswerden wollte. Karrierehindernis war die uneheliche Herkunft für ihn in den 1870er Jahren als Beamter sicher keines mehr und eine soziale Deklassierung oder Diskriminierung wohl auch nicht, da sowohl im Waldviertel wie im Innviertel und auch in Wien die Quoten unehelicher Geburten nahezu 50 Prozent erreicht hatten und fast einen Normalfall darstellten. Umgekehrt konnte Alois aber auch nicht voraussehen, dass ihm zehn Jahre später durch diese Legitimierung bei seiner dritten Eheschließung mit der damit zur Großnichte gewordenen Klara Pölzl eherechtliche Probleme entstehen würden. Auf eine gesetzliche Erbberechtigung nach Johann Nepomuk oder eine steuerliche Begünstigung dabei konnte er mit diesem Vorgang jedenfalls nicht hoffen.

Wenn Johann Nepomuk die treibende Kraft war, um Alois zum legitimen Anwärter auf sein Erbe zu machen und die dafür fällige Erbschaftssteuer gering zu halten, wie etwa Anna Sigmund meint, so fehlt dafür überhaupt jegliche Logik.54 Warum hätte er dann seinen Bruder vorgeschoben, wenn Alois doch sein Sohn wäre und er ihn zum Erben haben wollte? Der nun zum rechtmäßigen Vater erklärte Johann Georg war schon zwanzig Jahre tot und hätte auch damals nichts zu vererben gehabt und erst recht nicht zwanzig Jahre später. Und auf das Vermögen nach Johann Nepomuk, der zwar sicherlich nicht arm war, weder zum Zeitpunkt der Legitimierung noch zwölf Jahre später, zum Zeitpunkt seines Todes, eröffnete diese Legitimierung keine Ansprüche. Denn als Neffe wäre Alois keineswegs bevorzugter Erbe gewesen, solange noch leibliche Kinder, in diesem Fall die drei Töchter, vorhanden waren. Die nationalsozialistische Erbhof-Erbregelung, die Adolf Hitler 1935 einführen würde und die den männlichen Onkeln und Neffen gegenüber leiblichen Töchtern einen Erbvorrang einräumte, war ja 1876 mit bestem Willen nicht vorauszuahnen. Auch das steuerrechtliche Argument ist aus der Luft gegriffen, weil die 1876 geltenden Erbschaftssteuerregelungen keine derartige Staffelung der Steuersätze nach Verwandtschaftsgraden vorsahen. Und dass Derartiges später einmal kommen würde, konnten weder Alois noch Johann Nepomuk voraussehen. Wenn Johann Nepomuk tatsächlich sein ehemaliges Ziehkind Alois am Erbe teilhaben lassen wollte, hätte er es zum eigenen Sohn und nicht zum Sohn seines Bruders erklären lassen müssen. Wenn Alois von Johann Nepomuk später Vermögen erhielt, insbesondere die angeblichen 5000 fl, die er für den Kauf eines Bauernhauses in Wörnharts verwendete, so war es eine Schenkung vor Eintreten des Erbfalls.

Von anderen Autoren wird ebenfalls Johann Nepomuk als treibende Kraft hinter der Namensänderung gesehen, aus Stolz auf seinen Verwandten und Ziehsohn, der es so weit gebracht habe: »Der Anstoß zu dieser dörflichen Intrige ist zweifellos von Johann Nepomuk Hüttler ausgegangen«, schreibt John Toland: »Denn er hatte Alois erzogen und war begreiflicherweise stolz auf ihn. Alois war gerade erneut befördert worden, er hatte geheiratet und es weiter gebracht als je ein Hüttler oder Hiedler zuvor: nichts war verständlicher, als dass Johann Nepomuk das Bedürfnis empfand, den eigenen Namen in dem seines Ziehsohnes zu erhalten.«55 Das ist nicht auszuschließen, aber angesichts der geänderten Schreibweise des Familiennamens nicht sehr logisch. Es könnte aber für die tatsächlich Beteiligten, nämlich die drei beim Notar erschienenen Zeugen, insbesondere für Josef Romeder als Schwiegersohn Johann Nepomuks, das wirkliche Motiv für ihre Aussage gewesen sein: Man wollte damit einer vielleicht von diesem tatsächlich beabsichtigten Anerkennung der Vaterschaft zuvorkommen, indem dessen längst toter Bruder amtlich zu Alois Vater erklärt und Alois als Konkurrent bei einer Erbschaft nach Johann Nepomuk als nicht direkter Nachkomme ausgeschaltet wurde.

Mit der Eintragung in das Taufbuch war Alois Schicklgrubers Namensänderung amtlich. Noch im Juni, kaum zwei Wochen nach den Ereignissen in Weitra und Döllersheim, hatte der Braunauer Pfarrer von seinem dortigen Amtsbruder erfahren, dass Alois Schicklgruber nunmehr Alois Hitler heißt. Natürlich erforderte diese Änderung auch bürokratische Schritte bei den staatlichen Stellen. Nachweisbar ist, dass die für Döllersheim zuständige Bezirkshauptmannschaft Mistelbach, als sie von der Legitimierung erfuhr, deswegen mit der Braunauer Finanzdirektion korrespondierte und sich sowohl beim bischöflichen Sekretariat in St. Pölten als auch bei der Wiener Statthalterei über die Rechtmäßigkeit der Vorgangsweise des Döllersheimer Pfarrers informierte. Am 6. Oktober 1876 erhielt sie von der Statthalterei einen bestätigenden Bescheid, dass der k.k. Zollamtsoffizial Alois Schicklgruber nunmehr den Namen »Alois Hitler« führen dürfe. Als die Bezirkshauptmannschaft Mistelbach immer noch zweifelte und am 8. Dezember bei der Statthalterei nochmals nachfragte, ob nunmehr auch die Dokumente des Alois Schicklgruber »auf Hitler« umgeschrieben werden müssten, wurde ihr am 27. Dezember mitgeteilt: »Zurück mit dem Bemerken, dass die mit dem Berichte vom 8. Dezember 1876 … wiederholt gestellte Anfrage schon … (am) 30. November 1876 … ihre Beantwortung gefunden hat.« 56

Über den gesellschaftlichen Diskurs im kleinbürgerlichen Braunau, der durch so einen Schritt ausgelöst worden sein muss, bei seinen Arbeitskollegen, am Stammtisch, im Tratsch auf dem Kirchenplatz, in der Nachbarschaft und in den Vereinen, wissen wir nichts. Im Innviertel waren der Umgang mit unehelichen Kindern und die damit verbundenen Namensänderungen ohnehin alltäglich.

Dienst unter dem Doppeladler: Mit der neuen Brücke über den Inn gewann das »Nebenzollamt erster Klasse« in Braunau weiter an Bedeutung. Hier begann Alois 42 Hitler 1871 seine Arbeit als Zollbeamter.