Analytisch orientierte Literaturwissenschaft

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4. Das Alter des Kosmos und der Erde (James Usher, Georges Buffon, Immanuel Kant und Charles Lyell)

Natürlich begannen Kosmologie und Geologie nicht erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. So eindrucksvoll aber die Arbeit der früheren Wissenschaftler und Philosophen auch ist:14 Die Bestimmung des Alters der Welt und des zeitlichen Ablaufs der erdgeschichtlichen Formationsfolgen blieb so lange unmöglich, wie man im Prokrustesbett der von der Bibel gesetzten Zeitspanne verblieb. Das waren ungefähr 6000 Jahre.15 Den Höhepunkt der Berechnung aufgrund der Angaben im Alten Testament stellt James Usher (1580-1656) dar, anglikanischer Erzbischof in Irland; er schrieb in den Annals of the World (1658): die Schöpfung

fell upon the entrance of the night preceding the twenty third day of Octob. in the year of the Julian Calendar, 710,16

also auf 6 Uhr abends am 22.10.4004 v. Chr.

Das änderte sich um dieselbe Zeit, in der Hurd, Rousseau und die anderen bereits genannten Autoren schrieben. Georges Buffon (1707-88) setzte 1749 in seiner Théorie de la Terre das Alter der Erde erstmals dramatisch höher an. Die von ihm öffentlich genannte Zahl von 70.000 Jahren war allerdings immer noch geleitet von religiöser Rücksichtnahme; privat gab Buffon zu, dass auch diese Zahl noch viel zu niedrig angesetzt sei. Endlich, bereits im 19. Jahrhundert, gelangte die Geologie zu Vorstellungen, wie wir sie heute von der Erdgeschichte haben. Der Name, der hier in erster Linie genannt werden muss, ist Charles Lyell (1797-1875), Schotte und mit mehreren Büchern um die Mitte des 19. Jahrhunderts Begründer der modernen Geologie. Er revolutionierte die Ideen über das Alter der Erde, indem er die alten Katastrophen-Szenarien (Neptunismus oder Vulkanismus) ersetzte durch die Vorstellung eines allmählichen Entwicklungsprozesses,17 übrigens zum Teil bereits beeinflusst von Darwins Origin of Species.

Parallel verlief die Entwicklung der Kosmologie. Der erste, der Zeitspannen in Betracht zog, die der Wirklichkeit nahekamen, war Immanuel Kant (1724-1804). In seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels … (1755) beschrieb er die gesamte Naturordnung nicht als etwas zur Zeit der Schöpfung Vollendetes, sondern als etwas, das noch immer im Entstehen begriffen sei. Diese allmähliche Bildung der Ordnung aus dem Chaos brauchte ganz offensichtlich bisher unvorstellbare Zeiträume, und Kant spricht denn auch von Hunderten von Millionen Jahren. Allerdings blieb seine Schrift bis ins 19. Jahrhundert fast unbeachtet, und vieles war tatsächlich eher Spekulation als gesicherte Erkenntnis und gehört insofern zur Vorgeschichte der wissenschaftlichen Kosmologie. Gleichwohl ist Kants Buch von erstaunlicher Kühnheit und prophetischer Weitsicht. Er erkannte, dass viele bisher als Sterne oder Nebel angesehene Objekte am nächtlichen Himmel vielleicht keine Sterne innerhalb der gerade erst18 als Galaxie erkannten Milchstraße sind, sondern selbst Galaxien, nur sehr weit entfernt.

5. Die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Sprachen (Friedrich Schlegel, Franz Bopp, Jacob Grimm)

Die Sprachwissenschaft ist eine weitere Disziplin, die in dem Zeitraum zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts die Geschichtlichkeit ihres Gegenstands erkannte, nämlich die der menschlichen Sprache, die vorher als unwandelbar gegolten hatte. (Man erinnere sich an die verschiedenen Experimente um herauszufinden, welche Sprache Adam und Eva im Paradies gesprochen hatten, und dabei ging man selbstverständlich davon aus, dass das eine bekannte Sprache sein müsse, vielleicht Hebräisch.)

Genauer betrachtet lassen sich bei der Entwicklung der Sprachwissenschaft zwei große Richtungen unterscheiden, die damals entstanden: eine mehr sprachphilosophische, die zur allgemeinen Sprachwissenschaft führt und die uns hier nicht interessiert, sowie eine sprachhistorische, die zu den Einzeldisziplinen Germanistik, Romanistik usw. führt.19 Diese eigentliche Sprachwissenschaft – die erste institutionalisierte Sprachwissenschaft im modernen Sinn der Wortes Wissenschaft überhaupt – ist diachronisch ausgerichtet. Nach einigen Anfängen im 18. Jahrhundert20 beginnt diese vergleichende und historische Sprachwissenschaft mit Friedrich Schlegel (1772-1829), Franz Bopp (1791-1867) sowie Jacob Grimm (1785-1863) und ihren berühmten einschlägigen Werken aus den Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts.21 Das Ziel dieser Sprachwissenschaft ist die Erforschung genetischer Sprachverwandtschaften. Den Sprachwissenschaftlern fiel auf, wie ähnlich sich die grundlegenden Wörter in bestimmten Sprachen sind: beispielsweise drei oder ist oder Bruder. Noch wichtiger sind jedoch die Übereinstimmungen der grammatischen Strukturen.

Als Ergebnis zahlreicher Detailstudien wurde deutlich, dass die meisten zwischen Island und Indien gesprochenen Sprachen „verwandt“ sind, zu einer großen „Sprachfamilie“ gehören. Diese Sprachengruppe nannte man Indogermanisch oder Indoeuropäisch. Ihre Verwandtschaft ergibt sich aus der weitgehenden Übereinstimmung in der gesamten formalen Struktur, d.h. in der Flexion der Nomina und Verba, in der Wortbildung, im Wortschatz, im Lautstand und in der Syntax. Da die Ähnlichkeiten der Sprachen immer größer werden, je weiter man im Vergleich zurückgeht, nahm man an, dass es eine gemeinsame Ursprache gegeben habe, das Urindogermanische. Heute nimmt man an, dass die Indogermanen ursprünglich in Mitteleuropa oder in Osteuropa lokalisiert waren und sich im 4. Jahrtausend von dort ausbreiteten.

Nun sind die Ausdrücke verwandt und Sprachfamilie allerdings nur metaphorisch zu verstehen, denn natürlich kann eine Sprache nicht eigentlich von einer anderen „abstammen“, da sie ja nichts Konkretes und unabhängig von den Sprechenden Bestehendes ist. „Verwandte Sprachen sind in Wirklichkeit ein und dieselbe Sprache, die im Laufe der Zeiten im Munde der Sprechenden vielfach verändert wurde.“22 Im Grunde also erkannte man, dass Sprachen sich verändern, historische Gebilde sind, auch wenn sich bei weiteren Forschungen zeigte, dass die Entwicklung komplizierter verlief als man zuerst glaubte.

6. Die Entdeckung gesellschaftlichen Wandels: Die Historiographie

Der eine oder andere wird sich vielleicht gefragt haben, wo denn die Geschichtsschreibung selbst bleibt, die historische Disziplin par excellence, hier verstanden als die Wissenschaft von der Geschichte der menschlichen Gesellschaft (eingeschlossen Politik, Krieg, Kultur). Tatsächlich begann die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Welt nicht auf dem Felde der menschlichen Gesellschaft. Bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein war man sich weitgehend nicht klar, „welch tiefe Spuren die Zeit im menschlichen Leben und Wirken hinterlassen hatte.“23 Vor allem aber entnahmen frühere Geschichtstheorien – etwa die christliche Auffassung von der Heilsgeschichte – ihre Kategorien zum Verständnis der Zeitläufe nicht diesen selbst. Geschichte ist aber nicht verständlich aus dem Studium der Bibel, sondern nur aus ihr selbst: und diese reflexive Formulierung ist beabsichtigt, denn, wie die Doppeldeutigkeit des Wortes Geschichte anzeigt, ist Geschichte sowohl Geschehen wie auch Beschreibung (und damit Verstehen) des Geschehens.

Als Vorläufer einer solchen von historischem Bewusstsein getragenen Geschichtsphilosophie ist Giambattista Vico (1668-1744) zu nennen. Und dann muss Herder mit seinen vier Bänden Ideen zur Philospohie der Geschichte der Menschheit (1784-91) erwähnt werden; hier wird zum ersten Mal versucht, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte zusammen zu sehen, womit eine Tradition begründet wird, die dann von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Auguste Comte (1798-1857) und Karl Marx (1818-83) fortgeführt wurde. Ihre Sicht der Geschichte war jedoch noch weitgehend theologisch: säkularisierter Rest der christlichen Idee der Heilsgeschichte. Erst die moderne „bürgerliche“ Geschichtswissenschaft seit Leopold von Ranke (1795-1886) und seiner Geschichte der germanischen und romanischen Völker von 1494 bis 1535 (1824) glaubt nicht länger, den Gang der Geschichte, ihre Richtung zu kennen, und schreibt Geschichte nicht mehr im Sinne eines solchen Vor-Urteils (wenn auch Ranke als konservativ eingestellter Katholik glaubte, dass es in Gott einen Sinn gebe, nur eben uns unerkennbar.)

7. Die Einführung der Zeit in die Physik: Die Thermodynamik

Auf diese Art war um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschichtliches Denken in viele Wissenschaften eingedrungen. Eine große Ausnahme jedoch gab es und zwar diejenige Wissenschaft, die die fortgeschrittenste war und das Modell für Wissenschaftlichkeit abgab: die Physik. Und es ist auch schwer einzusehen, wie die Wissenschaft von den beobachtbaren Naturvorgängen und ihren Gesetzmäßigkeiten historisiert sollte werden können, läuft doch der Begriff der Gesetzmäßigkeit auf zeitlose Gültigkeit hinaus. Zwar hat sich auch in der Physik vieles, das einst als unwandelbar galt – etwa das Molekül –, als der Veränderung unterworfen herausgestellt, aber der Kernbereich – die Naturgesetze – eben nicht.

Ihre bis dahin höchste Ausprägung hatte die Physik in der klassischen Mechanik von Isaac Newton (1643-1727) gefunden, dem System der Naturbeschreibung auf der Basis der Gravitationskräfte. Nach dieser Auffassung ist die Welt eine Maschine, und daher spricht man von „mechanistischem“ Denken. Die Zukunft ist durch die Gegenwart bzw. jeden beliebigen Moment der Vergangenheit determiniert. Die klassische Mechanik ist zwar nicht „statisch“, denn sie untersucht ja nicht zuletzt die Bewegungen von Körpern unter dem Einfluss von Gravitationskräften, aber in dieser sogenannten klassischen „Dynamik“ ist die Zeit lediglich ein geometrischer Parameter. Vergangenheit und Zukunft spielen ein und dieselbe Rolle. Insofern kennt dieses Weltbild keine qualitativen und keine unvorhersehbaren Veränderungen, kein echtes ,Werdenʻ.

 

Das änderte sich mit der Formulierung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, der den Begriff der Evolution in die Physik einführte.24 Dieser Zweite Hauptsatz wurde 1850 von Rudolf Clausius (1822-88) aufgestellt. Die Fassung, die für die Zwecke dieser Argumentation am besten geeignet ist, besagt, dass Wärme von selbst nur von höherer zu niederer Temperatur übergeht. Man kann den Zweiten Hauptsatz auch den Satz von der Vermehrung der Entropie nennen; er besagt dann, „daß bei einem in einem abgeschlossenen System ablaufenden natürlichen (irreversiblen) Prozeß Zustände wachsender Wahrscheinlichkeit durchlaufen werden, bis der Prozeß schließlich im Gleichgewicht, dem Zustand maximaler Wahrscheinlichkeit, endet.“25

Das bedeutet, dass einige Gesetze der Thermodynamik nicht symmetrisch gegenüber Zeitumkehr sind. Zukunft und Vergangenheit spielen verschiedene Rollen. Das Naturgeschehen hat einen Zeitsinn. Bringt man beispielsweise zwei Körper mit verschiedenen Temperaturen in enge Berührung, so stellt sich nach einer bestimmten Zeit ein thermisches Gleichgewicht her; das Umgekehrte hat man noch nie beobachtet. Wenn eine Porzellantasse auf den Küchenboden fällt, zerbricht sie – jedenfalls meistens; das Umgekehrte, dass sich nämlich ein Scherbenhaufen spontan zu einer Tasse zusammenfügt, hat man noch nie beobachtet. Man spricht hier von „irreversiblen Prozessen“, und der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik drückt die Tatsache aus, dass irreversible Prozesse eine Richtung der Zeit einführen. Und ohne die Richtung der Zeit einzuführen, kann man keine Prozesse, die eine Entwicklung einschließen, auf nicht-triviale Weise beschreiben. Damit erhalten die Phänomene der unbelebten Natur eine geschichtliche Dimension, erhält der Begriff der Entwicklung einen Sinn auch in der Welt von Masse und Energie.

8. Der Weg zu Darwins Abstammungslehre (Carl von Linné, Johann Wolfgang von Goethe, Erasmus Darwin, Jean-Baptiste de Lamarck, Charles Darwin)

Ansätze zu einem geschichtlichen Denken in der Biologie gibt es seit alters her, aber stets nur als unsystematische Ahnungen. Normalerweise ging man von der Konstanz der Arten aus, und dieses statische Denken in der Biologie feierte im Zeitalter der Aufklärung gerade noch einmal einen großen Triumph, und zwar im Werk Carl von Linnés (1707-78),26 dem wir das System der Benennung der Pflanzen und Tiere und überhaupt die Systematisierung der Vielfalt der Lebewesen verdanken, eine Taxonomie, die von der Unveränderlichkeit der Arten ausgeht.27

Dann aber setzte sich immer unabweisbarer der Gedanke durch, dass auch die Lebewesen geschichtlich geworden sind, wie der Kosmos und die Erde. Goethes Idee der „Ur-Pflanze“28 gehört hierhin, betrifft allerdings eher die Veränderungen beim Wachstum der einzelnen Pflanzenart, ähnlich wie Rousseaus Denken die Entwicklung des einzelnen Menschen vom Säugling über das Kind zum Erwachsenen. Auch Erasmus Darwins (1731-1802) Zoonomia or the Laws of Organic Life (1794-96) ist zu erwähnen,29 worin bereits vieles angedeutet ist, was der berühmte Enkel dann, auf breite Datenbasis gestützt, zu einer systematischen Theorie ausführen sollte.

Der erste, der eine echte – wenn auch falsche – Evolutionstheorie aufstellte, war Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829). Seine Philosophie zoologique von 1809 – zu ihrer Zeit übrigens fast gänzlich ignoriert – leitet die Historisierung der Natur ein.30 Lamarcks Evolutionstheorie ist jedoch keine Deszendenztheorie;31 vielmehr findet nach Lamarck die spontane Urzeugung von Leben aus unbelebter Materie immer wieder statt, und diejenigen Arten, deren Urzeugung am längsten zurückliegt, entfalten sich zu den höchsten Individuen. In dieser Sicht ist der Mensch die älteste Spezies; die Würmer etwa gehören zu den jüngsten Arten, was man daran erkennt, dass sie noch nicht Zeit genug hatten, sich weiterzuentwickeln!

Eine echte Deszendenztheorie – und damit die Vollendung der Historisierung der belebten Natur – ist dann die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882), vorgelegt in dem Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection …, 1859 publiziert, aber schon seit 1837 in den Grundgedanken konzipiert.32 Mit dieser Deszendenztheorie, die hier nicht vorgestellt zu werden braucht, ist die Biologie – auch – eine historische Wissenschaft.

Mit Darwins Evolutionstheorie ist der Höhepunkt der Historisierung der Welt und ihrer Phänomene zwischen circa 1760 und 1860 erreicht – Höhepunkt insofern, als diese Theorie von allen Historisierungen die größten Auswirkungen auf das Weltbild der Menschen hatte. Deswegen kam sie ja auch relativ spät: sie steht dem Wortlaut der Heiligen Schrift entgegen; sie machte die Annahme eines Schöpfergottes unnötig oder verschob den Schöpfungsakt mindestens in den fast unendlich weit entfernten Moment des Urknalls; mit anderen Worten: Sie eliminiert die Teleologie aus den Naturwissenschaften, also die These, dass alles auf ein Ziel hin – von Gott – eingerichtet sei; und sie nimmt dem Menschen seine besondere Stellung im Reich des Lebendigen. So nannte Sigmund Freud Darwins Abstammungslehre eine der großen „Kränkungen“ des Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnis in den Jahrhunderten seit Beginn der Neuzeit: Er ist nur mehr ein hochentwickeltes Tier.33

II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur
Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen
Abstract

Re-writes – that is, the reworking of famous works of literature – have been common literary practice since ancient Greece at least. Nevertheless, re-writes are a characteristic genre of contemporary English and American literature, and the present essay is an attempt at explaining the phenomenon and at connecting it to related types of metafiction, e.g., sequel, ‘prequel’ and adaptation. Several novels are then discussed as examples of the various forms of hybridity: A. Fell's The Mistress of Lilliput (against the foil of Gulliver’s Travels), J. Updike’s Gertrude and Claudius (Hamlet), H. Fieldings’s Bridget Jones’s Diary (Pride and Prejudice), E. Tennant’s The Two Women of London (Dr. Jekyll and Mr. Hyde).

I

Die letzten zwei oder drei Jahrzehnte sind, vor allem in der englischen und amerikanischen Literatur, die Blütezeit einer Untergattung des Romans bzw. der Erzählliteratur sowie des Dramas, die ich fürs erste mit dem englischen Wort re-write bezeichnen will, erstens, weil sich dieser Terminus in der englischsprachigen Literaturwissenschaft eingebürgert hat, und zweitens, weil er neutraler als andere mögliche Begriffe ist und keine Vor-Urteile transportiert.

Ovids Metamorphosen (ca. 10 n.Chr.) werden in zahlreichen Bearbeitungen, Neufassungen und Pastiches wiedererzählt.1 Der Herakles des Euripides (zwischen 421 und 415 v.Chr.) erhält eine Neufassung – halb Übersetzung, halb Palimpsest – von Simon Armitage.2 Bekannte europäische Märchen werden von Angela Carter in veränderter Form neugestaltet, z.B. Ritter Blaubart oder La Belle et la Bête.3 Das berühmte Tagebuch, das Samuel Pepys (1659–69) führte, erhält ein Pendant aus der Sicht seiner Frau Elizabeth.4 Charles Dickens, als Vertreter einer realistischen Romankonzeption ein eher unerwarteter Kandidat für postmoderne Spielereien mit Rückbezüglichkeit, Wirklichkeitsverlust und Pan-Fiktionalismus, hat so viele re-writes inspiriert, dass er „zu den am ergiebigsten geplünderten Autoren der englischen Literatur” gezählt werden kann,5 vermutlich weil einige seiner Romane so sehr im allgemeinen Bewusstsein Englands präsent sind, dass ihr Wiedererkennungswert in den Neugestaltungen besonders hoch ist – eine Voraussetzung dafür, dass ein re-write als solches erkannt wird. Henry James inspirierte mit The Awkward Age (1899) Elizabeth Bowens The Death of the Heart;6 mit The Author of Beltraffio (1885) Philip Roths The Ghost Writer7 und mit The Altar of the Dead (1895) François Truffauts Film La Chambre verte.8 Oscar Wilde hat Dutzende von Dramen und Romanen inspiriert, viele davon in den letzten Jahren, oft einfach in dem Sinn, dass man sich seiner Aphorismen und Paradoxa bedient, wenn man sein Leben, seine Prozesse, seine Werke darstellt,9 gelegentlich aber auch im engeren Sinn eines re-write, indem beispielsweise Mark Ravenhills Theaterstück Handbag, or The Importance of Being Someone10 Wildes The Importance of Being Earnest (1895) in die Gegenwart holt (und dabei weitgehend transformiert).

Derart könnte man nun fortfahren und Titel um Titel nennen, und einige werden im folgenden an geeigneter Stelle auch noch erwähnt und genauer erörtert werden. Aber, so wird man vielleicht fragen, ist das denn wirklich ein neues Phänomen?

Neugestaltungen mythologischer Stoffe und literarischer Sagen gibt es in der Tat seit Homer und damit von Anfang an. Die Erfindung einer neuen Handlung durch einen Dramatiker oder einer unerhörten Geschichte durch einen Epiker war sogar eher die Ausnahme, bis in der Neuzeit und vor allem seit der Romantik die Hochschätzung des Originalgenies in der Literatur sowie gesamtgesellschaftlich die Zunahme der Individualisierungstendenzen dazu führten, dass die Autoren eigene Stoffe erfanden und thematische oder technische Innovation zu höchsten Werten wurden.

Homers Epen (8. Jhd. v.Chr.) sind bekanntlich „nur“ die schriftliche Fixierung tausendfach mündlich tradierter Mythen und Sagen. Die Tragödien von Aischylos, Sophokles, Euripides (alle 5. Jhd. v.Chr.) oder Seneca (1. Jhd. n.Chr.) sind Neugestaltungen wohlbekannter Stoffe, und zumindest für Euripides gilt bereits die uns Spätgeborenen vertraute Motivation der Wiederbelebung toter Mythen und abgelebter tragischer Gestaltungsmuster. Virgils Aeneis (7–19 n.Chr.) wird von den Fachleuten sowohl in zahllosen Details als auch in den Großstrukturen als imitatio Homers bezeichnet, und der später zum Schulbuch-Klassiker avancierte Autor konnte von manchen Kritikern zunächst als plagiator gescholten werden. Der oben als Inspirationsquelle angeführte Ovid war mit seinen Metamorphosen selbst der Anverwandler par excellence mythischer Stoffe und literarischer Gattungen.

Wie hier, so galt auch im mittelalterlichen Epos der künstlerische Gestaltungswille dem Detail, der psychologischen Motivation, der sprachlichen Form, kaum jedoch der Erfndung originaler Geschichten oder Charaktere. Und wenn sich ein mittelalterlicher Dichter doch einmal die Erfindung eigener Abweichungen gestattete, dann verwies er regelmäßig auf eine Quelle (die es vermutlich nicht gab), etwa Geoffrey Chaucer in seinem Versroman Troilus and Criseyde (1385–90). Selbst noch William Shakespeare, das neuzeitliche literarische Genie, verzichtet weitgehend auf Erfndung der großen Linien der Handlung, und ich meine hier natürlich nicht die history plays, die per definitionem re-writes von Geschichtsquellen sind, sondern Werke wie beispielsweise The Winter’s Tale (1610/11), dessen Handlung über weite Strecken recht getreu Robert Greenes Prosaromanze Pandosto (1588) folgt. Und – um den Bogen in die Nähe unserer Gegenwart zu spannen – der ebenfalls oben als Vorlage für re-writes genannte Henry James hat selbst re-writes verfasst, etwa Guest’s Confession (1872, mit The Merchant of Venice (1596–98) als Prä-Text) oder The Marriages (1891, mit George Merediths Emilia in England (1864) als Bezugstext).11 Diesen Beispielen könnten auch im 20. Jahrhundert Listen über Listen hinzugefügt werden, von James Joyces Ulysses (1922, mit der Odyssee als Folie), den man normalerweise gar nicht als re-write wahrnimmt,12 bis hin zu zahlreichen Dramen und Romanen mit Bezug auf die Artus- und Gralssagen.13 Und doch scheint es mir gerechtfertigt, für die letzten Jahre des letzten Jahrhunderts von einer eigenen Blütezeit der Gattung re-write zu sprechen, die unter anderem eng mit politischen Bewegungen wie dem Feminismus oder der Entkolonisierung verbunden ist.14

Da es sich also bei re-writes um ein altehrwürdiges Phänomen handelt, gibt es natürlich auch schon eine lange Begriffsgeschichte, die von imitatio und aemulatio bis Parodie, Travestie oder Pastiche reicht.

 

Entsprechend den neuen Entwicklungen im englisch-sprachigen Raum bietet sich jedoch eine neuere Terminologie an, und so wurde hier bisher von re-writes gesprochen. Den charakteristischen revisionistischen und subversiven Anspruch vieler re-writes gibt hingegen der alte Terminus Kontrafaktur besser wieder als das neutrale Wort re-write. Mit Kontrafaktur – beziehungsweise den entsprechenden lateinischen oder italienischen Bezeichnungen – wurden im Mittelalter geistliche Umdichtungen eines weltlichen Liedes unter Beibehaltung der Melodie bezeichnet, also die Revision des Textes unter Beibehaltung des Kontextes. In Analogie dazu gab es dann auch die Revision des Kontextes unter Beibehaltung des Textes.15 Ein bekanntes Beispiel ist das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, dessen von Martin Luther stammender Text (1534) einen früheren Text ersetzte, der da lautete: „Aus fremden Landen komm ich her.“ Allerdings klingt Kontrafaktur im Deutschen sehr fremd. Der schon angeführte Jürgen von Stackelberg schlägt „Replik“ oder „Gegendichtung“ vor.16

Nicht eingeführt, aber vielleicht einen Versuch wert, ist die Prägung Wi(e)dererzählung, wo Wieder-Erzählung für den neutralen Aspekt – wie re-write – steht und Wider-Erzählung für den subversiven Aspekt – wie Kontrafaktur. Unterscheiden sollte man auf jeden Fall zwischen Wi(e)dererzählung und Nacherzählung („re-telling“), auch wenn es zwischen den beiden Bereichen keine genau definierbare Grenze gibt, sondern eine ausgedehnte Grauzone.

Re-writes in diesem Sinn beziehen sich in Handlung und Figurenkonstellation – mehr oder weniger offensichtlich und getreu – auf einen bibliographisch genau bestimmbaren älteren literarischen Text. Insofern gehören sie zu der Großgattung Meta-Literatur, also Literatur „über“ Literatur. Mit dieser Zuordnung wird ein Ansatz verfolgt, der den Akzent anders setzt als die vielen Untersuchungen, die mit dem gegenwärtig modischen Begriff Intertextualität arbeiten. Ich tue das, weil der Begriff – von Julia Kristeva eingeführt – Assoziationen an das Theoriegebäude des Poststrukturalismus weckt, was ich gerne vermeiden würde, und weil der Begriff auch in seiner vernünftigen deskriptiven Verwendung17 eine viel zu breite Bedeutung hat, um das Spezifische von Wi(e)dererzählungen zu treffen.

Wenn man die Eigentümlichkeit, dergemäß Meta-Literatur meta ist, zum Kriterium einer Unterteilung der Gattungen macht, so ergibt sich etwa die folgende Klassifikation.

1 Werke, in denen ausschließlich, überwiegend oder jedenfalls an zentraler Stelle, über literarische Konventionen, Inspiration, Fiktionalität und ähnliche Probleme reflektiert wird, vorzugsweise über solche, die für das Werk selbst von Belang sind; poetologische Gedichte, etwa Sonette über das Sonett, wären Beispiele. Hier könnte man von poetologischer Meta-Literatur sprechen.

2 Werke, in denen die eigene Niederschrift vorgeführt wird, in denen Autor, Erzähler und Figuren sich mischen, oder in denen auf andere ähnliche Weise die logischen Ebenen von Darstellung und Dargestelltem fusioniert werden; Beispiele wären Werke, deren Struktur russischen Puppen ähnelt – Theater auf dem Theater oder Binnenerzählung in einer Rahmenerzählung oder C. M. Eschers sich wechselseitig zeichnende Hände, oder die Romanfigur als Verfasser des vorliegenden Romans oder die Romanfigur trifft auf ihren Autor. Hier könnte man von ipsoreflexiver Metaliteratur sprechen.

3 Werke, in denen ein literarischer Text die Stelle einnimmt, die in realistischen Werken von der Welt eingenommen wird. Dieser Typ könnte posttextuelle Meta-Literatur genannt werden, weil die Welt, die dargestellt wird, nicht die reale Welt ist, sondern die fiktionale Welt eines (anderen) Buches, weil sich ein Werk dieser Art auf eine literarische Vorlage bezieht.

Diese Liste ist sicher nicht vollständig, aber da es im Zusammenhang mit re-writes auf den letzten Typ ankommt, kann ich hier abbrechen.

Die Definition des dritten Typs von Meta-Literatur fasst also all diejenigen Texte zu einer Gruppe zusammen, die sich auf andere Texte als ihre vorgängige Realität beziehen. Damit ist Folgendes gemeint. Realistische Literatur ist so angelegt, als beschriebe sie eine außerhalb ihrer selbst existierende Welt; tatsächlich erschafft sie die beschriebene Welt allerdings erst im Akt der scheinbaren Beschreibung, die in Wirklichkeit also Darstellung ist. Diese Welt ist im Prinzip meist unsere Welt, wie wir sie unabhängig von ihrer „Beschreibung“ in der Literatur kennen, aber das muss nicht so sein, wie man am Beispiel von Science Fiction oder Fantasy-Literatur sieht, die hier aber dennoch realistisch genannt werden würden, weil sie eine unabhängig vom Text existierende reale Welt zu beschreiben scheinen. Bei dem obigen dritten Typ von Meta-Literatur stammt die dargestellte – scheinbar beschriebene – Welt jedoch selbst wieder (zum Teil) aus einem literarischen Werk. Der Weltbezug ist insofern indirekt, als sich erst die literarische Vorlage auf die Welt außerhalb der Bücher bezieht.

Je nach Eigentümlichkeit des Bezugs auf ein anderes Buch kann man folgendermaßen unterscheiden:

1 Folgeromane (sequels, continuations), das heißt Romane – gelegentlich auch Dramen –, die die Handlung und die (Haupt-)Charaktere eines literarischen Werks – des Originals, der Vorlage oder des Prä-Textes – fortführen;

2 Vervollständigungen (completions), das heißt Romane, die die Handlung eines Romans fortführen, der selbst unvollendet geblieben war;

3 Vor-Geschichten (precursors; scherzhaft, wenn auch etymologisch bedenklich, neuerdings oft prequels genannt), das heißt Romane, die die Vorgeschichte einer Roman- oder Dramenhandlung erzählen;

4 Adaptionen (adaptations), die Transferierung eines Werks in eine andere Gattung oder in ein anderes Medium;

re-writes, also Romane, in denen ein bekannter Roman neugeschrieben wird, was auf vielfältige Weise geschehen kann, zum Beispiel indem dieselbe Handlung aus einer andere Erzählperspektive geschildert wird, indem der Stoff in die Gegenwart transponiert – und entsprechend verwandelt – wird oder indem dieselbe Handlungslinie von einer anderen Gruppe von Figuren getragen wird, etwa von Frauen statt, wie im Ausgangstext, von Männern.

Natürlich sind dies keine gottgegebenen Gattungen oder Arten von Literatur, so wie die Pflanzenarten oder Tierarten in der Natur, die die Biologen identifizieren als Gruppen von Individuen, die sich miteinander fortpflanzen. Das aber bedeutet, dass die Einteilung in Gruppen keine unabhängig von der Einteilung bestehenden „natürlichen“ Zusammenhänge erhellt, wie das bei der Linnéʼschen Taxonomie beansprucht wird. Ein prequel kann auch – zum Teil – ein sequel sein und – ganz und gar – eine Adaption. Ein Folgeroman kann nur in rudimentärer Weise „meta“ zum vorhergehenden Text sein, etwa wenn ein Conan Doyle seiner ersten Sherlock-Holmes-Erzählung eine zweite und weitere folgen lässt, die die erste nicht eigentlich kommentieren oder fortsetzen, sondern ihr einfach folgen, wie ein Kapitel in einem Roman dem vorherigen folgt. Tatsächlich sind die meisten re-writes Mischformen, und gerade darin liegt ihr Reiz. Die Klassifikation hat daher keinen Erkenntniswert als Klassifikation, sondern soll nur der Analyse des einzelnen Werks dienen.18

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