Kirche ist Mission

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Kirche ist Mission
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Roland Hardmeier

Kirche ist Mission

Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis


Zu diesem Buch

Vor unseren Augen vollzieht sich ein dramatischer Wandel – durch Globalisierung und Postmoderne –, der nicht nur Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, sondern auch die Christenheit betrifft. Was bedeutet es, in dieser Welt den Auftrag zu erfüllen, den Jesus Christus der Kirche gegeben hat?

Roland Hardmeier beschreibt in diesem Buch den gegenwärtigen Wandel evangelikaler Missionstheologie hin zur Ganzheitlichkeit des Evangeliums und der Transformation der Welt. Diese radikale Anstiftung bedeutet, dass die Kirche sich neu auf ihre missionarische Aufgabe besinnt und zugleich ihre soziale Verantwortung wahrnimmt – und so zur Heilung der Welt beiträgt.

Der Autor liefert eine umfassende biblische Begründung für ein transformatorisches Missionsverständnis. Durch die Aufarbeitung der missiologischen Entwicklungen in der Zwei-Drittel-Welt, die konsequente Einbeziehung des Alten Testaments und den Blick auf Jesus als Mensch und Prophet vermittelt Roland Hardmeier eine für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts relevante Sicht von Kirche und Mission.

Ausgezeichnet mit dem Peters-Preis 2009 des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie (AfeM).

Über den Autor

Dr. Roland Hardmeier studierte Biblische Theologie an der Akademie für Weltmission in Korntal und Missiologie an der Universität von Südafrika. Von 1995 bis 2010 war er Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz.

Er ist Autor mehrerer Bücher, selbständiger Dozent und Referent und unterrichtet bei IGW International und anderen Institutionen.

www.roland-hardmeier.ch

Impressum

Dieses Buch als E-Book:

ISBN 978-3-86256-757-7, Bestell-Nummer 588 677E

Dieses Buch in gedruckter Form:

ISBN 978-3-937896-77-9, Bestell-Nummer 588 677

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson

Umschlagbilder: © ShutterStock®

Lektorat: David Gysel

Satz: TeXService, Bremen

© 2009 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

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INHALTSVERZEICHNIS

Einführung

Ein persönlicher Entwurf

Überblick

Dank

1Die veränderte Welt

kulturell

hermeneutisch

missiologisch

Evangelisation

Soziale Verantwortung

Transformation

Inkarnation

global

2Die radikale Anstiftung

Wheaton und Berlin (1966)

Lausanne (1974)

Die Wirkung von Lausanne

Der Westen

Pattaya (1980)

Die Sondererklärung

Die Zerrissenheit

Grand Rapids (1982)

Der Konferenzbericht

Die Reaktion aus der Zwei-Drittel-Welt

Wheaton (1983)

Transformation

Umfassende Mission

Manila (1989)

Die Armen

Soziale Verantwortung

Quo Vadis?

Manila bis Gegenwart

3Die neue Perspektive

kontextuell

Prämissen

integrativ

Die Befreiungstheologie

Chancen

Gefahren

Der Westen als Kontext

paradigmatisch

Prämissen

Übertragung

Erster Schritt

Zweiter Schritt

Dritter Schritt

Vierter Schritt

Konsequenzen

Sensibilisierung

Kritikbereitschaft

Ergänzung

4Die Vision der Wiederherstellung

Der Verlust

Der Mensch

Die Strukturen

Die Erde

Gott

Das Böse

Das erste Versprechen

Die Bündnisse

Der Bund mit Noach

Der Bund mit Abraham

Der Bund mit Israel

Der Bund mit David

Der neue Bund

Die Bündnisse und Mission

 

Bilder der Wiederherstellung

Die befreite Schöpfung

Das neue Jerusalem

Ertrag

5Das Licht der Völker

Das Modell

Das Licht der Völker

Die Priesterschaft

Der Exodus

Der Maßstab der Propheten

Der Exodus

Exodus und Theologie

Exodus und Heil

Exodus und Mission

Das Jubeljahr

Funktion

Bedeutung für Israel

Bedeutung für heute

Bedeutung für die Mission

Die Verkörperung

Gemeinschaft

Gerechtigkeit

Gehorsam

Die Kirche

Kirche und Gemeinschaft

Kirche und Transformation

Kirche und Heil

6Das gegenwärtige Reich

Die Vision der Propheten

Die Ausdehnung der Herrschaft

Der Charakter der Herrschaft

Der Ort der Herrschaft

Der Anbruch des Reiches

Der Beginn

Die Zeichen

Das Geheimnis

Das Reich und die Mission

Das Evangelium vom Reich

Der Missionsbefehl

Der Rückbezug zu Matthäus 10

Die schmale Basis

Ein prophetisches Moment

Das Reich und die Kirche

Manifestation

Verkündigung

Demonstration

Alternative

7Der Mensch Jesus

Der Mensch

In der Zwei-Drittel-Welt

In der evangelikalen Bewegung

Im Westen

Der Lehrer

In den Briefen

In Lukas 4,18

In der Gegenwart

Der Prophet

Jesus und die Zeloten

Jesus und der Widerstand

Jesus und die Mächtigen

Jesus und der Tempel

Jesus und die Provokation

Jesus und die Politik

Der Gekreuzigte

Die Tat am Kreuz

Die Wirkung des Kreuzes

Die Auferstehung

Der ganze Jesus

8Das ganze Evangelium

Die ganze Bibel

Der Geltungsbereich

Das Alte Testament

Die Übertragung

Der ganze Jesus

Das ganze Heil

Die persönliche Dimension

Die soziale Dimension

Die kosmische Dimension

Ganzheitlichkeit

Literatur

EINFÜHRUNG

In den evangelikalen Kirchen wächst das Interesse an ganzheitlicher Mission. Das alte Denkmuster, wonach Mission beginnt, wenn jemand in einem fernen Land aus dem Flugzeug steigt, trägt nicht mehr. Es ist Zeit für ein neues missionarisches Paradigma.

In unserer Zeit des Wandels muss die Aufgabe der Kirche neu bedacht werden. Zunehmend wird klar: Mission findet bei uns statt. Die Kirche unterstützt nicht nur Mission, sondern die Kirche selbst ist Mission. Das Bewusstsein wächst, dass die Kirche ihren Auftrag ganzheitlich zu verstehen hat. Doch was ist mit der Rede von der Ganzheitlichkeit gemeint? Handelt es sich um ein biblisches Konzept? Welche biblischen Antworten geben wir auf die Nöte der Welt, in die Jesus uns sendet? Das Gefühl, dass angesichts der sozialen Probleme und der ökologischen Herausforderungen „etwas getan werden muss“ ist deutlich spürbar. Aber: Was genau ist zu tun? Wie sieht ganzheitliche Mission eigentlich aus? Noch fehlt uns eine solide theologische Grundlage, die es uns erlaubt, eine Missionstheologie zur formulieren, die für die Gegenwart relevant ist. Die Diskussion darüber, wie die Kirche in der Welt des 21. Jahrhunderts ihren Auftrag ausführen soll, hat eben erst begonnen. Dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten.

Ein persönlicher Entwurf

Im Frühjahr 2008 habe ich meine Dissertation an der Universität von Südafrika mit dem Titel Das ganze Evangelium für eine heilsbedürftige Welt: Zur Missionstheologie der radikalen Evangelikalen abgeschlossen. Die Arbeit daran hat mein Interesse an einem ganzheitlichen Missionsverständnis geweckt. Ich habe im deutschsprachigen Raum jedoch vergeblich nach einer verständlichen Einführung in dieses Thema gesucht. Diesen Umstand habe ich als Aufforderung empfunden, mich selbst an die Arbeit zu machen.

Mit diesem Buch lege ich meinen persönlichen Entwurf eines ganzheitlichen Missionsverständnisses vor. Es scheint mir, dass wir im Westen lange Zeit versäumt haben, eine Theologie zu entwickeln, die relevant für unsere heutige Situation ist. Die Zeit drängt. Die Welt befindet sich im Wandel. Kirche und Mission sind herausgefordert, biblische Antworten zu geben. Aus diesem Grund wage ich es, eine Argumentation für Ganzheitlichkeit vorzulegen, auch wenn ich selbst noch offene Fragen habe. Man muss das Eisen schmieden, wenn es glüht.

Mein Hauptanliegen mit dem vorliegenden Buch ist es, eine gut zugängliche Einführung in die biblischen Themen zu geben, die für ein ganzheitliches Missionsverständnis von Bedeutung sind. Um eine zusammenhängende Argumentation zu erreichen, habe ich mehr in die Breite gearbeitet als in die Tiefe. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei einiges unscharf bleibt. Es ist meine Hoffnung, dass mein Beitrag andere ermutigt, an einzelnen Themen vertieft zu forschen.

Mit diesem Buch können sich Studierende, aber auch interessierte Christen, die keine theologische Ausbildung haben, mit ganzheitlicher Mission befassen. Auf Fachbegriffe und theologische Auseinandersetzungen habe ich möglichst verzichtet und die Sprache einfach gehalten.

Überblick

Dieses Buch ist aus der Erkenntnis entstanden, dass in der evangelikalen Theologie europäischen Zuschnitts eine ganzheitliche Missionsbegründung fehlt. Das Bewusstsein ist gewachsen, dass evangelikale Kirchen und Missionen eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit geben müssen. Es fehlt im deutschen Sprachraum jedoch eine solide biblische Theologie aus evangelikaler Feder, um ein solches Engagement zu begründen und langfristig durchzuhalten. Im Laufe meiner Studien bin ich vor allem auf Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt gestoßen, welche in der Verantwortung gegenüber der Bibel als Gottes Wort eine ganzheitliche Missionstheologie entwickelt haben. Ihre Erkenntnisse möchte ich meinen Lesern mit diesem Buch zugänglich machen. Es herrscht Südwind. Es ist Zeit, dass wir auf unsere Brüder und Schwestern im Süden hören. Kirche ist Mission entwickelt sich in 8 Themen:

Kapitel 1 „Die veränderte Welt“ zeigt auf, dass wir in einer veränderten Welt leben und dass diese Tatsache eine Veränderung der Missionstheorie einschließlich ihrer Praxis mit sich bringen muss, wenn evangelikale Christen in Zukunftrelevant sein wollen.

Kapitel 2 „Die radikale Anstiftung“ bietet einen geschichtlichen Abriss der neueren missionstheologischen Entwicklungen der weltweiten evangelikalen Bewegung. Er beginnt im Vorfeld des Weltmissionskongresses von Lausanne 1974 und zeigt anhand der auf Lausanne folgenden Missionskongresse, wie sich das evangelikale Missionsverständnis auf Transformation hin veränderte. Eine zentrale Rolle in dieser Veränderung spielten die so genannten „radikalen Evangelikalen“. Mit ihrer Forderung, Jesus radikal nachzufolgen und sein Leben als Modell der Mission zu begreifen, lösten sie einen Prozess mit nachhaltiger Wirkung aus.

 

Kapitel 3 „Die neue Perspektive“ deckt die hermeneutischen Vorüberlegungen einer auf Transformation ausgerichteten Missionspraxis auf. Insbesondere in der Zwei-Drittel-Welt setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Evangelium am besten in der Solidarität mit den Armen verstanden werden kann. Aus der Perspektive der Armen und Machtlosen begann eine zunehmende Zahl von evangelikalen Theologen, wichtige biblische Aussagen neu zu verstehen. Es geht ihnen nicht darum, die traditionellen christlichen Wahrheiten zu bekämpfen, sondern die historischen Erkenntnisse des Christentums durch neue Überlegungen zu bereichern, so dass sich der Glaube in einer globalen Welt behaupten kann.

Kapitel 4 „Die Vision der Wiederherstellung“ gibt einen heilsgeschichtlichen Überblick über die missionarische Intention der Bibel. Dieses Kapitel vermittelt sozusagen den theologischen Gesamtüberblick über das Buch. Es setzt beim Sündenfall an und beschreibt, wie Gott in den alttestamentlichen Bündnissen das Versprechen auf die Wiederherstellung aller Dinge gab. Es schließt mit einem Blick in die biblische Zukunftserwartung, mit der angezeigt wird, dass Gott die gesamte Welt erneuern und zum Heil führen will.

Kapitel 5 „Das Licht der Völker“ befasst sich mit der Bedeutung Israels für die Mission. Es geht davon aus, dass Israel als Licht der Völker ein Modell dafür ist, was Gott mit der ganzen Welt im Sinn hat. Der Exodus und das Jubeljahr werden auf ihre missionstheologische Bedeutung hin untersucht. Dabei wird deutlich, dass Gott nicht nur an der Veränderung des einzelnen Menschen interessiert ist, sondern auch an der Transformation der Institutionen und Strukturen, welche das soziale Leben der Menschen prägen. Aus dieser Betrachtung umfassenden Heils, das Gott in Israel zu wirken bereit war, ergibt sich eine starke Motivation für ganzheitliche Mission.

Kapitel 6 „Das gegenwärtige Reich“ ordnet das Missionsgeschehen in eine biblische Reich-Gottes-Theologie ein. Es zeigt auf, dass mit dem Kommen von Jesus das im Alten Testament versprochene Reich gegenwärtig ist. Mission bedeutet im Grunde genommen nichts anderes als die Ausdehnung des Reiches Gottes zu den Völkern. Somit ist die Mission von zentraler heilsgeschichtlicher Bedeutung und der eigentliche Sinn der Zeit zwischen der Menschwerdung Jesu und seiner Wiederkunft. Das Verhältnis der Kirche zum Reich Gottes wird untersucht und es wird argumentiert, dass die Kirche nicht nur die Aufgabe hat, das Heil zu verkündigen, sondern es durch ihre Gemeinschaft auch verkörpern soll.

Kapitel 7 „Der Mensch Jesus“ erfasst das Gesamtwerk Jesu in seiner Bedeutung für die Mission. Es beschreibt Jesus als Gekreuzigten, Mensch, Lehrer und Prophet. In diesem Kapitel wird deutlich, dass der Tod und die Auferstehung von Jesus zentral für eine biblische Missionstheologie sein müssen. Die Missionsbegründung vom Kreuz her wird jedoch erweitert und das gesamte Leben von Jesus missiologisch gedeutet. Jesus kam, um ein Leben zu leben, das profunde Auswirkungen auf die Nachfolge des einzelnen Christen und die Mission der Kirche hat.

Kapitel 8 „Das ganze Evangelium“ ist eine abschließende theologische Standortbestimmung, welche die Relevanz der vorliegenden Ausführungen zusammenfasst.

Die Kapitel 2 und 3 sind eine vereinfachte Version von Teilen meiner Dissertation. Die Kapitel 4–8 enthalten Themen, die in der Dissertation am Rande oder gar nicht behandelt werden.

Dank

Mein herzlicher Dank gilt dem Institut für Gemeindebau und Weltmission, an dem ich als Dozent unterrichte. IGW leistet mit einer innovativen Perspektive einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer gegenwartsrelevanten Theologie. Fritz Peyer bin ich dankbar für das in mich gesetzte Vertrauen als Dozent und Autor. Mathias Burri und David Neufeld danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit in der Verwirklichung des Projekts. David Gysel hat als Lektor wertvolle Korrekturen angebracht. Die Stiftung Bildung & Forschung, Zürich, die Schweizerische Missions-Gemeinschaft und die Vision Schweiz, Inlandmission der FEG Schweiz, haben mit ihren Druckkostenzuschüssen die Herausgabe mit ermöglicht. Der Freien Evangelischen Gemeinde Kloten, die mich im Sommer 2008 für einige Wochen freistellte, um am Manuskript zu arbeiten, danke ich herzlich für ihre Großzügigkeit. Und meine Frau Elisabeth hat mir geholfen, die letzten Korrekturen anzubringen, damit das Manuskript rechtzeitig fertig wurde.

Roland Hardmeier

Kloten, im Januar 2009

1 | DIE VERÄNDERTE WELT

Dies ist ein Buch über Kirche und Mission im 21. Jahrhundert. Es behandelt eine grundsätzliche Frage: Wie muss die Kirche und ihre Mission aussehen, wenn sie in unserer globalisierten, postmodernen Welt den Auftrag erfüllen will, den Jesus Christus ihr gegeben hat? Durch diese Fragestellung treten zwei besondere Herausforderungen unserer Zeit in den Vordergrund: Die Globalisierung und die Postmoderne.

Die Globalisierung ist ein weltweites Phänomen, das Bewunderung und Kritik hervorruft. Was im 15. Jahrhundert mit dem Befahren der Weltmeere begann, ist zu einer weltweiten Vernetzung geworden. Mit einem Klick habe ich Zugang zu Informationen aus aller Welt. Das T-Shirt, das ich im Laden kaufen kann, wurde irgendwo in einem Entwicklungsland hergestellt – in der Regel zu unwürdigen Bedingungen. Die Globalisierung ist eine Entwicklung mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern. Die Länder der südlichen Halbkugel haben bisher wenig vom wirtschaftlichen Liberalismus profitiert, welcher der Globalisierung zugrunde liegt. Aber gerade die Länder des Südens sind es, die in Zukunft für Kirche und Mission eine wesentliche Rolle spielen werden.

Nebst der Globalisierung wird uns in Zukunft der Begriff der Postmoderne beschäftigen. Die jüngere europäische Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts wird als Moderne bezeichnet. In die Epoche der Moderne fielen die Aufklärung, die Industrialisierung und die Französische Revolution. Traditionelle Werte wurden hinterfragt, bildeten aber immer noch einen gesellschaftlichen Konsens. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts spricht man von der Postmoderne, also der Zeit, die nach (post) der Moderne einsetzte. Zu den Kennzeichen der Postmoderne gehören die Absage an die Vernunft der Aufklärung, eine kritische Betrachtung jeglichen universalen Wahrheitsanspruchs, der Verlust traditioneller Bindung und eine radikale Pluralität.

Vor unseren Augen vollzieht sich ein dramatischer Wandel, der nicht nur Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. Auch die Kirche und die Mission sind von diesem Wandel betroffen. „Wir leben in einer Zeit weltweiten Wandels von religionsgeschichtlichem Ausmaß.“ Dieser Satz von Philip Jenkins (2006, 11) trifft in auffälliger Weise auf die evangelikale Bewegung zu. Wenn die evangelikalen Kirchen für die Postmoderne gerüstet sein wollen und ihre Mission eine angemessene Antwort auf die Verwerfungen der Globalisierung geben soll, müssen sie sich der Tatsache des tiefgreifenden Wandels stellen, in dem wir uns befinden.

Die Evangelikalen im Westen haben das Ausmaß dieses Wandels noch kaum wahrgenommen. Für die Zukunft der evangelikalen Kirchen und Missionen wird es nötig sein, sich den gegenwärtigen Veränderungen bewusst zu werden und eine biblische Antwort darauf zu geben. Es ist eine der Absichten dieses Buches, die gegenwärtigen Veränderungen innerhalb der weltweiten evangelikalen Bewegung zu beschreiben. Ich möchte eine biblische Navigation zur Verfügung stellen, die es erlaubt, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie müssen Kirche und Mission aussehen, wenn sie in unserer Welt des Wandels den Auftrag von Jesus Christus erfüllen wollen?

Wie stark sich die Welt verändert hat, zeigt ein Blick in die Zeit unserer Großeltern. Im Jahr 1910 versammelten sich im schottischen Edinburgh 1400 protestantische Repräsentanten aus Kirche und Mission zu einer der bedeutendsten Konferenz der modernen Missionsgeschichte. Das Motto der Konferenz „die Evangelisierung der Welt in dieser Generation“ war Ausdruck eines glühenden missionarischen Eifers und eines ebenso großen Glaubens an den Erfolg der Mission.

Die Atmosphäre in Edinburgh war optimistisch. Man befand sich in der Hochblüte des Kolonialismus und des aufstrebenden Industriezeitalters. Die Technik machte Quantensprünge. Der Kirche standen durch Eisenbahnen, Dampfschiffe und Printmedien neue Mittel für die Verbreitung des Evangeliums zur Verfügung. Die westlichen Staaten beherrschten weite Teile der Erde. Das koloniale Weltgefüge verschaffte den Missionaren Zugang zu zahlreichen Ländern, in denen das Evangelium noch kaum Fuß gefasst hatte. Durch die wirtschaftliche Vormachtstellung des Westens standen den protestantischen Missionen enorme Geldbeträge zur Verfügung. Die Spendeneingänge für die Mission waren seit Jahren im Steigen begriffen. Die Zukunft war in den Händen der Kirche, die Werkzeuge, um sie zu gestalten, lagen bereit. Zum ersten Mal in der Geschichte setzte die Kirche dazu an, den gesamten Globus innerhalb von nur einer Generation mit dem Evangelium zu durchdringen.

Heute leben wir in einer gegenüber 1910 veränderten Welt. Der Erste Weltkrieg erschütterte den Optimismus von Edinburgh nachhaltig. Der Untergang der Titanic wurde zum Symbol für die Grenzen des menschlich Machbaren. Heute wissen wir längst, dass die Technik nicht nur Probleme löst, sondern auch welche schafft. Der Kolonialismus ist Vergangenheit, die Religionen sind erstarkt, soziale Nöte dringen ins Bewusstsein der Menschen. Die Postmoderne hat Zynismus und die Auflösung traditioneller Werte hervorgebracht.

Mit der veränderten Welt haben sich in den hundert Jahren seit Edinburgh auch die Mission und das Verständnis von Kirche verändert. In diesem einführenden Kapitel skizziere ich einige dieser Veränderungen und deute an, welche Bedeutung sie für das Missionsverständnis und die Kirche in der Postmoderne haben. Die Veränderungen, die ich beschreibe (und im Laufe dieses Buches detaillierter nachzeichne) betreffen:

• Kulturelle Veränderungen (Diese haben nachhaltigen Einfluss auf die Kirche und die Mission.)

• Missiologische Veränderungen (Sie sind eine Reaktion auf die Veränderungen der Kultur.)

• Hermeneutische Veränderungen (Die Hermeneutik ist die Lehre von den Auslegungsregeln der Bibel. Hermeneutische Veränderungen sind der Versuch eines neuen Zugangs zum Verständnis der Bibel aufgrund der veränderten Situation.)

• Globale Veränderungen (Dazu gehören die sozialen Probleme und die Folgen des Klimawandels.)