Medizingeschichte

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Wolfgang Uwe Eckart, Robert Jütte

Medizingeschichte

Eine Einführung

2., überarbeitete und ergänzte Auflage

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2014

Wolfgang Uwe Eckart ist Professor für Geschichte der Medizin und

Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin

an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

Robert Jütte ist Professor für Geschichte und Leiter des Instituts

für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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unter www.utb-shop.de.

Umschlagabbildung:

Petrus Morellusd, Methodus praescribendi formulas remediorum.

Amsterdam 1680 (© Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung)

1. Auflage 2007

2., überarbeitete und ergänzte Auflage 2014

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in the EU

UTB-Band-Nr. 2903 | ISBN 978-3-8252-3927-5 (ePub)

Über dieses eBook

Der Böhlau Verlag steht gleichermaßen für Tradition und Innovation. Wir setzen uns für die Wahrung wissenschaftlicher Standards in unseren Publikationen ein – auch unsere elektronischen Produkte sollen wissenschaftlichen Anforderungen genügen.

Deshalb ist dieses eBook zitierfähig, das Ende einer gedruckten Buchseite wurde in Form von Text-Hinweisen kenntlich gemacht. Inhaltlich entspricht dieses eBook der gedruckten Ausgabe, auch das Impressum der gedruckten Ausgabe ist vorhanden.

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Über dieses eBook

Vorwort zur ersten Auflage

Vorwort zur zweiten, erweiterten Auflage

1 Einführung

1.1 Medizingeschichte: Aspekte, Aufgaben, Arbeitsweisen

1.2 Exkurs: Geschichte der Medizingeschichtsschreibung

2 Quellen, Literatur, Hilfsmittel und Forschungseinrichtungen

2.1 Gedruckte und ungedruckte Quellen und deren Zitierweisen

2.2 Artefakte und andere „Überreste“

2.3 Bilder und neue Medien

2.4 Oral History

2.5 Medizinhistorische Gesamtdarstellungen

2.6 Bibliographien

2.7 Nachschlagewerke und Enzyklopädien

2.8 Internet – World Wide Web

2.9 Fachbibliotheken und Medizinhistorische Institute

2.10 Archive mit medizin- und wissenschaftshistorisch relevanten Beständen

2.11 Museen

2.12 Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten

3 Methoden und theoretische Ansätze

3.1 Wissenschaftsgeschichte

3.2 Ideengeschichte

3.3 Sozialgeschichte

3.4 Historische Anthropologie

3.5 Patientengeschichte

3.6 Frauen- und Geschlechtergeschichte

3.7 Körpergeschichte

3.8 Biographie und Prosopographie

3.9 Historische Demographie

4 Grenzgebiete und Nachbardisziplinen

4.1 Pharmaziegeschichte

4.2 Technikgeschichte

4.3 Ethnomedizin

4.4 Volkskundliche Gesundheitsforschung

4.5 Medizinethik

4.6 Pflegegeschichte

4.7 Geschichte der Alternativen Medizin

4.8 Geschichte der Zahnmedizin

5 Medizinhistorische Grundbegriffe

5.1 Medikalisierung

 

5.2 Professionalisierung

5.3 Nosologie, Pathographie, retrospektive Diagnose

5.4 Medikale Kultur/Volksmedizin

5.5 Schulmedizin und medizinische Schulen

5.6 Periodisierung

5.7 Biopolitik und Verrechtlichung der Medizin

Anhang

Medizinhistorische Zeitschriften (Auswahl)

Personenregister

Sachregister

Rückumschlag

Vorwort zur ersten Auflage

Medizingeschichte ist heute nicht nur Pflichtfach (neben Theorie und Ethik) im Curriculum des Medizinstudiums an deutschen Universitäten und bedeutendes Element im Kanon der übrigen wissenschaftshistorischen Disziplinen. Auch andere akademische Fächer haben die Geschichte der Heilkunde in ihrer jeweils kulturgebundenen Ausprägung sowie wegen ihrer Kulturgrenzen überschreitenden Konzept- und Praxisvielfalt als unverzichtbares Forschungsthema von hoher kultur-, gesellschafts- und politikwissenschaftlicher Relevanz für sich entdeckt. In erster Linie sind hier die allgemeine Geschichts- und Literaturwissenschaft zu nennen; aber auch für die theologischen Wissenschaften, die Philosophie, die historische Rechtswissenschaft, die Psychologie, die Volkskunde, die Anthropologie und Ethnologie eröffnet die Geschichte der Medizin (um eine Geschichte der Gesundheit erweitert) inzwischen durchaus wichtige Deutungsfelder. Dass gerade die der Medizin unmittelbar benachbarten Bereiche der Pharmazie und der Pflegewissenschaften in besonderer Weise auf methodische und inhaltliche Kenntnisse auf dem Feld der Medizingeschichte angewiesen sind, muss nicht eigens betont werden.

Dem Umstand, dass diesem großen und wachsenden interdisziplinären Interesse bislang keine neuere methodische Handreichung zum Einstieg ins Studium und in die Forschung zur Verfügung stand, wird durch das vorliegende Werk Rechnung getragen. Der letzte Versuch einer „Einführung in die Medizinhistorik“ mit dem Ziel, die Methoden und Themenvielfalt des Faches zu vermitteln, stammt aus dem Jahre 1949 und ist – inzwischen selbst historisch geworden – zwar immer noch lesenswert, aber doch veraltet und zudem nur noch antiquarisch zu erwerben. Der Verfasser, der Mainzer Medizinhistoriker Walter Artelt, hielt es damals noch für geboten, sein Werk mit dem Hinweis auf das in der Medizingeschichte weitverbreitete Dilettantentum zu rechtfertigen. Die Zeiten haben sich inzwischen gewandelt. Die professionelle Geschichtsschreibung hat sich längst der Medizingeschichte angenommen, doch eine Einführung in das Fach, die diesem Paradigmenwechsel Rechnung trägt, war bislang ein Desiderat, wenngleich ansonsten an Einführungen in die unterschiedlichsten historischen (Sub-)Disziplinen (von der Historischen Anthropologie bis zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) kein Mangel herrscht. Zwar hat vor einigen Jahren eine Gruppe [<<7] jüngerer Medizinhistoriker den Versuch unternommen, das Methodenbewusstsein des Faches zu schärfen (Paul, Norbert/Schlich, Thomas (Hg.): Medizingeschichte – Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Frankfurt am Main 1998), doch kann dieser heterogene Aufsatzband eine umfassende Einführung in das Fach, die auch Hilfsmittel und Werkzeuge benennt sowie Fähigkeiten wissenschaftlichen Arbeitens auf diesem Gebiet vermittelt, nicht ersetzen. Eine solche Arbeitshilfe fehlt bislang nicht nur auf dem deutschen, sondern auch auf dem internationalen Buchmarkt.

Das vorliegende Werk, das zum Eigenstudium und besonders zum Einsatz in Einführungsveranstaltungen gedacht ist, stellt vor diesem Hintergrund den Versuch dar, die wesentlichen Voraussetzungen und Grundkenntnisse zum Studium der Medizingeschichte und für Forschungen auf diesem Gebiet zu vermitteln. Das geschieht sowohl unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands als auch mit Blick auf die Wege der Forschung. Dabei werden grundlegende Aspekte der allgemeinen Methodik des historischen und wissenschaftsgeschichtlichen Arbeitens ebenso thematisiert wie Besonderheiten der Medizinhistorik, die es als eigenständiges Fach erst seit etwa 100 Jahren gibt.

Auf die Einleitung, in der unter anderem auf die Aufgaben und generelle Bedeutung der Medizingeschichte sowie auf die Geschichte dieser Disziplin eingegangen wird, folgt ein erster Teil, in dem Quellen, Literatur, Hilfsmittel und Forschungseinrichtungen vorgestellt werden. Im Anschluss daran werden die Methoden und die unterschiedlichsten theoretischen Ansätze knapp skizziert. Des Weiteren richtet sich der Blick auf die Grenz- und Nachbargebiete, wozu unter anderem auch die Pflegegeschichte und die Geschichte der Zahnmedizin gehören. Abschließend werden die wichtigsten Grundbegriffe (z. B. Medikalisierung, retrospektive Diagnostik), die in der modernen Medizingeschichtsschreibung immer wieder an zentraler Stelle auftauchen, dargestellt und kritisch hinterfragt.

Am Ende eines jeden Kapitels finden sich umfangreiche bibliographische Angaben und Weblinks. Diese Informationen ermöglichen die Vertiefung des hier präsentierten methodischen und theoretischen Grundwissens. Hinsichtlich der aufgeführten Weblinks ist freilich auf das kurze Verfallsdatum solcher Angaben zu verweisen, dem in den Folgeauflagen dieser Einführung jeweils Rechnung zu tragen sein wird. Die im Anhang abgedruckte Liste der wichtigsten medizinhistorisch relevanten Zeitschriften (darunter auch solche, die ihr Erscheinen bereits eingestellt haben) dient ebenfalls der Orientierung und nimmt für sich nicht in Anspruch, vollständig zu sein.

Heidelberg/Stuttgart, im September 2007

Wolfgang Uwe Eckart/Robert Jütte [<<8]

Vorwort zur zweiten, erweiterten Auflage

Nachdem die erste Auflage vergriffen ist, haben sich Verlag und die beiden Autoren der Herausforderung gestellt, eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage dieser Einführung, die von der Kritik als „Standardwerk“ gelobt wurde, auf den Markt zu bringen, zumal die Nachfrage weiter anhält und ein ähnliches Lehrbuch nicht existiert, weder in deutscher noch in einer anderen Sprache. An der bisherigen Gliederung wurde weitgehend festgehalten. Einzelne Kapitel, wie z. B. das über Bilder und neue Medien, wurden um weitere Teilaspekte ergänzt. Ein Kapitel über Biopolitik und Verrechtlichung kam neu hinzu. Die beibehaltenen Kapitel wurden teilweise gekürzt, teilweise auch ergänzt. In allen Fällen wurde der Text auf den neuesten Wissensstand gebracht. Auch die Bibliographien und die Weblinks wurden überprüft und gegebenenfalls aktualisiert. Unser Dank gilt allen Rezensenten, die das Werk nicht nur gelobt und zur Übersetzung empfohlen haben, sondern auch Fehler aufgedeckt und Verbesserungsvorschläge gemacht haben. Wir haben nach Möglichkeit versucht, diese Anregungen aufzugreifen, ohne allerdings das Lehrbuch im Kern und in seiner Zielsetzung zu verändern. Danken möchten die Autoren nicht zuletzt Frau Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau-Verlag, ohne sie wäre es vermutlich nicht zu einer Neuauflage gekommen.

Heidelberg/Stuttgart, im Februar 2014

Wolfgang Uwe Eckart/Robert Jütte [<<9]

1 Einführung
1.1 Medizingeschichte: Aspekte, Aufgaben, Arbeitsweisen

Eine Einführung in die Medizingeschichte muss sich zwangsläufig damit beschäftigen, was Medizingeschichte eigentlich ist. Dies wiederum setzt voraus, dass auch der Gegenstand des medizinhistorischen Interesses, die Medizin also in unserem Fall, in seinen Grundzügen definiert oder doch zumindest seinen Grundphänomenen entsprechend in einer Weise beschreib- und begrenzbar ist, die ihn für eine historische Betrachtung handhabbar macht. Alle Fragen von Gesundheit und Krankheit sind ebenso bedeutende wie bedrängende Grundprobleme der Menschheit wie die von Leib und Seele, Gott und Welt, Natur und Mensch. Medizingeschichte beschäftigt sich prinzipiell mit den historischen Lösungsversuchen solcher Fragen und bemüht sich um die Einordnung in ihren historischen Kontext. Dass ein solches Bemühen einen umfangreichen Katalog philosophischer, anthropologischer, ethnologischer, religiöser, kultureller, wissenschaftlicher, rechtlicher oder politischer Fragen – um hier nur einige der tangierten Themenfelder zu nennen – eröffnet, liegt auf der Hand. Selbst wenn wir uns auf einen möglichst weit gefassten Begriff von Medizin einigen würden, der – curativ – das professionelle oder vorprofessionell-private Mühen um Wiederherstellung eines subjektiv oder intersubjektiv feststellbar verlorenen Körperzustandes beschreibt, der früher als Gesundheit, körperliche oder geistige Integrität oder auch nur als Störungsfreiheit hätte beschrieben werden können, einen Begriff von Medizin, der zugleich – präventiv – alle Formen der Meidung und alle Maßnahmen zur Verhütung eines subjektiv oder intersubjektiv als nicht gesund empfundenen Körperzustandes meint – selbst dann hätten wir zwar eine grobe Umschreibung dessen, was Medizin als Heilkunde und Heilpraxis curativ und präventiv ganz wesentlich tut. Wir hätten uns aber zugleich um erwartete Definitionsversuche von Krankheit und Gesundheit gedrückt, hätten noch keine Aussage über die kulturelle und soziale Funktion von Heilen (im Sinne der Reintegration) und von vorausgehendem Verhüten (im Sinne der Prävention) getroffen, und schon gar nicht über die Rolle der Medizin überall dort, wo sie im Falle des unwiederbringlichen Verlustes definierter körperlicher oder geistiger Funktionen sich darum müht, einen Menschen wieder in seinen vormals [<<11] existierenden körperlichen Zustand beziehungsweise – wo dies unmöglich ist – in seine soziale oder juristische Position zurückzuversetzen, um auf diese Weise über Rehabilitation eine Reintegration zu erreichen.

Nun kann es nicht Aufgabe einer Einführung in die Medizingeschichte sein, umfassende Begriffsdefinitionen von Krankheit, Gesundheit, Heilung, Prävention, Rehabilitation oder Reintegration zu liefern. Immerhin ist mit diesen Begriffen aber bereits zumindest das theoretische und praktische Aufgabenfeld dessen umschrieben, dem sich Medizingeschichte als Geschichte der Heilkunde und Heilpraxis in ihrem jeweils gültigen historisch-sozialen, kulturell-mentalen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext zuzuwenden hat. Es liegt auf der Hand, dass Medizingeschichte in dieser Perspektive nicht ohne das methodische Instrumentarium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte sowie der Anthropologie und der Ethnologie betrieben werden kann, wenngleich sich ihre primären Erkenntnisinteressen von denen der genannten Disziplinen durchaus unterscheiden können, aber keinesfalls immer müssen (Brieger, 1993; Cooter, 2007).

Die Erkenntnisinteressen der Medizingeschichte sind traditionell vielfältig, und entsprechend wählt sie ihre Gegenstände und Methoden (Paul/Schlich, 1998; Bröer, 1999). Das Forschungsfeld umfasst ein weites Spektrum von Themen, methodischen Zugängen und Perspektiven (Bynum/Porter, 1993). Die Medizingeschichte – sei sie, wie in Deutschland, als eigenständige Disziplin überwiegend an Medizinischen Fakultäten beheimatet oder, wie in vielen anderen Ländern, den Allgemeinen Geschichts- oder Kulturwissenschaften angelagert – kann auf eigenständig gewachsene Traditionen, eigene Fragestellungen und hochdifferenzierte Forschungsinteressen und Schwerpunkte verweisen. Einer jüngeren Tendenz folgend öffnet sie sich jedoch zunehmend Anliegen, Methoden und Fragestellungen, die für ein ganzes Spektrum sehr verschiedener Wissenschaftsbereiche bedeutend sind. Mit dieser Grenzüberschreitung verbunden ist zugleich eine Abkehr von eher traditionell gebundenen Sehweisen, romantisch verklärten oder fortschrittsorientierten Geschichtsbildern und engen Funktionszuweisungen, etwa in der Beschränkung auf die Rolle der Medizingeschichte als Sozialisationsinstrument in der ärztlichen Ausbildung. Medizingeschichte erschließt sich damit zugleich selbst als durchaus heterogenes Feld einer geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen, aber auch politischen Auseinandersetzung mit der Medizin, ihren Grundlagen und ihren konkreten Rahmenbedingungen im jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Diese perspektivische Neuorientierung hat auch dazu geführt, dass Medizingeschichte nicht mehr eine traditionell ärztliche oder philologische Domäne ist, sondern dass in ihr als Themenbereich wie auch als akademische Disziplin Sozial- und Wissenschaftshistoriker, Kulturwissenschaftler, Kunst- und Literaturhistoriker, [<<12] Ethnologen, Philosophen oder auch Publizisten kooperieren. Die Themenfelder haben sich gleichfalls differenziert. Neben die klassische epochen-, ereignis-, institutionen- und personenorientierte Medizinhistoriographie sind nun Ideen- und Konzeptgeschichte der Medizin (S. 167), Sozialgeschichte (S. 173), Professionalisierung (S. 364) und Medikalisierung (S. 357), Patientengeschichte (S. 201) und Körpergeschichte (S. 229) sowie Historische Demographie (S. 261) getreten, um nur die wichtigsten neuen Subdisziplinen zu nennen.

 

1.1.1 Klassische Themenfelder

Bezogen auf die europäische (einschließlich der vorderasiatischen und nordafrikanischen) Medizingeschichte, richtet sich die epochenorientierte Medizinhistoriographie (Periodisierung, S. 391) nach den traditionellen Großepochen der frühen Hochkulturen (Babylon, Ägypten), der griechischen und römischen Antike, der byzantinischen und frühen persisch-arabischen Kultur, des westlichen und arabischen Mittelalters, der Renaissance und des Humanismus, der Vor- und Hochaufklärung sowie der Neuzeit. Die Behandlung vollständiger Epochen der Medizingeschichte bleibt in der Regel der Hand- und Lehrbuchliteratur (Medizingeschichte: Aspekte, Aufgaben, Arbeitsweisen, S. 15; Bibliographien, S. 96) vorbehalten. Ausnahmen bilden epochenbezogene Fragestellungen (z. B. babylonische Pharmakotherapie, Abtreibung in der Antike, Sport und Medizin in der griechisch-römischen Antike, Anatomie im Mittelalter, Körperhygiene in der Aufklärung). Für Magisterarbeiten und Dissertationen sind solche Großthemen in der Regel ungeeignet.

Bei der klassischen medizinischen Ereignisgeschichte geht es meist um bedeutende Entdeckungen, Erstbeschreibungen oder Erst(be)handlungen (z. B. die Beschreibung des großen Blutkreislaufs, die Entdeckung der Digitaliswirkung, die erste Magenoperation oder die erste Herzkatheterisierung). Ereignisgeschichte ist ein Begriff, der in der Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte heute gelegentlich abwertend in Abgrenzung von der eben auf Ereignisse fixierten „klassischen“ Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts benutzt wird. Diese Ablehnung weist auf die oftmals verkürzt rezipierten Strukturgeschichte der französischen Schule der Annales (der Name leitet sich ab von der 1929 durch Marc Bloch (1886–1944) und Lucien Febvre (1878–1956) gegründeten geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift Annales d’histoire économique et sociale) besonders um Fernand Braudel (1902–1985). Tatsächlich untersucht die Strukturgeschichtsschreibung keine singulären Ereignisse, sondern größere historische Prozesse, Konjunkturen und Strukturen von längerer Dauer (la longue durée), in denen individuellen Handlungen und Einzelereignissen wenig Spielraum und nur geringe [<<13] Geschichtsmächtigkeit zugewiesen wird. Ereignisse wären vielmehr stets Folgen derartiger Prozesse und von „kurzer Dauer“ (la brève durée) (Braudel, 1969, S. 45). So wäre beispielsweise in der Medizingeschichte die Entdeckung des großen Blutkreislaufs (1628) Folge (und nicht unmittelbarer Auslöser) eines komplexen wissenschaftshistorischen Prozesses, der letztlich zum Fall humoralpathologischer Vorstellungen führte. Die physiologische Neuorientierung auf das Experiment und die Bedeutung des Buchs der Natur (liber naturae), in deren Folge der große Blutkreislauf entschlüsselt wurde, wäre nur ein Element dieses Prozesses. In der modernen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte wird indes die Notwendigkeit der Ereignisgeschichte nicht mehr bestritten; vielmehr scheint ihr – wenn sie, durchaus im Sinne der Strukturgeschichte, gut betrieben wird – wieder eine gewisse Attraktivität zuzuwachsen (Frevert/Haupt, 2005, S. 7).

Ähnlich bestellt ist es um die Institutionengeschichte und Biographik innerhalb der Medizinhistoriographie. So ist etwa die Hospital- und Krankenhausgeschichte als größter Komplex innerhalb der medizinischen Institutionengeschichte längst nicht mehr auf eine Bau- und Architekturgeschichte zu reduzieren (Artefakte und andere „Überreste“, S. 46). Auch Hospital- und Krankenhausgeschichte kann heute nur als ein komplexes Gefüge aus ideengeschichtlichen, sozial- und medizinhistorischen oder demographischen ebenso wie aus wirtschafts- und verwaltungshistorischen Voraussetzungen, Strukturen und Prozessen verstanden werden, oder sie bleibt Fragment (Ammerer et al., 2010). Es wird dies besonders deutlich, wenn der früher stark auf Hospital- und Krankenhausgeschichte verengte Arbeitsbereich der Institutionengeschichte auf andere erweitert wird, etwa auf kommunale oder private, karitative und gesundheitsfürsorgende Einrichtungen, auf Schulen, Universitäten, Akademien, Institute und Forschungszentren, auf Ministerien und Ämter der Gesundheitsverwaltung oder auf militärische Einrichtungen und Einheiten, um hier nur wenige Beispiele zu nennen.

Gleiches gilt für die medizinhistorische Biographie und Pathographie, die inzwischen den früher nahezu ausschließlich und äußerst eng gesehenen und behandelten Zusammenhang von Person-Werk-Leistung (Bioergographie) oder Person-Krankheit-Leiden (Pathographie) zugunsten einer struktur- und mentalitätsgeschichtlich geleiteten Bio- und Pathographik überwunden hat. Unter Biographie (gr. βιογραφία, von βίος– das Leben und γραφή– die Schrift) wird zunächst die Lebensbeschreibung einer Person selbst verstanden. Hierbei handelt es sich um die mündliche oder schriftliche Präsentation des Lebenslaufes. In der Historiographie geht es um die Lebens-, Beziehungs- und Leistungsrekonstruktion einer fremden, meist unter bestimmten Fragestellungen bedeutenden Person. Quellen hierfür können Autobiographien, Testamente, Briefe, Urkunden und andere persönliche oder amtliche Quellen sein. Biographik ist [<<14] weit mehr als die Rekonstruktion wichtiger Lebensschritte, Lebensabschnitte oder Leistungen, sie ist zugleich der Versuch einer subjektiven Sinn- und intersubjektiven Bedeutungsrekonstruktion einer Person in ihrem historischen Kontext. Biographien, insbesondere Autobiographien, sind bedeutende Gegenstände der Literaturwissenschaft, der Soziologie, der Germanistik, der Pädagogik, der Psychologie, der Theologie sowie der Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte und haben dort je eigene Forschungstraditionen entwickelt (Scheuer, 1979; Klein, 2002). In der Medizinhistoriographie belegt die Beliebtheit und schiere Menge biographischer Arbeiten, dass – zumindest in der Vergangenheit – das Geschichtsbild von Medizinern und Medizinhistorikern in der Annahme einer weitgehenden Identität des Faches mit seinen ‚hervorragenden Protagonisten‘ ruhte. Die methodische Entwicklung der Geschichtswissenschaft hat auch für die Geschichte der Medizin zu einem anderen Verständnis der wissenschaftlichen Biographik und ihrer Bedeutung geführt. Trotz allem leistet die medizinhistorische Biographik auch heute noch einen – ebenso begrenzten wie unverzichtbaren – Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Sie bearbeitet deren personale Dimension – im Rahmen einer methodisch differenzierten Geschichtsschreibung. Herausragende neuere medizinhistorische Biographien etwa über Rudolf Virchow (Goschler, 2002), Robert Koch (Gradmann, 2005) oder Karl Brandt (Schmidt, 2009) belegen dies.

Neue Wege werden auch in der modernen Pathographie beschritten. Ursprünglich ein methodischer Teil- und Arbeitsbereich der Psychiatrie und Psychotherapie, hat sich die Pathographik (Nosologie, Pathographie, retrospektive Diagnose, S. 370, Patientengeschichte, S. 201) als krankheitsbezogener Teil der Biographik im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu einer bemerkenswert populären medizinhistorischen Literaturgruppe entwickelt. Häufig der psychoanalytischen Methode verpflichtet, blieb die Pathographik in der neueren Medizinhistoriographie nicht unkritisiert. Es gibt jedoch Bemühungen um ihre sinnvolle Einordnung und Neuorientierung als Rekonstruktion von Krankheit im Rahmen einer methodisch entwickelten struktur-, körper- und mentalitätsgeleiteten Geschichtsschreibung (Hawkins, 1999; Hilken, 1993; Engelhardt, 2003).

Hinzuweisen bleibt noch auf die medizinische Lokal-, Regional- und Ländergeschichte. Während die krankheitsbeschreibende medizinische Geographie heute, abgesehen von kolonialhistorischen Studien (Eckart, 1997), in der medizinischen Historiographie im Grunde kaum noch eine Rolle spielt, wohl aber in den geographischen Wissenschaften wiederentdeckt wird, gehörte sie doch zu den herausragenden medizinischen und auch medizinhistorischen Literaturgruppen vor allem des 19. Jahrhunderts. Inhaltlich und methodisch begründet wurde sie von dem Medizinhistoriker August Hirsch (1817–1894), vor allem in dessen Hauptwerk Handbuch der historisch-geographischen Pathologie (Stuttgart 1881–1886). Moderne medizinische [<<15] Geographie ist ein Teilgebiet der Anthropogeographie, die sich mit dem lokalen, regionalen oder nationalen Gesundheitsstatus und der Gesundheitsversorgung beschäftigt. Zusammen mit der medizinischen Anthropologie, der Medizinischen Soziologie und den ökonomischen Gesundheitswissenschaften ist die Medizinische Geographie darum bemüht, geographische Faktoren zu finden und zu verstehen, die die Gesundheit von Individuen, Populationen und Gesellschaften (Jones/Moon, 1987, Dyck, 2011) beeinflussen. Daran gemessen sind die Ansprüche der traditionellen medizinischen Lokal-, Regional- und Ländergeschichte – obwohl häufiger Gegenstand medizinhistorischer Dissertationen – bislang weniger ambitioniert. Man begnügt sich meist mit einer diachronen Darstellung der medizinischen Institutionengeschichte, Umrissen einer lokalen historischen Epidemiologie und einer Geschichte der örtlich, regional oder überregional wirkenden Medizinalpersonen und -systeme im Sinne einer Mikro- und Makrogeschichte des Öffentlichen Gesundheitswesens (Fischer, 1933). Hier könnte eine intensive Kooperation mit den geographischen Disziplinen (Meade/Earickson, 2000) zu wesentlichen methodischen Verbesserungen dieses an sich spannenden Arbeitsgebietes der Medizingeschichte beitragen, etwa zur Rekonstruktion historischer Modelle lokaler Krankheitsentstehung und Gesundheitsfürsorge. Die Medizinhistoriographie entdeckt in jüngster Zeit diese klassische Disziplin neu (Rupke, 2000).