Die Korrespondenz mit dem Kardinalprotektor von England beschäftigte Percy Franklin täglich direkt mindestens zwei Stunden, und indirekt nahezu acht.
In den letzten acht Jahren hatte der Heilige Stuhl, den modernen Bedürfnissen entsprechend, seine gewohnte Methode einer Revision unterzogen, und jede wichtige Kirchenprovinz des gesamten Erdkreises besaß nun nicht nur einen sie leitenden Metropoliten, sondern auch einen Vertreter in Rom, dessen Aufgabe es war, einerseits mit dem Papste, andrerseits mit den Diözesanen, die er vertrat, in direkter Verbindung zu stehen. Mit anderen Worten, die Zentralisation hatte, Hand in Hand mit den Gesetzen des Lebens, rasche Fortschritte gemacht, und damit auch die Freiheit in der Methode und die Ausdehnung der Macht. Englands Kardinalprotektor war Abt Martin, ein Benediktiner, und es war Percys Aufgabe, wie auch die eines Dutzend weiterer Bischöfe, Priester und Laien (mit denen, beiläufig erwähnt, jede Form von Beratung ihm verboten war), jenem täglich in einem langen Briefe Bericht zu erstatten über die Dinge, die zu seiner Kenntnis kamen.
Es war daher ein merkwürdiges Leben, das, Percy führte. Er hatte im erzbischöflichen Palais zu Westminster ein paar Zimmer angewiesen erhalten und gehörte, wenn ihm auch weitgehende Freiheit gelassen war, zu dem Kapitel der Kathedrale. Er erhob sich früh, widmete eine Stunde der Betrachtung, worauf er seine Messe las. Dann frühstückte er, betete ein wenig Brevier und machte sich an den Entwurf seines Berichtes. Um zehn Uhr stand er Besuchern zur Verfügung und war dann gewöhnlich bis Mittag in Anspruch genommen teils von jenen, die freiwillig kamen und ihn zu sprechen wünschten, teils von seinem Stabe, von einem halben Dutzend Berichterstattern, die ihm angezeichnete Artikel aus Zeitungen nebst ihren eigenen Bemerkungen dazu zu besorgen hatten. Dann speiste er gemeinsam mit den übrigen Priestern des Hauses; nach Tisch ging er aus, Leute aufzusuchen, deren Ansichten zu hören ihm notwendig erschien; kurz nach sechzehn Uhr pflegte er zurückzukehren zu einer Tasse Tee. Nach Beendigung seines Breviers und einem Besuch beim heiligsten Altarssakrament schloss er sich ein, seinen Brief abzufassen, der bei aller Kürze doch bedeutende Aufmerksamkeit und genaue Abwägung erforderte. Nach dem Abendessen machte er sich einige Notizen für den nächsten Tag, empfing wieder Besuche und ging bald nach zweiundzwanzig Uhr zur Ruhe. Zweimal in der Woche war er verpflichtet, nachmittags an der Vesper teilzunehmen, und samstags hielt er gewöhnlich das Hochamt.
Es war daher ein eigentümlich zerstreuendes Leben, das er führte, ein Leben, nicht ohne Gefahren.
Eines Tages, kurze Zeit nach seinem Besuch in Brighton, als er eben seinen Brief beendete, teilte ihm sein Diener, da Kopf zur Türe herein steckend, mit, dass Father Francis unten sei.
»In zehn Minuten«, sagte Percy, ohne aufzusehen.
Er schrieb die letzten Zeilen, entnahm den Bogen der Maschine und begann, unbewusst das Latein ins Englische übersetzend, das Geschriebene zu überlesen.
»Westminster, den 14. Mai.
Eminenz!
Seit gestern bin ich in den Besitz einiger weiterer Nachrichten gelangt. Es erscheint als gewiss, dass die Vorlage, betreffend den Gebrauch des Esperanto für alle staatlichen Angelegenheiten, im Juni eingebracht werden wird. Ich habe dies durch Johnson erfahren. Wie ich schon früher auseinandersetzte, ist dies der letzte Stein zur Befestigung unserer Beziehungen zum Kontinent, was in diesem Augenblicke zu bedauern ist … Ein großer Zudrang der Juden zum Freimaurertum ist zu erwarten. Bisher hatten sich die Juden bis zu einem gewissen Grade ferngehalten, doch hat die Abschaffung der Gottesidee das Ihrige getan, diejenigen Juden, welche nicht Anhänger der Idee eines persönlichen Messias sind, und deren Zahl in der letzten Zeit bedeutend angewachsen ist, in die Bewegung hereinzuziehen. Auch hier ist es der Menschheitsglaube, der am Werke ist. Ich hörte heute in diesem Sinne den Rabbi Simeon in der City sprechen, und der Beifall, der ihm zuteilwurde, hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Es besteht auch eine sich immer mehr steigernde Erwartung, dass das Auftreten des Mannes unmittelbar bevorstehe, der an die Spitze der kommunistischen Bewegung treten und ihre Kräfte enger zusammenschließen werde. Ich schließe einen umfangreichen diesbezüglichen Ausschnitt aus dem ›Neuen Volk‹ bei, der allgemein Widerhall gefunden hat. Man sagt, dass die Umstände hindrängen auf das Erscheinen eines solchen Mannes in allernächster Zeit, dass während der letzten hundert Jahre Propheten und Vorläufer erstanden seien, und sich ein Aufhören derselben in letzter Zeit feststellen lässt. Es ist merkwürdig, wie dies im großen ganzen sich mit den Lehren des Christentums deckt. Ew. Eminenz wollen bemerken, dass das Bild der ›Neunten Woge‹ mit einer gewissen Berechtigung angewandt wird … Ich hörte heute von dem Abfall einer alten, katholischen Familie, der Wargraves von Norfolk, samt ihrem Kaplan Micklem, der, wie es scheint, seit längerem schon in dieser Richtung tätig war. Die ›Epoche‹ berichtet dies in Anbetracht der besonderen Umstände mit Befriedigung; aber leider sind solche Fälle jetzt nicht mehr außergewöhnlich … Es besteht viel Argwohn unter der Laienwelt. Sieben Priester der Diözese Westminster haben sich in den letzten drei Monaten von uns losgesagt; andrerseits freut es mich, Eurer Eminenz zu berichten, dass Se. Erzbischöfliche Gnaden diesen Morgen den exanglikanischen Bischof von Carlisle mit einem halben Dutzend seines Klerus in die katholische Gemeinschaft aufgenommen hat. Wir erwarteten dies schon seit einigen Wochen. Ich lege auch Ausschnitte bei aus der ›Tribüne‹, der ›Londoner Trompete‹ und dem ›Beobachter‹,1 mit meinen diesbezüglichen Bemerkungen. Eure Eminenz wollen daraus ersehen, wie groß die Erregung bezüglich dieses Ereignisses ist.
Es dürfte sich empfehlen, die formelle Exkommunikation der Wargraves und genannter acht Priester in Norfolk, bzw. Westminster, bekannt zu geben, im Übrigen jedoch weiter keine Notiz davon zu nehmen.«
Percy legte den Bogen weg, raffte die anderen fünf oder sechs Papiere, die seine Auszüge und Bemerkungen enthielten, zusammen, setzte seine Unterschrift unter den Bericht und steckte alles in den bereitliegenden, bedruckten Umschlag. Dann nahm er sein Birett und begab sich zum Lift.
Der Moment, als er durch die Glastüre in das Sprechzimmer eingetreten war, genügte ihm, um zu sehen, dass die Krisis gekommen, wenn nicht schon vorüber sei. Father Francis sah elend und krank aus, aber es lag eine eigentümliche Härte um seine Augen und seinen Mund, als er so wartend dastand. Er schüttelte jäh den Kopf.
»Ich bin gekommen, um Ihnen Lebewohl zu sagen, Father. Ich kann es nicht länger ertragen.«
Percy bemühte sich, keinerlei Bewegung zu zeigen. Er deutete kurz nach dem Stuhle hin und nahm auch selbst Platz.
»Alles ist zu Ende«, sagte sein Gegenüber mit vollkommen sicherer Stimme. »Ich glaube an nichts. Seit einem Jahre habe ich an nichts mehr geglaubt.«
»Sie haben nichts gefühlt, wollen Sie sagen«, antwortete Percy.
»Das wäre nicht das Richtige, Father«, fuhr der andere fort. »Ich sage Ihnen, dass kein Funke von Glauben in mir geblieben ist. Ich kann dies nicht einmal mehr begründen. Ich kann nur allem Lebewohl sagen.«
Percy hatte nichts mehr zu sagen. Er hatte dem Manne während eines Zeitraumes von über acht Monaten zugesprochen, seit Father Francis ihm anvertraut hatte, dass sein Glaube im Schwinden begriffen sei. Er begriff vollkommen, wie der Fall lag; er fühlte inniges Mitleid mit diesem armen Mann, der hineingerissen worden war in den sinnverwirrenden Wirbel des Triumphes des neuen Menschentums. Äußerlichkeiten hatten gerade in der Gegenwart zum Erschrecken an Kraft gewonnen, sodass es schwer war, sich ihrem Zwange zu entziehen, und der Glaube war, ausgenommen für diejenigen, die sich in ihrem Innersten bewusst waren, dass Wille und Gnade alles und Gefühl nichts bedeuteten, gleich einem Kinde, das in dem Räderwerke einer ungeheueren in Gang befindlichen Maschine herumkrabbelt; es konnte ja wohl lebend davonkommen, es konnte darin aber auch ebenso gut zu nichts zermalmt werden. Jedenfalls waren Nerven aus Stahl erforderlich, um unter solchen Umständen noch auszuhalten. Es war schwer zu entscheiden, inwiefern ein eigenes Verschulden vorlag, und doch sagte es Percy sein Glaube, dass ein solches vorlag. Zu Zeiten des Glaubens würde schließlich auch ein sehr unzulängliches Erfassen der Religion einer Probe standgehalten haben; in dieser Zeit materiellen Strebens aller konnte nur der Demütige und Reine dauernd seinen Glauben bewahren, es sei denn, dass geradezu ein Wunder geschah, ein Wunder von Ignoranz, die etwa noch Schutz gewährte. Die Verbindung der Psychologie mit dem Materialismus schien in der Tat, von einer Seite betrachtet, für alles eine genügende Erklärung zu geben; es bedurfte eines starken, übernatürlichen Empfindungsvermögens, um in ihre praktische Unzulänglichkeit einzudringen. Und soweit Father Francis’ persönliche Verantwortlichkeit in Frage kam, konnte er sich des Gefühles nicht erwehren, dass das Zeremonielle in seiner Religion einen zu breiten, das Gebet aber einen viel zu geringen Raum einnahm. Äußerlichkeiten hatten alles Innerliche in ihm aufgesogen.
Percy ließ daher keinerlei Sympathie in seinen Augen zum Ausdruck kommen.
»Sie glauben natürlich, dass die Schuld an mir liegt?«, fragte jener nicht ohne Schärfe.
»Mein lieber Father«, entgegnete Percy, bewegungslos in seinem Stuhle sitzend, »ich weiß, es ist Ihre Schuld. Hören Sie mich an. Sie sagen, das Christentum ist etwas Absurdes, Unmögliches. Nun wissen Sie aber, dass das nicht sein kann. Es mag unwahr sein — davon spreche ich jetzt nicht, obwohl ich vollkommen gewiss bin, dass es absolut wahr ist —, aber solange gebildete und tugendhafte Leute fortfahren, daran festzuhalten, kann es nicht absurd sein. Sagen, es sei absurd, ist einfach Überhebung; es würde bedeuten, alle jene, die daran glauben, als nicht etwa nur im Irrtum befangen, sondern ebenso jeder Intelligenz mangelnd, als —« »Nun gut also«, unterbrach der andere, »dann nehmen wir einmal an, ich widerrufe und sage einfach, ich glaube nicht, dass es wahr ist.«
»Sie widerrufen nicht«, fuhr Percy ruhig fort, »Sie glauben tatsächlich immer noch daran, dass es absurd ist; Sie haben mir das mindestens ein dutzendmal schon gesagt. Und ich wiederhole Ihnen, dass es Überhebung, dass es Stolz ist, und das reicht vollkommen hin, um alles andere zu erklären. Auf die moralische Stellung, die man einnimmt, kommt es an. Es mögen dann noch andere Dinge Mitwirken —« Father Francis sah scharf auf.
»Natürlich die alte Geschichte«, sagte er höhnisch.
»Wenn Sie mir auf Ihr Ehrenwort versichern, dass kein weibliches Wesen mit im Spiel ist, oder kein spezieller sündhafter Vorsatz, den Sie zur Ausführung bringen wollen, so will ich Ihnen glauben. Aber es ist, wie Sie sagten, eine alte Geschichte.«
»Ich schwöre Ihnen, dass nichts dergleichen vorliegt«, beteuerte mit erhobener Stimme der andere.
»Dann, Gott sei Dank«, sagte Percy, »es sind dann doch weniger Hindernisse, um den Weg zum Glauben zurückzufinden.«
Schweigen herrschte eine Weile nach diesen Worten. Percy hatte wirklich nichts mehr zu sagen. Wieder und wieder hatte er ihm von dem inneren Leben gesprochen, in dem Wahrheiten als wahr erkannt werden und Glaubensakte sich bestätigen; er hatte mit Nachdruck Gebet und Demut empfohlen, immer und immer wieder, bis er selbst ihrer Namen überdrüssig geworden war, und er war auf die Erwiderung gestoßen, dass dies nichts als ein Rat zur Autosuggestion sei. Endlich hatte er daran verzweifelt, ihm, der es selbst nicht einsah, klarzumachen, dass, wenn einerseits auch Liebe und Glaube Autosuggestion, Selbsthypnotismus genannt werden mögen, diese andrerseits doch ebenso sehr Wirklichkeiten sind, wie z. B. künstlerische Anlagen, und daher ähnliche Pflege erfordern; dass sie eine Überzeugung ihrer selbst hervorbringen; dass sie Dinge erwägen und prüfen, welche, wenn einmal erwogen und geprüft, sich unvergleichlich realer und objektiver erweisen, als sinnliche Dinge. Augenscheinliche Beweise schienen für den Mann keine Bedeutung zu haben.
Darum schwieg er jetzt, niedergedrückt durch das Bewusstsein, sich der Krisis gegenüber zu befinden, und ließ seine Blicke, eigentlich ohne etwas zu sehen, in dem kleinen, schlichten, altmodischen Sprechzimmer mit seinem großen Fenster, seinem einfachen, geflochtenen Läufer Herumschweifen, nur durchdrungen von der schrecklichen Hoffnungslosigkeit dieses seines menschlichen Bruders, der Augen hatte, aber nicht sah, Ohren hatte, und doch taub war. Er wünschte, jener möchte sich verabschieden und gehen. Es war hier nichts mehr zu tun.
Father Francis, der in nachlässiger Stellung dagesessen hatte, schien Percys Gedanken zu erraten, und setzte sich plötzlich zurecht.
»Sie sind meiner müde«, sagte er, »ich will gehen.«
»Ich bin Ihrer nicht müde, mein lieber Father«, gab Percy ruhig zurück. »Ich bin nur schrecklich traurig. Sie sehen, ich weiß, dass alles Wahrheit ist.«
Der andere blickte ihn bekümmert an.
»Und ich weiß, es ist nicht«, sagte dieser. »Es ist alles sehr schön, ich wünschte, ich könnte es glauben. Ich bezweifle, ob ich jemals wieder glücklich sein werde — aber — es ist nun einmal so.«
Percy seufzte. So oft hatte er ihm gesagt, dass das Herz ebenso ein göttliches Geschenk ist, wie der Verstand, und dass in dem Suchen nach Gott jenes zu vernachlässigen gleichbedeutend sei mit dem sicheren Ruin, aber dieser Priester hatte kaum je die Anwendung dieser Wahrheit bei sich selbst erkannt. Er hatte mit den alten psychologischen Argumenten geantwortet, dass, was durch die Erziehung suggeriert sei, alles erklärlich und begreiflich mache.
»Ich vermute, Sie werden nichts mehr von mir wissen wollen«, sagte der andere.
»Sie sind es, der von mir scheidet«, sagte Percy. »Folgen kann ich nicht, wenn Sie etwa dies meinen sollten.«
»Aber — aber, können wir nicht Freunde bleiben?«
Des älteren Priesters Herz wurde plötzlich erregt.
»Freunde?«, sagte er. »Verstehen Sie unter Freundschaft nichts weiter als Sentimentalität? Was für eine Freundschaft könnte zwischen uns bestehen?«
Ein finsterer Ausdruck kam plötzlich auf das Gesicht des anderen.
»Ich dachte es mir.«
»John!«, rief Percy. »Sie sehen es ein, nicht wahr? Wie kann zwischen uns ein Verkehr bestehen, wenn Sie nicht an Gott glauben? Denn ich tue Ihnen den Gefallen, anzunehmen, dass dies der Fall ist.«
Francis sprang auf.
»Gut, —«, rief er wütend. »Ich hätte es nie für möglich gehalten. Ich gehe.«
Er wandte sich zur Türe.
»John!« wiederholte Percy. »Wollen Sie so scheiden? Wollen Sie mir nicht die Hand reichen?«
Der andere wandte sich nochmals um, bitteren Groll auf seinem Antlitz.
»Nun, Sie sagten ja, Freunde könnten wir nicht mehr sein.« —
Percy wollte sprechen; dann begriff er und lächelte.
»Ah, nur das verstehen Sie also unter Freundschaft? Ich bitte um Entschuldigung. Nun, höflich können wir schon zueinander sein.«
Er hielt ihm noch seine Hand entgegen. Father Francis sah sie einen Moment an, seine Lippen zitterten: Noch einmal drehte er sich um, und ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.
1 im Original: ›Tribune‹, ›The London Trumpet‹ und ›The Observer‹ <<<
Percy stand regungslos, bis ihm die außen angebrachte automatische Glocke versicherte, dass Father Francis wirklich gegangen war; dann verließ auch er das Zimmer und wandte sich dem langen Gange zu, der in die Kathedrale führte. Während er die Sakristei durchschritt, drangen von fern her Orgelklänge an sein Ohr, und beim Eintritt in die als Pfarrkirche benützte Seitenkapelle bemerkte er, dass im großen Chor noch Vesper gesungen wurde. Das Seitenschiff entlang gehend, wandte er sich nach rechts, durchschritt das Mittelschiff und kniete nieder.
Es war gegen Abend, und der große, dunkle Raum war da und dort durch rötliche Lichtflecken beleuchtet, die die untergehende Sonne über den schimmernden Marmor und die, dank der Freigebigkeit eines reichen Konvertiten, nunmehr in ihrer Vollendung das Gotteshaus schmückende Goldornamente geworfen hatte. Ihm gegenüber erhob sich der Chor mit je einer Reihe mit Chorhemd und Hermelinkragen bekleideter Kanoniker, und in der Mitte der mächtige Baldachin, unter dem die sechs Kandelaber brannten, wie sie seit nunmehr über einem Jahrhundert Tag für Tag gebrannt hatten. Dahinter lag die hohe Apsis mit dem düstren, von Fenstern durchbrochenen Gewölbe, über dem Christus in seiner Majestät thronte. Bevor Percy sich in das Gebet versenkte, ließ er sein Auge ein wenig herumwandern, sich labend an der ihn umgebenden Pracht, lauschend dem Donner des Chores, dem Rauschen der Orgelklänge und der feinen, weichen Stimme des Priesters. Dort zur Linken grüßte der gedämpfte Schein der Lampen, die vor dem Allerheiligsten Sakramente brannten, zur Rechten flackerten ein Dutzend Kerzen vor den hageren Heiligenfiguren, während hoch oben das gigantische Kreuz hing mit dem abgemagerten, abgezehrten armen Manne, der alle, die zu ihm aufblickten, in die Arme Gottes rief.
Dann verbarg er sein Gesicht in den Händen, atmete einige Male tief auf und begann sein Gebet.
Wie er es stets beim betrachtenden Gebet zu tun pflegte, begann er mit einem freiwilligen Akt des Selbstloslösens von der Sinnenwelt. Unter der Vorstellung des Sinkens unter eine Oberfläche drängte er seine gesamten Seelenkräfte nach innen, versenkte sie förmlich, bis der Klang der Orgel, das Schlürfen der Fußtritte, die Härte des Betstuhles unter seinem Handgelenk — bis alles losgelöst und einer mit seiner Person in keinerlei Verbindung mehr stehenden Außenwelt anzugehören schien, bis er sich ganz allein fühlte mit seinem pochenden Herzen, seinem Geiste, der ihm Bild um Bild vorführte und Regungen hervorrief, die zu schwach waren, um sich selbst zu äußern. Dann noch weiter niedertauchend und noch mehr sich loslösend von allem, was er besaß und war, wurde er sich bewusst, dass selbst die Verbindung mit seinem Körper aufhörte, und dass sein Gemüt und Herz, von Ehrfurcht durchdrungen durch die Allgegenwart, die sie umschwebte, sich dem Willen anschmiegten, der ihnen Herr und Beschützer war, und sich ihm unterordneten. Noch einige tiefe Atemzüge, er fühlte die Nähe des Allerhöchsten, stammelte mechanisch einige Worte und versank in jenen Frieden, der dem Aufgeben der eigenen Denktätigkeit folgt.
In diesem Zustand verharrte er eine Weile. Fern über ihm tönte die hinreißende Musik, der Schall der Trompeten und der schrillen Flöten, aber sie wirkten wie unbedeutender Straßenlärm auf einen fest Schlafenden. Er fühlte sich wie durch einen dichten Schleier von der Außenwelt getrennt, jenseits der Grenzen der Sinne und Reflexionen, an jenem verborgenen Orte, zu dem er nach endlosem Mühen erst den Weg sich gebahnt hatte, in jener Region, wo Vorstellungen sich mit der Schnelligkeit des Lichtes ablösen, wo der schwankende Wille bald diesen, bald jenen Akt erfasst, ihn formt und wieder fallen lässt, wo alle Dinge sich treffen, wo die Wahrheit klar zutage tritt, erfasst und erprobt wird, wo der immanente Gott eins ist mit dem transzendenten, wo die wahre Bedeutung der äußeren Welt durch die Erkenntnis ihres inneren Wesens sich erschließt und die Kirche und ihre Mysterien sich darbieten, wie von einem Glorienschein umgeben.
So lag er einige Augenblicke, sich den Eindrücken und der Ruhe hingebend. Dann sich zum Bewusstsein seiner selbst erhebend, begann er: »Herr, hier bin ich und hier bist du. Ich erkenne dich. Nichts ist hier als du und ich All dieses lege ich in deine Hände nieder, — deinen abtrünnigen Priester, dein Volk, die Welt und mich selbst. Vor dir breite ich es aus, — vor dir breite ich es aus.«
Er hielt inne, ließ die gleichmäßige Ruhe seiner Seele sich wiederherstellen, bis alles, was sein Denken beschäftigte, wie eine Ebene am Fuße eines Berges dalag.
»… Ich, o Herr, ich würde ohne deine Gnade in Finsternis und Elend verfallen. Du bist es, der mich behütet. Lass dein Werk in meiner Seele sich vervollkommnen und vollenden. Gib nicht zu, dass ich auch nur einen Augenblick wanke. Ziehst du deine Hand von mir zurück, so sinke ich in Nichts.«
So erhob sich seine Seele, die Hände flehentlich ausgebreitet, doch voll Vertrauen. Dann wurde der zum Bewusstsein zurückgekehrte Wille schwankend, und er erneuerte Akte des Glaubens, der Hoffnung und Liebe, um ihn wieder zu befestigen. Das Gefühl der Allgegenwart, die ihn erbeben machte, ließ ihn tief aufatmen, und er begann von Neuem:
»Herr, blicke auf dein Volk herab! Viele verlassen dich. Zürne uns nicht in Ewigkeit! Ich vereinige mich mit allen Heiligen und Engeln und mit Maria, der Himmelskönigin; blicke auf sie und mich und erhöre uns. Gieße aus dein Licht und deine Wahrheit. Lege uns nicht schwerere Lasten auf, als wir ertragen können. Herr, warum schweigest du?«
In so leidenschaftlichem, erwartungsvollem Verlangen presste er sich nach vorn, dass er die Gelenke seines Körpers krachen hörte. Abermals trat eine Erschlaffung ein, und von Neuem begann das sanfte Spiel wortloser Akte, von denen er wusste, dass sie den Kern des Gebetes bilden. Das Auge seiner Seele wanderte hierhin und dorthin, von Kalvaria1 zum Himmel und wieder zurück, zur mühsalbeladenen, ringenden Erde. Er sah Christus sterbend in seiner Verlassenheit, während die Erde bebte und stöhnte; Christus als Priester, herrschend auf seinem Throne, angetan mit einem Gewände von Licht, Christus, geduldig und in unerbittlichem Schweigen unter den sakramentalen Gestalten, und zu jedem der Reihe nach suchte er den Blick des ewigen Vaters zu lenken …
Dann harrte er der Antwort, und sie kam, so leise und zart, wie Schatten heranschwebend, sodass die Bemühung, sie zu erfassen und zu erwidern, seinem Willen Blutschweiß und Tränen entpresste.
Er sah den mystischen Leib in seinem Todeskampf hingestreckt, er sah die einzelnen Sehnen gezerrt und gekrümmt, bis der Schmerz sie wie aufloderndes Feuer zeigte, Tropfen um Tropfen sah er das Lebensblut von seinem Haupte, seinen Händen und Füßen herabrinnen, und die Welt stand darunter, belustigt und spottend. »Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen … Christus, steige nun herab vom Kreuze, dass wir sehen und glauben.« Weit weg aber, hinter Büschen und aus Erdhöhlen blickten Jesu Freunde hervor und weinten; selbst Maria schwieg, von sieben Schwertern durchbohrt, und der Jünger, den er liebte, hatte kein Wort, ihn zu trösten.
Auch schaute er, wie kein Wort vom Himmel würde herabgesprochen werden, selbst den Engeln war befohlen, das Schwert in die Scheide zu stecken und der ewigen Geduld Gottes zu harren, denn der Todeskampf hatte kaum erst begonnen; tausenderlei Schrecken standen noch bevor, ehe das Ende eintreten sollte, die Fülle der Kreuzigung … Ihm war nur beschieden, zu wachen und zu warten und sich damit zu begnügen, dabeizustehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, und die Auferstehung sollte für ihn nur eine Hoffnung sein, eine Hoffnung, von der er nur träumen durfte. Noch musste erst der Sabbat kommen, währenddessen der mystische Leib in seinem dunklen Grabe zu liegen hatte, und selbst die Würde des Kreuzes musste entschwinden und die Kenntnis, dass Jesus gelebt hatte. Diese innere Welt, zu der er nach langer Mühe den Weg gefunden hatte, war gänzlich mit Todesangst erfüllt, die Bitterkeit der Tränen herrschte dort und jener fahle Glanz, den nur der äußerste Schmerz hervorruft; in seinen Ohren gellte es in einem Ton, der sich bis zum Angstschrei steigerte, … er fühlte sich niedergedrückt, sein Innerstes durchbohrt, auseinandergerissen, wie auf einer Folter …
»Herr, ich kann es nicht ertragen«, stöhnte er.
Da wusste er sich wieder an der Oberfläche des Lebens, die Not seiner Seele äußerte sich in tiefen Atemzügen. Seins Zunge berührte seine Lippen, und seine geöffneten Augen fanden sich der in Dunkel gehüllten Apsis gegenüber. Die Orgel war verstummt, und der Chor leer und die Lichter erloschen. Die glühenden Farben der untergehenden Sonne waren verschwunden, und mit strenger, kalter Miene blickten die Statuen und Bilder hernieder. Er gehörte wieder der Erdenwelt an; was er geschaut, war zerflossen, kaum war er sich noch bewusst, was er gesehen hatte.
Aber er musste die einzelnen Fragmente seiner Erinnerung zusammenstellen und mit seinen Denkkräften verarbeiten. Auch er musste dem Herm, der sich sowohl seinen Sinnen, als auch seinem Herzen mitgeteilt hatte, seinen Tribut dafür bezahlen. So stand er denn auf, steif und gezwungen, und schritt hinüber zur Kapelle des heiligsten Sakramentes.
Als er aus den Reihen der ihn umgebenden Stühle ruhig und aufrecht heraustrat, das Birett wieder auf dem weißen Haar, bemerkte er eine alte Frau, die ihn aufmerksam beobachtete. Er zögerte einen Moment, ungewiss, ob sie etwa zu beichten wünschte, und da sie dieses Zögern gewahrte, schritt sie auf ihn zu.
»Verzeihen Sie, Herr«, begann sie.
Es schien also keine Katholikin zu sein. Er lüftete sein Birett.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte er.
»Verzeihen Sie, Herr, aber waren Sie in Brighton, bei dem Unglück vor zwei Monaten?«
»Gewiss.«
»Ah, ich dachte es mir; meine Schwiegertochter sah Sie damals.«
Percy fing an, ungeduldig zu werden; es ärgerte ihn ein wenig, sogleich an seinem, zu seiner Jugend so stark kontrastierenden Haare wiedererkannt zu werden.
»Waren Sie dort, Madame?«
Zweifelnd und neugierig blickte sie ihn an, ihre alten Augen an seiner Figur auf- und abgleiten lassend. Dann sammelte sie sich.
»Nein, Herr, es war meine Schwiegertochter, — verzeihen Sie, Herr, aber —«
»Nun?«, fragte Percy und gab sich Mühe, die Ungeduld aus seiner Stimme fernzuhalten.
»Sind Sie der Erzbischof, Herr?«
Der Priester lächelte, sodass seine weißen Zähne zwischen den Lippen sichtbar wurden.
»Nein, Madame, ich bin nur ein einfacher Priester. Der Erzbischof ist Dr. Cholmondeley. Mein Name ist Percy Franklin.«
Sie sagte nichts, aber während sie ihn noch anblickte, machte sie einen etwas altmodischen Knicks, und Percy schritt der dunklen, reich geschmückten Kapelle zu, um seine Andacht zu verrichten.
1 Calvaria, die Schädelstätte (Übersetzung des hebräischen »Golgatha«) <<<