Oliver schien während des Mittagstisches eine halbe Stunde später in sehr gedrückter Stimmung zu sein. Seine Mutter, eine alte Frau von nahezu achtzig Jahren, die sich nie vor Mittag sehen ließ, schien es sofort zu bemerken, denn, nachdem sie ihn ein paarmal angesehen und einige Worte mit ihm gewechselt, versank sie in Schweigen und widmete sich ihrem Teller.
Ein angenehmes, kleines Zimmer war es, in dem sie saßen, dicht hinter jenem Olivers und, dem allgemeinen Brauch zufolge, ganz in Grün gehalten. Die Fenster gingen auf einen kleinen Garten hinter dem Hause und auf die mit wildem Wein bewachsene Mauer, welche dieses Besitztum von dem nächsten trennte. Auch die Möbel waren ganz dem allgemeinen Gebrauch entsprechend; ein bequemer, runder Tisch stand in der Mitte, um ihn drei hohe Lehnstühle mit heraufgeschlagenen Armstützen, während das Mittelstück desselben, auf einer runden Säule von ziemlichem Umfang ruhend, das Geschirr trug. Seit dreißig Jahren schon war es in den Häusern der Bessergestellten gebräuchlich geworden, das Speisezimmer oberhalb der Küche anzulegen, und das Servieren der Gänge vermittelst eines in der Mitte des Esstisches befindlichen hydraulischen Aufzuges zu bewerkstelligen. Der Fußboden bestand ganz aus dem in Amerika erfundenen geräuschlosen, sauberen und für Auge und Fuß angenehmen Asbest-Korkpräparat.
Mabel brach das Schweigen.
»Und deine Rede für morgen?«, fragte sie, indem sie zu ihrer Gabel griff.
Oliver nahm einen etwas lebhafteren Ausdruck an und wurde gesprächiger.
Wie es schien, fing Birmingham an, unruhig zu werden. Von Neuem erhob man die Forderung des Freihandels mit Amerika; man begnügte sich nicht mehr mit den innereuropäischen Verkehrserleichterungen, und es war Olivers Aufgabe, sie zu beruhigen. Es wäre nutzlos, nahm er sich vor ihnen zu sagen, in eine Agitation einzutreten, solange die Frage des Ostens nicht erledigt wäre; sie sollten doch die Regierung gerade jetzt nicht mit solchen Kleinigkeiten belästigen. Er hatte außerdem den Auftrag, ihnen zu erklären, dass die Regierung ganz auf ihrer Seite stehe und entschlossen sei, bald zuzustimmen.
»Dickköpfe sind sie«, sagte er ärgerlich, »hartnäckig und selbstsüchtig; sie sind wie die Kinder, die zehn Minuten vor Tisch noch nach dem Essen schreien; es wird ja unbedingt dazu kommen, wenn sie nur ein wenig Geduld haben wollten.«
»Und wirst du ihnen dieses sagen?«
»Dass sie Dickköpfe sind? Selbstverständlich!«
Mabel blickte ihren Gatten mit einem wohlgefälligen Lächeln an. Sie wusste nur zu gut, dass er seine Beliebtheit zum großen Teile seiner Offenherzigkeit verdankte: Den Leuten gefiel es, sich von einem genialen, kühnen Manne, der in magnetischer Ereiferung vor ihnen herumsprang und gestikulierte, Scheltworte und Grobheiten sagen zu lassen.
»Wie wirst du hinfahren?«, fragte sie.
»Flugschiff. Ich werde mit dem um achtzehn von Blackfriars abfahren; um neunzehn ist die Versammlung, und um einundzwanzig bin ich wieder zurück.«
Er ließ sich die Vorspeise sehr gut schmecken, und seine Mutter sah mit dem geduldigen Lächeln einer alten Frau auf.
Mabel begann, leise mit den Fingern auf der Damastdecke zu trommeln.
»Sei so gut und beeile dich, mein Lieber«, sagte sie, »ich muss um drei Uhr in Brighton sein.«
Oliver schluckte den letzten Bissen hinab, schob seinen Teller in die Mitte der Tischplatte zurück, blickte umher, ob auch die übrigen Teller dort untergebracht seien, und griff mit der Hand unter den Tisch.
Sofort und ohne jedes Geräusch verschwand das Mittelstück, und die Drei warteten mit der gewohnten Gleichgültigkeit, während das Klirren der Teller von unten heraufklang.
Die alte Mrs. Brand war eine rüstig aussehende Dame und trotz der Runzeln noch von frischer Gesichtsfarbe; sie trug eine auf dem Haupt befestigte Mantilla, wie sie etwa vor fünfzig Jahren Mode war; doch auch an ihr konnte man diesen Morgen eine gedrückte Stimmung bemerken. Die Vorspeise war nach ihrer Ansicht nicht recht gelungen, der neue Nährstoff nicht so gut wie der frühere, er war ein klein wenig sandig; nach Tisch wollte sie einmal danach sehen.
Da vernahm man wieder das Klirren, ein schwaches, schiebendes Geräusch, und das Mittelstück erschien wieder an seinem Platze, eine wunderbare Nachahmung eines Brathuhnes tragend. —
Oliver und seine Gattin befanden sich nach Tisch auf einige Minuten allein, ehe Mabel sich auf den Weg machte, um den vierzehn einhalb Uhr abgehenden Zug der zweiten Hauptlinie nach dem Kreuzungspunkt zu erreichen.
»Was ist denn mit Mutter?«, sagte er.
»Ach, es ist wieder das Nährstoffpräparat; sie kann sich nicht daran gewöhnen, sie meint, es bekommt ihr nicht gut.«
»Weiter nichts?«
»Nein, Lieber, ich bin sicher, nichts weiter. Sie hat sonst kein Wort gesagt.«
Oliver blickte seiner Frau beruhigt nach, als sie den Pfad entlang ging. In letzter Zeit hatten ihm hier und da ein paar sonderbare Äußerungen seiner Mutter zu denken gegeben. Sie war während einiger Jahre im Christentum erzogen worden, und manchmal schien es ihm, als hätte dies einen Eindruck zurückgelassen. Sie hatte ein altes Gebetbuch, »Seelengarten«, das sie gern bei sich trug, obwohl sie immer mit einem Anschein von Geringschätzung protestierte, es sei nur Unsinn. Und doch wäre es Oliver lieber gewesen, sie hätte es verbrannt. Aberglaube ist ein verzweifeltes Ding, an das sich das entfliehende Leben klammert, und das mit zunehmender Gehirnschwäche sich begreiflicherweise wieder geltend macht. Das Christentum, so sagte er sich, war roh und albern; roh, wegen seiner in die Augen springenden Groteskheit und Unmöglichkeit; und albern, weil es sich so absolut fremd gegenüber dem herzerfreuenden Strome des menschlichen Lebens verhielt. Es schlich unansehnlich umher, wie er wusste, in kleinen, dunklen, da und dort verstreuten Kirchen; es rief mit hysterischer Sentimentalität zum Himmel in der Westminster-Kathedrale, in die er einmal eingetreten war und auf die er mit einer Art angewiderter Wut blickte; es schwätzte sinnloses, unwahres Zeug seinen urteilslosen Anhängern, den alten Weibern und geistig nicht ganz Zurechnungsfähigen, vor. Zu schrecklich wäre es ihm aber, wenn seine eigene Mutter es noch mit wohlwollenden Augen betrachtete.
Oliver selbst war, soweit er nur zurückdenken konnte, stets ein heftiger Gegner aller Zugeständnisse an Rom und Irland gewesen. Es war unerträglich, dass diese beiden Gebiete endgültig jenen Narrheiten, jenem hinterlistigen Blödsinn preisgegeben sein sollten; waren sie doch Pflanzstätten des Aufruhrs, Pestbeulen auf dem Angesichte der Menschheit. Nie war er mit jenen einverstanden, welche meinten, es sei besser, dass all das Gift des Westens sich an einem Orte vereinigt finde, als dass es überall verstreut sei. Auf jeden Fall war es nun einmal da. Rom war gänzlich jenem alten Manne im weißen Talar überlassen und hatte dafür sämtliche Pfarrkirchen und Kathedralen Italiens in Tausch gegeben, und es galt als ausgemacht, dass mittelalterliche Finsternis dort unumschränkt herrschte. Und Irland hatte, nachdem es vor dreißig Jahren sich selbst zur eigenen Verwaltung überlassen worden war, sich für den Katholizismus erklärt und seine Arme dem Individualismus in seiner bösartigsten Form geöffnet. England hatte lachend seine Einwilligung gegeben; war es doch durch die unmittelbare Übersiedelung der Hälfte seiner katholischen Bevölkerung nach jener Insel befreit von einer beträchtlichen Quantität Gärungsstoffes; es hatte sogar im Einverständnis mit der kommunistischen Kolonialpolizei dem Individualismus dort jede Erleichterung gewährt, um ihn sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben zu lassen. Komische Dinge aller Art ereigneten sich dort. Oliver hatte, belustigt und zugleich erbittert, von dort erfolgten, neueren Erscheinungen einer in Blau gekleideten Frau gelesen, und dass, wo ihr Fuß geruht hatte, Kapellen errichtet worden waren. Einen weniger belustigenden Eindruck machte auf ihn Rom, denn durch Verlegung der italienischen Regierung nach Turin hatte die Republik beträchtlich an Gefühlswert verloren und dem alten Religionsschwindel neuerdings zu dem ganzen verlockenden Nimbus einer historischen Erscheinung verholfen. Immerhin, das war unverkennbar, konnte dieser Zustand nicht von langer Dauer sein; die Welt hatte endlich angefangen, zur Einsicht zu kommen.
Einige Augenblicke noch, nachdem seine Frau weggegangen war, stand er an der Türe, Beruhigung schöpfend aus dem herrlichen Anblick dessen, was die Herrschaft gesunder Vernunft hier geschaffen und vor ihm niedergelegt hatte: die endlosen Dächerreihen, die hohen Glaskuppeln der öffentlichen Badeanstalten und Turnhallen, die mit Spitztürmen versehenen Schulen, in denen jeden Morgen das Bürgerrecht gelehrt wurde, die spinnenartigen Kräne und die Gerüste, die da und dort sich erhoben; selbst die wenigen Kirchtürme störten ihn in diesem Augenblick nicht. Da wogte er hin, im grauen Dunste Londons entschwindend, ein Bild wahrhaftiger Schönheit, dieser unermessliche Strom von Männern und Frauen, die endlich die Grundlehre des Evangeliums begriffen hatten: Es gibt keinen Gott außer dem Menschen, keinen anderen Priester als den Politiker, keinen anderen Propheten als den Schulmeister …
Dann machte er sich wieder an die Ausarbeitung seiner Rede. —
Auch Mabel war ein wenig nachdenklich, als sie mit ihrer Zeitung auf den Knien im Zuge nach Brighton saß. Diese Nachrichten aus dem Osten hatten sie mehr beunruhigt, als sie es vor ihrem Gatten hatte merken lassen; und doch schien es unglaublich, dass von einer wirklichen Gefahr einer Invasion die Rede sein könne. Hier im Westen war das Leben so vernünftig und ruhig; endlich hatte der Mensch sich hier auf festen Grund hinaufgearbeitet und es war undenkbar, dass er je wieder in die Lehmhütten zurückgedrängt werden könnte; das wäre ja im direkten Gegensatz zu den Gesetzen der Entwicklung. Und doch musste sie zugeben, dass Katastrophen in der Methode der Natur liegen …
Sie saß ganz ruhig, ein paarmal einen flüchtigen Blick auf die dürftigen unzusammenhängenden Nachrichten werfend, um sich dann in den diese behandelnden Leitartikel zu vertiefen, der ebenfalls in Befürchtungen sich erging. Einige Herren im jenseitigen Halbabteil sprachen über denselben Gegenstand; einer beschrieb die von der Regierung betriebenen Maschinenfabriken, die er eben besucht hatte, und die fieberhafte Eile, mit der dort gearbeitet wurde, während seine Mitreisenden ihn mit Zwischenfragen bestürmten. Dort war also auch keine Ermutigung zu holen. Durch die Fenster konnte sie ebenso wenig blicken, dazu war auf den Hauptlinien die Geschwindigkeit eine zu große für das Auge; der lange Innenraum des Wagens, von einem sanften Licht erleuchtet, bildete ihren Gesichtskreis. Ihre Augen wandelten gegen die modellierte weiße Decke, zu den köstlichen, eichenumrahmten Wandgemälden hin, nach den tiefen, elastischen Sitzen hinüber und zu den runden Lampenglocken über ihrem Haupte, denen das Licht entströmte, dann wieder nach einer Mutter mit ihrem Kinde, die ihr schräg gegenübersaß. Da erklang das große Signal, die schwache Vibration verstärkte sich ein wenig, einen Augenblick später sprangen die automatischen Türen zurück und sie trat auf den Bahnsteig der Station Brighton hinaus.
Als sie die zum Bahnhofplatze führende Treppe hinabstieg, bemerkte sie einige Schritte vor sich einen Priester. Er schien ein sehr rüstiger und von den Jahren nicht gebeugter, alter Mann zu sein, denn trotz seines weißen Haares war sein Schritt fest und gleichmäßig. Sie blieb am Fuße der Treppe einen Augenblick stehen, und, halb zur Seite gewandt, sah sie zu ihrer Überraschung, dass sein Gesicht das eines jungen Mannes war, mit feinen, doch energischen Zügen, dunklen Augenbrauen und sehr lebhaften, grauen Augen. Dann schritt sie wieder voran und schlug, den Platz überschreitend, die Richtung nach dem Hause ihrer Tante ein.
Da geschah, ohne die geringste Warnung, ausgenommen einen schrillen Schrei von oben her, eine Folge von Ereignissen.
Ein großer Schatten wirbelte durch das Sonnenlicht nieder, ein Ton des Zerberstens erschütterte die Luft, dann folgte ein Laut, wie das Ächzen eines Riesen, und während sie entsetzt und verwirrt dastand, krachte ein ungeheuerer Gegenstand mit dem Getöse von tausend berstenden Kesseln auf das Kautschukpflaster vor ihr nieder, der, den halben Platz bedeckend, liegen blieb, mit den langen, an seiner oberen Seite befindlichen Schwingen flatternd und schlagend, einem verendenden, grausigen, beflügelten Untiere gleich, menschliche Schreie ausstoßend und fast sofort beginnend, in gebrochener Lebenskraft einherzukriechen.
Mabel wusste kaum mehr, was nun geschah; aber einen Augenblick später ward sie durch einen heftigen Druck von rückwärts nach vorn gedrängt, bis sie, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, vor einer formlosen Masse, dem zermalmten, stöhnenden und sich windenden Körper eines zu ihren Füßen liegenden Mannes stand. Etwas wie artikulierte Laute stieß er aus; sie unterschied deutlich die Namen: Jesus und Maria.
»Lassen Sie mich durch, ich bin ein Priester«, drang es plötzlich an ihr Ohr.
Einen Augenblick stand sie still, betäubt durch die Plötzlichkeit all dieser Dinge, und beobachtete beinahe verständnislos den grauhaarigen jungen Priester, der, auf den Knien liegend, dem geöffneten Überrocke ein Kruzifix entnommen hatte. Sie sah ihn sich tief niederbeugen, mit der Hand ein kurzes Zeichen machen und hörte ihn in einer ihr unbekannten Sprache murmeln. Dann stand er wieder auf, das Kruzifix hochhaltend, und sie sah, wie er sich voran bewegte nach der Mitte des in Blut schwimmenden Platzes, da und dorthin, wie nach einem bestimmten Zeichen ausschauend. Jetzt kamen über die Treppen des großen, zu ihrer Rechten gelegenen Hospitals Leute herabgerannt, ohne Hut, und ein jeder einen, einer altmodischen Handkamera ähnlichen Gegenstand tragend. Sie wusste, wer diese Männer waren, und ihr Herz schlug erleichtert. Es waren die Euthanasiebeamten.1 Dann fühlte sie sich bei den Schultern gepackt und zurückgestoßen und fand sich sofort wieder in der vordersten Reihe einer hin- und herschwankenden, schreienden Menge und hinter einer Kette, die sich aus Polizisten und Zivilisten gebildet hatte, um dem Andrang abzuwehren.
1 Original: »ministers of euthanasia«, in der ersten Fassung sinnlos mit »Diener Euthanasias« übersetzt. <<<
Oliver war von einem panischen Schrecken befallen, als seine Mutter eine halbe Stunde darauf mit der Nachricht hereinstürzte, eines der Regierungsflugschiffe sei eben, als der Vierzehneinhalb-Uhr-Zug seine Passagiere in Brighton abgesetzt hatte, auf den Bahnhofsplatz herabgestürzt. Er wusste nur zu genau, was das zu bedeuten hatte, denn er erinnerte sich eines solchen vor zehn Jahren erfolgten Unglückes, kurz nachdem das Gesetz erlassen worden war, das Privatflugschiffe verbot. Es bedeutete, dass jedes darauf befindliche lebende Wesen getötet war und wahrscheinlich noch viele andere, die sich auf dem Platze, auf den es gestürzt war, befunden hatten, — und was dann? Der Bericht war nur zu klar: Sie musste um diese Zeit auf dem Platze gewesen sein.
Er sandte eine verzweifelte Depesche an ihre Tante und wartete, auf seinem Stuhl hin- und herrückend, auf die Antwort. Seine Mutter saß bei ihm.
»Gebe Gott —«, schluchzte sie auf und hielt verlegen inne, als er sich plötzlich nach ihr wandte.
Aber das Schicksal war gnädig gewesen, und drei Minuten, bevor Mr. Phillips mit der Antwort den Pfad entlanghumpelte, trat Mabel selbst ins Zimmer, ziemlich blass und lächelnd.
»Himmel!«, rief Oliver, tief aufatmend, während er aufsprang.
Sie hatte ihm nicht viel zu erzählen; es war noch keine Erklärung des Unglückes veröffentlicht.
Sie beschrieb den Schatten, das Zischen und den Krach des Falles. Dann stockte sie.
»Nun, meine Liebe?«, fragte ihr Gatte, dessen Wangen noch von einer ziemlichen Blässe bedeckt waren, während er sich nahe zu ihr heransetzte und ihre Hand streichelte.
»Es war ein Priester dabei«, sagte Mabel, »ich sah ihn schon vorher auf der Station.«
Oliver konnte sich eines etwas krampfhaften Lachens nicht enthalten.
»Er lag mit seinem Kruzifix sofort auf den Knien«, fuhr sie fort, »noch ehe die Ärzte erschienen. Sag’ mir einmal, mein Lieber, glauben die Leute tatsächlich alles dieses?«
»Warum nicht? Sie denken wenigstens, es zu glauben«, sagte Oliver.
»Es kam alles so — so plötzlich, und er stand da, wie wenn er alles erwartet hätte. Oliver, wie können sie nur?«
»Weshalb? Die Leute werden an alles glauben, wenn sie nur frühzeitig damit beginnen.«
»Und der Mann schien ebenfalls daran zu glauben, — der Sterbende, meine ich. Ich sah es in seinen Augen.«
Sie stockte.
»Nun, meine Liebe?«
»Oliver, was würdest du einem Sterbenden sagen?«
»Sagen? Nichts, natürlich! Was könnte ich sagen? Aber ich glaube nicht, dass ich jemals jemanden sterben sah.«
»Auch ich nicht, bis heute«, sagte die junge Dame und schauderte ein wenig. »Die Euthanasieleute waren bald an der Arbeit.«
Oliver nahm sie sanft bei der Hand.
»Mein Liebling, es musste entsetzlich gewesen sein. Wie, du zitterst ja immer noch?«
»Nein, aber höre einmal … Weißt du, wenn ich irgendetwas hätte sagen sollen, hätte ich es auch tun können. Sie lagen alle gerade vor mir, ich war verwirrt; dann aber wusste ich, dass ich nichts zu sagen hatte. Ich hätte doch nicht gut von Humanität sprechen können.«
»Meine Liebe, es ist ja bedauerlich, aber du weißt, es liegt wirklich nicht viel daran. Es ist ja alles schon vorüber.«
»Und — und sie haben sogleich ein Ende gemacht?«
»Freilich, ja!«
Mabel presste ihre Lippen ein wenig zusammen, denen ein schwerer Seufzer entfuhr. Eine Art innerer Unruhe, die sie nachdenklich machte, war während der Rückfahrt über sie gekommen. Sie wusste bestimmt, es waren nur die Nerven, aber sie konnte derselben noch nicht Herr werden. Es war, wie sie gesagt, das erste Mal, dass sie den Tod gesehen hatte.
»Und jener Priester — jener Priester denkt auch so?«
»Meine Liebe, lass dir sagen, was er glaubt. Er glaubt, dass der Mann, dem er das Kruzifix vorgehalten und über den er jene Worte gesprochen hat, nun irgendwo anders lebt, obwohl sein Gehirn tot ist; er weiß nicht ganz sicher, wo, aber entweder ist er in einer Art Hochofen, um langsam verbrannt zu werden, oder, wenn er Glück gehabt und jenes Stück Holz seine Wirkung getan hat, irgendwo über den Wolken vor drei Personen, die aber nur eins sind, obwohl es drei sind; er glaubt, dass dort noch eine große Menge andrer Leute sind, ferner eine in Blau gekleidete Frau, viele andere in Weiß, welche ihren Kopf unter dem Arm tragen, und viele andere mit zur Seite geneigtem Haupte, und dass sie alle Harfen haben und immerfort singen und auf den Wolken wandeln, was ihnen viel Vergnügen macht. Er glaubt außerdem, dass alle diese hübschen Leute fortwährend auf jene Hochöfen herabschauen und die drei Personen preisen, dass sie sie gemacht. Da hast du alles, was der Priester glaubt. Wie du weißt, ist das nicht sehr wahrscheinlich; derartige Dinge mögen ja ganz hübsch sein, wahr sind sie nicht.«
Mabel lächelte. Sie hatte nie eine so gute Auslegung gehört.
»Nein, Liebster, du hast ganz recht. Dergleichen Dinge sind nicht wahr. Wie kann er nur daran glauben? Er sah doch so intelligent aus.«
»Liebes Kind, wenn ich dir, als du noch in der Wiege lagst, erzählt hätte, der Mond sei nichts weiter als frischer Käse, und dir das jeden Tag von früh bis abends eingebläut hätte, so würdest du es jetzt wohl beinahe glauben, übrigens bist du ja selbst überzeugt, daran zweifle ich keinen Augenblick, dass die Euthanasier die wahren Priester sind.«
Mabel atmete befriedigt auf und erhob sich.
»Oliver, du verstehst es wirklich, einen zu trösten. Ich habe dich sehr lieb. So, und nun muss ich in mein Zimmer gehen, ich zittre immer noch.« —
In der Mitte des Zimmers hielt sie an und sah auf einen ihrer Schuhe.
»Wie —«, bemerkte sie leise.
Ein sonderbarer, rostfarbener Fleck war darauf, und ihr Gatte bemerkte, dass sie erbleichte. Er stand hastig auf.
»Meine Liebe«, sagte er, »sei nicht töricht.«
Sie sah ruhig lächelnd zu ihm auf und verließ das Zimmer.
Nachdem sie gegangen war, blieb er noch einen Augenblick ruhig sitzen. Wie glücklich er doch war! Er konnte sich das Leben ohne sie gar nicht vorstellen. Vor sieben Jahren — sie war damals zwölf Jahre alt — hatte er sie kennengelernt, und voriges Jahr waren sie zusammen zum Standesbeamten gegangen, um den Ehebund zu schließen. Sie war ihm wirklich unentbehrlich geworden. Freilich hätten die Welt und er auch ohne sie fortbestehen können, aber es wäre ihm doch nicht lieb gewesen, es versuchen zu müssen. Er wusste es wohl, denn dies waren seine Ansichten in Bezug auf weltliche Liebe, dass zwischen ihnen eine zweifache Zuneigung, eine intellektuelle sowohl, als auch eine physische bestand; aber darüber hinaus gab es nichts. Doch gefielen ihm ihre schnelle Auffassungsgabe und die Übereinstimmung zwischen ihren und seinen Anschauungen. Man hätte meinen mögen, es wären zwei Flammen, die sich zu einer Dritten, größeren vereint hatten: Wohl hätte eine jede derselben für sich allein brennen können — eine derselben wird ja schließlich einmal übrig bleiben müssen —, doch konnte man sich inzwischen der Wärme und des Lichtes erfreuen, die sie beide ausstrahlten. Ja, mehr als glücklich war er, dass sie durch einen glücklichen Zufall dem herabstürzenden Flugschiffe entkommen war.
Über seine Darlegung des christlichen Glaubens machte er sich keine Gedanken mehr; für ihn galt es als ausgemacht, dass Katholiken diese Art Dinge glaubten; sie so darzustellen, wie er getan hatte, kam ihm ebenso wenig blasphemisch vor, als wenn man über einen Fidschigötzen mit Perlmutteraugen und einer Perücke aus Pferdehaaren lachen würde; es war einfach unmöglich, dabei Ernst zu bewahren. Auch er hatte ein- oder zweimal in seinem Leben sich gewundert, wie es möglich sei, dass menschliche Geschöpfe solchen Plunder glauben konnten; aber die Psychologie hatte ihn verstehen gelehrt, dass Suggestion so ziemlich alles zu bewirken imstande sei; das stand darum für ihn vollkommen fest. Es war auch wieder dieses abscheuliche Ding, dieses Christentum, welches so lange das Umsichgreifen der Bewegung zugunsten der Euthanasie mit all ihren so wohltätigen Folgen gehemmt hatte.
Seine Augenbrauen zogen sich zu einer Falte zusammen bei dem Gedanken an den Ausruf seiner Mutter: »Gebe Gott!« Er lächelte über das arme, alte Ding mit seinem pathetisch-kindischen Wesen und wandte sich wieder seinem Schreibtische zu. Unwillkürlich kehrten seine Gedanken zu Mabel zurück, zu ihrem Erbleichen, als sie des Blutfleckens auf ihrem Schuh gewahr geworden war. Ja, es war eine Tatsache, die sich nicht leugnen ließ. Wie sollte man sie erklären? Wohl am einfachsten durch den erhabenen Glauben an die Menschheit, an diesen wundervollen Gott, der an die zehntausendmal im Tage starb und auferstand, der täglich gestorben war, seitdem die Welt bestand, wie einst jener alte, verrückte Fanatiker Saulus von Tarsus, und sich wieder erhob, nicht nur einmal, wie der Sohn jenes Zimmermanns, sondern mit jedem Kinde, das neu zur Welt kam. Das war die Antwort; und war sie etwa nicht überwältigend erschöpfend?
Eine halbe Stunde später trat Mr. Phillips ein, wieder mit einem Bündel Papiere.
»Keine weiteren Nachrichten aus dem Osten?«, fragte er ihn.