Mauerblume

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Mauerblume
Font:Smaller АаLarger Aa

Imprint

Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze

Rita Kuczynski

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Rita Kuczynski

Buchcover: Bernd Floßmann, www.flossmann.de

ISBN 978-3-8442-6336-7 (E-Book)

ISBN 978-3-8442-6337-4 (Paperback)

Widmung

Für David

Das Buch

Ihre Kindheit verbringt Rita Kuczynski in beiden Teilen von Berlin. Der Mauerbau 1961 macht den Osten über Nacht zu ihrer einzigen Heimat. Sie versucht sich durch die Beschäftigung mit Musik und Philosophie eine Nische zu schaffen, später flüchtet sie in eine Ehe. Doch auf der Suche nach ihrem beruflichen und persönlichen Glück stößt die ungewöhnliche Frau immer wieder an die Grenzen des Systems.

Rita Kuczynski erzählt ihre Lebensgeschichte. Sie berichtet von dem Versuch, sich von der Umklammerung durch die Politik zu lösen und selbstbestimmt zu sein.

Die Autorin

Rita Kuczynski, 1944 in Neidenburg/Ostpreußen geboren, besuchte die Meisterschule im Fach Klavier am Konservatorium in Leningrad. Außerdem studierte sie in Leipzig und Berlin Philosophie und promovierte über Hegel. Rita Kuczynski lebt in Berlin.

Rita Kuczynski

Mauerblume

Ein Leben auf der Grenze

1

Bei Tisch hat meine Mutter oft erzählt, ich sei ein echtes Urlauberkind, meine Schwester auch. Damit meinte sie, wenn mein Vater im Juni 1943 nicht auf Fronturlaub gekommen wäre, wäre ich nicht im Februar 1944 geboren worden. Sie wollte, falls mein Vater im Krieg fiele, wenigstens ein Andenken von ihm haben. Meine Schwester kam zwei Jahre früher auf die Welt. Mein Vater hatte wegen einer besonderen Tapferkeit in einem Sturmangriff gleich zehn Tage Heimaturlaub bekommen. Weil der Vater bereits 1942 im Krieg hätte erschossen werden können, wollte meine Mutter schon damals ein Andenken. Meine Schwester und ich sind daher nicht nur Urlaubskinder. Wir sind auch Andenkenkinder. Als unser Vater aus dem Krieg zurückkam, hießen wir Kriegskinder. Meine beiden jüngeren Geschwister, die geboren wurden, nachdem der Vater wiedergekommen war, sind Nachkriegskinder geworden.

Ich habe meiner Mutter später vorgeworfen, daß ihre Gründe für’s Kinderkriegen ziemlich verantwortungslos waren. Zumindest, soweit sie mich betrafen. Schließlich war 1943 auch in Deutschland schon Krieg. Meine Mutter kannte Bombennächte nicht nur vom Hörensagen. Das war, so meinte ich, nicht gerade eine Zeit, Kinder in die Welt zu setzen. Meine Mutter reagierte auf meinen Standpunkt fürs Kinderkriegen stets mit überlegenem Lächeln: Es sei Liebe gewesen, aber davon verstünde ich nichts.

Den heißen Krieg kannte ich nur aus Erzählungen. Bei Familienfeiern wurde oft von ihm gesprochen. Der Vater redete viel von Stalingrad und von der Ostfront, von Hunger und von russischer Gefangenschaft. Onkel Fred hingegen erzählte von der Westfront und von französischen Internierungslagern. Die Geschichten wiederholten sich. Über den Kessel von Stalingrad wußte ich als Kind bald gut Bescheid. Aber eigentlich interessierte er mich nicht. Außer der Vater spielte mit uns heißen Krieg und den Angriff der Russen auf das deutsche Feldlazarett. Dann hatte ich mit meinen Geschwistern einen Sanitätszug zu bilden. Das bedeutete, wir bauten aus den Küchenstühlen Tragen für Verletzte, indem wir die Stühle an den Stuhllehnen mit Schnur zusammenbanden. Wir legten uns nacheinander auf die Tragen und wurden vom Vater und seinem Helfer durch die Wohnung, im Sommer auch über den Hof getragen. Je weniger Zeit unsere Kompanie für die Flucht vor den Russen brauchte, desto besser waren wir auf den Ernstfall vorbereitet und bekamen dementsprechend viele Sahnebonbons. Meine Mutter mochte unser Spiel nicht. Aber sie konnte sich gegen den Vater nicht durchsetzen. Sie konnte sich nie gegen ihn durchsetzen.

Wer im Krieg siegte, habe ich als Kind nie recht verstanden. Die Russen? Die Amerikaner? Von den Franzosen und Engländern wurde weniger gesprochen. Unter Siegermächten konnte ich mir nichts vorstellen. Als ich älter wurde, verstand ich, es gab geteilte Ansichten zum Sieg. Sie hingen mitunter vom Stadtteil ab, in dem die Diskussion stattfand. Im amerikanischen Sektor von Berlin war zu hören und zu lesen, daß ohne die US-Armee alles noch viel schlimmer gekommen wäre, als es ohnehin schon gekommen war, nicht nur für Berlin, sondern für Deutschland überhaupt. In dem von den Russen besetzten Teil hingegen war zu hören, daß die Amerikaner alles verdorben hätten. Was, verstand ich als Kind schon wieder nicht.

Innerhalb der Familie gab es nicht nur geteilte Ansichten über den Sieg. Es gab auch geteilte Ansichten über den verlorenen Krieg. Sie hingen mit den besiegten Deutschen zusammen. Wäre Hitler nicht von lauter unfähigen Generälen umgeben gewesen, hätten wir den Krieg nicht verloren, meinte Onkel Richard. Dann brauchte sich der Deutsche heute nicht zu schämen und stünde nicht als Dämling da. Dann müßte er, der Deutsche, sich nicht herumkommandieren lassen, nicht vom Iwan, auch nicht von Jimmy Black. Das war Onkel Richards ehrliche Meinung. Und er wußte genau, daß er sie eigentlich nicht sagen durfte. Er äußerte diese seine tiefste Überzeugung auch nur, wenn er angetrunken war. Meine Mutter fiel ihm dann ins Wort: Hör auf Richard, solches Zeug zu reden. Wenn das einer hört. Meist nahm sie dabei die Schnapsflasche aus seiner Reichweite. Onkel Richard war dann auch still. Aber nicht ohne noch zu sagen: Ist doch wahr. Dabei kippte er zuerst seinen Schnaps und dann sein Bier hinter und sah in eine Ferne, die zu erreichen ich außerstande war.

Um ehrlich zu sein, gingen mich die Geschichten aus dem heißen Krieg als Kind nicht viel an. Ich hatte meine eigenen, und die hingen mit dem Kalten Krieg zusammen. Ich wuchs in einer geteilten Stadt auf: Sitz von vier Siegermächten. Jede Macht hatte ihren eigenen Sektor von Berlin, mit eigener Militärpräsenz. Mit der Berliner Stadt-Bahn konnte ich alle vier Sektoren für einen Groschen durchfahren: Achtung, Achtung, hier endet der amerikanische Sektor. Sie verlassen jetzt den französischen und so weiter. Irgendwann änderte sich die Bahnhofsansage: Dann verließ ich den Demokratischen Sektor von Groß-Berlin. Fuhr ich nur lange genug, machte eine Stimme darauf aufmerksam, daß ich, Achtung, Achtung, jetzt den freien Sektor von Berlin verlasse.

Was wußte ich davon? Ich nahm es wie jedes Kind. Ich nahm den freien und den unfreien Sektor als gegeben hin. Die Frontstadt Berlin war meine Stadt. In Berlin lebte beinahe die gesamte Verwandtschaft, wenn auch in verschiedenen Sektoren, was zur Folge hatte, daß die Ansichten über frei und unfrei in ihrer Bedeutung wechselten. Daran gewöhnte ich mich. Das Hin und Her zwischen zwei Welten war also mein natürlicher Lebenshintergrund. Grenze zwischen Ost und West, Demarkationslinie im Kalten Krieg. Freund und Feind wechselten von einer S-Bahn-Station zur anderen.

Es existierte eine S-Bahn-Linie, sie hieß Berliner Ring. Das Besondere am Ring war, daß es keine Endstation gab. Die Bahn fuhr endlos durch die unter den Siegermächten aufgeteilten Sektoren. Der Berliner S-Bahn-Ring war meine Lieblingslinie. Mitunter fuhr ich stundenlang vom freien in den unfreien, in den freien Teil. Ich glaube, auf meinen Fahrten mit der Berliner Ring-Bahn bekam ich eine erste Distanz zu Ost und West. Diese Fahrten hatten etwas von Rummel, den Lieblingsspielplätzen meiner Kindheit: Karussellfahren oder Himmel-und Hölle-Bahn mit ihren glitzernden Lichtern. Nur daß ich bei der Ring-Bahn die Anzahl der Runden - und damit den Zeitpunkt des Ausstiegs - selbst bestimmen konnte, einschließlich der Tatsache, ob ich im freien oder unfreien Teil der Stadt den Bahnhof verlassen wollte. Zur Grundlage für die Entscheidung, frei oder unfrei, machte ich den Ort, an dem ich in die Ring-Bahn eingestiegen war. Die an diesem Ort geltenden Ansichten der jeweiligen Besatzungsmacht über Freiheit nahm ich als gegeben hin. Auf diese Weise lernte ich spielend mit Definitionen umzugehen, lange bevor sie als Unterrichtsstoff im Fach Mathematik zur Diskussion gestellt wurden. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der ich mich später in definierten Räumen der Philosophie zu bewegen verstand, hatte mit meinem Leben in der gespaltenen Stadt und dem ständigen Bedeutungswechsel von “wahr” und “falsch”, “frei” und “unfrei” zu tun. Ich nahm den Wechsel der Werte und ihre Bestimmbarkeit als Normalität hin.

Zu den wichtigsten Wörtern meiner Kindheit gehörten: Freund und Feind, wobei über den Feind mehr geredet wurde als über den Freund. Das fiel mir allerdings erst recht spät auf. In Westberlin erinnere ich mich, so gut wie nichts über den Freund gehört zu haben, jedenfalls nichts, was sich mir einprägte. In Ostberlin wurde mir der Sowjetmensch als Freund angepriesen. Da ich keine Sowjetmenschen kannte, gingen mich diese Freunde nichts an.

Über den Feind hörte ich mehr. Vom Feind wußte ich bald, er war örtlich organisiert. Er befand sich mitunter in der Familie. Ich will sagen: hielt ich mich in Ostberlin auf, war mein Großvater ein Feind, weil er in der CDU war und damit die Amerikaner unterstützte. Hielt ich mich in Westberlin auf, war mein Ostopa der Feind, weil er in der SED organisiert und russenfreundlich war. Wenn mein Westopa nicht immer etwas Furcht vor meiner Großmutter gehabt hätte, hätte er selbst meine Mutter eine Feindin genannt, weil sie auch in der SED war. Aber das traute er sich nicht. Dafür haßte er meinen Ostopa mehr als nötig, ich meine, er bekam die Portion für meine Mutter einfach mit. Ich konnte an den Feind nicht glauben. Mir war der Feind egal.

 

Gegen den heißen Krieg zu Hause habe ich mit meiner Schwester trainiert. Ich nannte es das Baggispiel. Bei diesem Spiel ging es darum zu lernen, Schmerzen auszuhalten. Um das zu erreichen, schlugen wir uns gegenseitig oder stachen uns mit Nähnadeln. Dabei trainierten wir, uns den Schmerz nicht anmerken zu lassen, das hieß, nicht zu weinen oder zu schreien. Darauf kam es doch an, nicht zu zeigen wo und wann es besonders wehtat. Denn ließ ich mir anmerken, wann und wo die Schläge vom Vater wehtaten, hatte er es sich für das nächste Mal gemerkt und schlug genau auf diese Stellen. Es war daher das Einfachste, den Schmerz zu verstecken, wenn der Vater schlug.

Der Vater war doch in Stalingrad. Da hatte ihn der Feind unvermutet geschlagen. Nachdem er von dort nach Hause kam, schlug er Mutti und uns, vor allem, wenn er betrunken war. Außerdem hatte sich der Vater geschworen, wachsam zu sein und sich nicht noch einmal vom Feind überrollen zu lassen. Deshalb durchsuchte er, wenn wir in der Schule waren, unsere Zimmer. Inspektion nannte er diesen Vorgang, der bedeutete, daß er alle Schubladen, Fächer und Schränke, auch Betten nach Feindmaterial absuchte. Das Feindmaterial konnte ein West-Kaugummi sein oder ein Lackbild, ein Fahrschein, auf dem zu lesen war, daß ich Sonntag um 11.32 Uhr auf der U-Bahnstrecke Vinetastraße nach Stadtmitte unterwegs gewesen war. Wenn ich dann nach Hause kam, begann das Verhör: Wo warst du am Sonntag von 11.32 Uhr von Pankow hin unterwegs? Wenn ich es nicht wußte, bekam ich Schläge, wenn ich es wußte, bekam ich sie auch, weil er, der Vater, ja nicht erfahre, wo ich mich herumtrieb; weil er nie erfuhr, wo ich sei, weil er ja permanent hintergangen würde. Aber wir sollten ihn nicht für dumm verkaufen. Er bekäme es schon heraus. Derartige Siege des Vaters über einen Fahrschein, einen Kaugummi oder ein eingetauschtes West-Lackbild hielten mich frühzeitig dazu an, das Verstecken zu üben. Da der Vater unsere Zimmer auch durchsuchte, wenn wir dabei waren, merkte ich mir die Stellen im Kleiderschrank oder unter dem Fensterbrett. Mein Versteck mußte raffinierter sein. Es durfte als Versteck nicht erkannt werden. Ich trainierte daher das Versteckspielen mit dem Vater.

Daß meine Mutter meinen Vater nicht zum Teufel geschickt hat, nahm ich ihr lebenslang übel. Ihr Argument, daß er schließlich ihr Mann und unser Vater sei, verstand ich nicht. Was hatte ich damit zu tun. Ihre Beteuerungen, daß sie nicht werden wollte wie ihre Mutter, waren auch nicht überzeugend. Ihre Mutter, meine Westoma, heiratete alle sieben Jahre aufs neue, weil sie entweder die Männer davongejagt hatte oder sie ihr gestorben waren. Meine Mutter hatte keine Chance zu werden wie ihre, schon weil sie so unmusikalisch war. Meine Großmutter war Sängerin, und als solche hatte sie einigen Erfolg. Meine Großmutter war recht unglücklich über die Heirat meiner Mutter. Mein Vater tat ihr leid, aber daß meine Mutter mit ihm ihr Leben zerstörte, wäre nicht Liebe, sondern bodenlose Verstocktheit, sagte sie.

Meine Mutter leistete an meinem Vater, dem Sohn aus der Arbeiterklasse, eine Art Wiedergutmachung der Bourgeoisie an der ausgebeuteten Klasse. Denn meine Mutter hatte in Ostberlin, von wo sie auf keinen Fall weg wollte, den Makel, daß sie nicht aus der Arbeiterklasse, sondern aus der bürgerlichen Intelligenz kam. Sie hatte an meinem Vater daher eine Schuld abzubüßen und mußte immer etwas mehr tun bei ihrem ohnehin schon lobenswerten Einsatz für den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat in Deutschland. Meine Mutter hatte der Arbeiterklasse zu dienen, wie sie sagte. Deshalb war sie auch in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Ich war eifersüchtig und wütend auf die Partei, in der meine Mutter Mitglied war und für die sie bald als Partei-Funktionärin arbeitete. Ich will sagen, meine Mutter und auch der Ostopa hatten nie Zeit für mich, weil sie ständig für das Glück der ganzen Menschheit unterwegs waren. Das war ihnen immer wichtiger als ich, und das kränkte mich. Mein Westopa, der von Ostberlin her gesehen ein Feind war, hatte alle Zeit für mich. Vor allem sonntags, nachdem er mit mir aus der Kirche kam. Da war er besonders fröhlich und ausgeglichen. Dafür liebte ich ihn.

Ich lebte mit der Grenze, ich lebte auf der Grenze, ich lebte an der Grenze. Es gab Straßen in Berlin, da gehörte die linke Seite zum Ost-, die rechte zum Westteil der Stadt. Die Volkspolizei Ost durfte nicht auf die rechte Seite der Straße, weil sie dann den demokratischen Sektor von Berlin verlassen hätte. Die Polizei auf der Westseite hatte die gleichen Anweisungen, halt nur von einer anderen Behörde. Viele Kinder machten es wie ich, sie machten ihre Spielchen mit den Polizisten beider Seiten. Sie beschimpften sie und rannten dann auf die andere Seite der Straße, das hieß in den anderen Teil der Stadt, in dem eine andere Besatzungsmacht bestimmte.

Da die Polizisten als Polizisten zwei sich feindlich gegenüberstehenden Mächten dienten, durften sie sich innerhalb ihrer Dienstzeit nicht helfen.

Von einer Straße zur anderen in einer anderen Welt und damit einem anderen Wertesystem angekommen zu sein, hatte etwas Faszinierendes für mich. Plötzlich galten andere Regeln, die zu beherrschen ich bemüht war, um mich in beiden Systemen frei bewegen zu können. Ich machte die Grenzüberschreitung von einem System zum anderen zu meinem Spiel. Niemand sollte mir ansehen, ob ich aus dem Westteil gerade in den Ostteil oder vom Ostteil gerade in den Westteil unterwegs war. Ich wollte unerkannt bleiben.

Ost- und West-Berlin wurden über die Jahre für mich zwei Bühnen mit unterschiedlichen Spielplänen, Requisiten und Akteuren. Und in gewisser Weise stimmte es ja selbst von den Lichtverhältnissen her gesehen, die zu jeder Bühnenausstattung gehörten. War ich in Westberlin, leuchteten die bunten Reklameschilder, an denen ich mich nicht sattsehen konnte. Kam ich nach Ostberlin, war Licht kein Faktor für die Inszenierung. Dafür gab es überall Losungen und Sprüche für Freiheit und Sozialismus, gegen die imperialistischen Kriegstreiber. Die Geschäfte hießen nicht Bilka oder Wertheim, sondern HO und Konsum. Wenn es dort etwas zu kaufen gab, bildeten sich lange Schlangen vor den Läden.

Zwei Spielstätten mit unterschiedlichen Programmen, das prägte sich mir ein. Dreh- und Angelpunkt der Bühnen waren die Währungen. Also trug ich bald zwei Geldbörsen, eine mit Ost-, eine mit Westgeld bei mir. In der Schultasche schleppte ich andere Symbole mit mir herum. Tennissöckchen für den Besuch bei der Großmutter am Schlachtensee im Sommer. Tennissöckchen und weiße Shorts trugen viele Kinder dort. In den wärmeren Jahreszeiten zog ich mich im Gebüsch um, im Winter in Hausfluren, damit ich am Ort, den ich aufsuchte, aussah wie eine Einheimische. Wenn ich nach Ostberlin fuhr und es auf meinen Faltenrock ankam, holte ich ihn aus der Tiefe meines Turnbeutels und wechselte das Kostüm für den Aufenthalt bei den Eltern auf der Bühne Ostberlin.

Ost und West zu wechseln, wie man innerhalb einer Wohnung die Zimmer wechselt, mit der Selbstverständlichkeit, über die zu reden sich eigentlich nicht lohnt, weil sie zum Alltag gehört, wie Aufstehen und zur Schule gehen, das habe ich als Kind geübt: Mit Leichtigkeit von einem System ins andere zu kommen.

Das System wie ein Zimmer zu wechseln, in dem ein anderes Musikstück in einem anderen Tonsystem gespielt werden muß, hat mein Abstraktionsvermögen frühzeitig entwickelt, hat den Sinn für kontrapunktische Zuspitzungen und deren mögliche Auflösung geschult. Auch deshalb hatte ich wohl ein frühreifes Interesse für den Kontrapunkt als Kompositionsprinzip und liebte Bachs “Kunst der Fuge”.

Wie ich ohne mein Klavier den kalten und den heißen Krieg in Berlin überstanden hätte, weiß ich nicht, erfand ich doch zu meinem geteilten Leben in der Frontstadt ein weiteres. Es kam aus meinem Klavier. Ton für Ton spielte ich mir seine Melodie zu. Oder spielte mir das Klavier die Töne zu? Ich weiß es nicht. Ich wußte es nie. Denn bei Gott und allen Kriegen, die stattfanden in Berlin, hatte ich doch diese Töne. Sie waren geboren mit mir und klangen. Sie nicht zu verlieren, war mein innigstes Streben. Denn von Anfang an ahnte ich, verliere ich die Töne, bin ich verloren. Lange Zeit konnte ich das nur nicht ausdrücken, aber ich spürte die Angst, wenn ich sie nicht hörte, weil der Vater so herumbrüllte. Dann fing ich an zu weinen und bat ihn, mir meine Töne nicht zu zerschreien. Wenn er nicht aufhörte, schloß ich alle Türen hinter mir. Ich hielt mir beide Ohren zu und summte mit größter Konzentration meine Melodie in immer neuen Variationen. Ich dachte, je mehr Variationen mir einfielen, desto eher werde ich mich zumindest an eine von ihnen erinnern. Ich summte die Töne und spielte sie so lange auf meinem Klavier, bis sie hell und klar in mir schwangen und ich sicher war, der Krieg draußen vor der Tür werde ihnen und mir nichts mehr anhaben können. Dann machte ich die Tür hinter mir wieder auf. Selbst wenn der Vater neben mir stand, hörte ich nicht mehr, was er brüllte. Ich sah zwar seinen Mund sich bewegen, aber ich hörte nur die Töne und ihre Variationen, die ich erfand.

Meine Großmutter hörte die Töne auch. Sie meinte, sie seien ein Geschenk Gottes. Ich dürfte es auf keinen Fall verlieren und half mir die Töne zu bergen aus meinem Klavier. Damit ich meine Melodie behielt, finanzierte sie mein Klavierspiel durch Unterricht. Bald lernte ich Klavier überall zu spielen, ob in der Straßenbahn oder im Turnunterricht. Ich machte meine Fingerübungen auf dem Straßenpflaster und an Fensterscheiben, auf den Schulbänken oder in Vaters Kneipen. Ich spielte oder spielte es in mir? Auch das konnte ich nie mit Gewißheit sagen. Bald bekam ich Klavierunterricht an der Musikhochschule in Westberlin. Die Großmutter finanzierte meine musikalische Ausbildung einschließlich Ballett- und Bewegungsunterricht, denn er gehörte zu einer künstlerischen Ausbildung, sagte sie. Später bekam ich Unterricht in Gehörbildung und Komposition und spielte in der Kinderklasse der Westberliner Musikhochschule.

Als zweites Instrument an der Hochschule lernte ich Orgel. Bald war ich der irdischen Welt ganz verloren und allein mit den Tönen, ihrer Melodie und dem Klavierspiel befaßt. Den Kalten und den Heißen Krieg hatte ich ausgesperrt und mit ihm die Welt, in der ich herumlief. Ich hatte die Grenze zwischen Ost und West eingetauscht gegen die Grenze der Spielbarkeit immer komplizierterer Klaviersstücke. Mit der Bewältigung dieser Stücke öffnete ich mir Tür um Tür zu einer Welt, in der anderes galt. Daß ihr Schlüssel bei mir lag, bei meiner Fähigkeit, ein Musikstück zu spielen, begeisterte mich. Je besser ich spielte, um so eher konnte ich neue Grenzen überschreiten, konnte neue Räume erschließen, in die ich nur hineinließ, wen und was ich hineinlassen wollte: die Klaviersonaten von Bach und Mozart, meine Großmutter und die Winterreise von Schubert, meinen Klavierlehrer und das Wohltemperierte Klavier, Inge, die Flötenspielerin, und Vivaldi. Meinem Vater und allen Lehrern, die herumschrieen, versperrte ich die Tür. Ich war fasziniert, daß ich über mein Klavier “Welt” auszusperren gelernt hatte. Denn ich lernte nicht nur Türen aufzumachen, ich lernte auch Türen hinter mir zu schließen. Dann trieb ich mitunter tagelang mit den Tönen umher und war erstaunt, wenn ich wieder auftauchte in der anderen Welt, in der ich mit der S-Bahn zur Schule fuhr oder ein Diktat zu schreiben hatte, auf das ich mich nie konzentrieren konnte. Oder wenn ich bei den Eltern in der Küche saß und schon die fünfte Marmeladenstulle aß, wie mir meine Schwester glaubhaft versicherte. Mitunter hatte ich Schwierigkeiten von der Tonwelt in die Ost-West-Welt zu wechseln. Nicht immer fand ich mich schnell genug zurecht in ihr. Mitunter hatte ich Furcht, aus der Tonwelt nicht zurückzufinden, hatte Furcht, ich könnte mich verlieren im Klang, der sich wie ein konzentrischer Kreis endlos ausbreitete, wobei ich mitschwang auf dem jeweils äußersten Kreis. Wenn die Furcht zur richtigen Angst wurde, weil ich zu weit fortgetrieben war von jeglichem Mittelpunkt, wurde mir unheimlich so allein mit der Musik. Damit die Angst verging, fing ich in solchen Momenten an zu singen und war überwältigt von meiner Stimme, die manchmal allein gegen ein großes Orchester ansang.

Ich hatte es also geschafft, die Welt, in der ich herumlief, zu vergessen. Ich hatte mir über die erste Welt eine zweite gebaut.

Meine Mutter baute auch an einer Welt, sie hatte mit meiner nichts zu tun. Es war die sozialistische Welt, für die sie unermüdlich tätig war. Weil die große Befreiungsschlacht für die Menschheit alle Kraft meiner Mutter in Anspruch nahm, blieb keine Zeit übrig. Da wir trotzdem unsere Ordnung haben sollten, wurden wir innerhalb der Verwandtschaft aufgeteilt. Ich müsse das verstehen, es täte ihr leid, wirklich, sagte meine Mutter, aber der Kampf um die Zukunft der ganzen Menschheit und deren Glück ginge nun mal vor. Ich verstand nicht. Schließlich kannte ich die Menschheit nicht. Aber ich wurde auch nicht gefragt. Meine große Schwester kam zur Ostoma, ich zur Westoma. Und ich verstand sofort, das war ein Glück für mich. Seit 1953 wohnte ich also mit wenigen Unterbrechungen bei meiner Großmutter in Westberlin. Dort stand mein Klavier, dort fühlte ich mich zu Hause.

 

Den Kalten Krieg hatte ich vergessen. Ich befand mich auf dem Weg, Pianistin zu werden und überlegte mit meinem Lehrer, was ich zur Hauptprüfung an der Musikhochschule im Fach Klavier spielen sollte, da ich unbedingt in die Meisterklasse aufgenommen werden wollte. Er erklärte mir, warum die Partiten von Bach besser wären für mich als die A-Dur Sonate von Mozart K. 331, von der ich nicht loskam in jener Zeit. Da schlug der Kalte Krieg am 13. August 1961 zu.

Meine Mutter hatte in der Nähe von Berlin ein Sommerhaus gekauft. Es war Brauch, daß ich einige Zeit der Sommerferien bei den Eltern war. Meine Mutter hatte das Bedürfnis, ihre wenigen Urlaubstage auch mit mir zu verbringen. Schließlich sei ich ihre Tochter. Das Argument verstand ich zwar nicht. Aber das Segelboot, das ich nutzen konnte, wenn ich bei meinen Eltern war, reichte hin, um zwei, drei Wochen in Ostdeutschland zu sein.

Ich erinnerte mich erst später, daß es in eben jenem August eine heftigere Auseinandersetzung zwischen meiner Großmutter und meiner Mutter über die Eigentumsfrage gab, wessen Tochter ich eigentlich sei. Sie ging wie immer unentschieden aus, aber meine Mutter setzte sich vorübergehend durch und entschied gegen den Willen meiner Großmutter, daß ich mit ihr die Ferien zu verbringen hatte. Noch beim Frühstück am 11. August fragte mich meine Großmutter, ob ich wirklich fahren wollte, die politische Situation sei so gespannt. Doch ich wollte nichts hören von den Ost-West-Spielen und von Politik. So trieb ich am Sonntag, dem 13. August, auf einem See in Ostdeutschland und erfuhr erst einen Tag später, daß die Mauer stand.

Jahrelang habe ich darüber nachgedacht, ob meine Mutter, die zu dieser Zeit schon eine kleinere Karriere in der stalinistischen Partei gemacht hatte und in der Abteilung Propaganda der SED-Kreisleitung arbeitete, vom Mauerbau wußte. Nie bin ich den Verdacht losgeworden, daß sie mich mit dem Versprechen, das Segelboot ein ganzes Wochenende nutzen zu dürfen, in den Osten gelockt hatte. Wann immer ich später darauf zu sprechen kam, hat sie mit Abwehr reagiert. Sie habe nichts gewußt vom Mauerbau. Nur ihr Klasseninstinkt, wie sie sich ausdrückte, habe ihr gesagt, es läge etwas in der Luft. Es wäre daher besser, mich von Westberlin zurückzuholen. Wäre ich nämlich “Drüben” gewesen beim Mauerbau, meinte meine Mutter, wäre das für ihre Zukunft nicht auszudenken gewesen: eine “republikflüchtige Tochter” hätte sie ihre Stellung gekostet. Schließlich sei ich Verwandtschaft ersten Grades, das hätte gereicht. Ihrem Klasseninstinkt verdankte meine Mutter, daß sie ihre Zukunft behielt: eine bescheidene Karriere im SED-Parteiapparat.

Meine Zukunft indes brach jäh ab. Ich begriff nicht sofort, was geschehen war. Meine Großmutter schickte Telegramme und Briefe. Sie beschwor mich, nicht über die Mauer zu gehen. Sie hole mich heraus. Da meine Großmutter die einzige Autorität war, die ich neben Bach gelten ließ, glaubte ich ihr. Ich spielte weiter auf einem geborgten Klavier, das bald in der Wohnung der Eltern stand, und bereitete mich im Ostteil der Stadt auf die Hauptprüfung im Fach Klavier vor, die ich an der Musikhochschule in Ostberlin ablegen konnte.

Die Atmosphäre bei den Eltern war unerträglich. Der Vater tobte, wann immer er nach Hause kam, ich sollte endlich mit dem Geklimper aufhören. Meinen Geschwistern ging mein Spiel ebenfalls auf die Nerven. Meine große Schwester warb bei den anderen Geschwistern um Verständnis für mich, indem sie ihnen klarzumachen versuchte, daß ich nicht ganz richtig sei und deshalb das Geklimper brauche. Sie gab damit auf freundliche Weise die Meinung meines Vater wieder. Sie hatte immer Mitleid mit mir.

Um die eigentlich nicht zu ertragende Situation bei den Eltern auszuhalten, versuchte ich alles auszusperren, was nicht klang. Ich konzentrierte mich bis hin zur Atmung auf das Stück, das ich spielte. Ich spielte es so lange, bis ich selbst in dem Stück schwang. Ich spielte mich in einen Trancezustand. Ich trainierte mit Erfolg, die Zeitspanne zu verlängern, die ich in einem Stücken schwang. In diesen Trancezuständen realisierte ich bald den gesamten Alltag, den ich abgetrennt von mir erledigte. Das Stück, das ich spielte, nicht abbrechen zu lassen, war mein ganzes Streben. Auf diese Weise konnte ich mich dem eigentlich unerträglichem Leben um mich herum entziehen. Beim Sitzen und beim Stehen, beim Rennen und beim Spazierengehen war ich in Gedanken oder direkt am Klavier bald ganz und gar auf meine Stücke konzentriert. Solange ich spielte, kam nichts und niemand an mich heran. Allein, wenn die Melodie in mir abbrach und ich sie selbst auf dem Klavier nicht mehr fand, bekam ich panische Angst. Denn die Welt, die ich nicht wahrhaben wollte, stand plötzlich ganz unverhohlen neben mir und grinste mich an. Dann wurde es so laut um mich, ich hatte das Gefühl, augenblicklich ersticken zu müssen, weil ich vor lauter Lärm keine Luft mehr bekam. Manchmal schaffte ich es noch, während eines solchen Angstzustandes mir die Ohren zuzuhalten und mein Stück zu singen oder ein eigenes Stück zu erfinden. Stundenlang summte ich es dann oder spielte auf dem Klavier. Wenn der Vater kam und mich rüttelte oder ohrfeigte, weil ich nicht aufhörte mit dem Spielen und ich vor lauter Spiel seine Ohrfeige nicht spürte, wußte ich, ich hatte mit meinem Spiel auch gegen ihn gewonnen. Zufrieden trieb ich dann auf den Tönen, ich weiß nicht wohin. Mutwillig trieb ich mit aller Musik gegen jegliche Rhythmisierung, bis ich die Abstände zwischen Ton und Ton aufgehoben hatte. Kontrapunktisch schlug ich die Töne gegen die Töne und entließ sie spielend aus ihrem Klangraum. Daß sie nicht zurückklangen in die Räume, aus denen ich sie gerade herausgeholt hatte, war mein Bestreben. Mutwillig schliff ich die Töne solange aneinander, bis sie im ungeschützten Klangzustand auf eine noch nicht gehörte Weise zueinanderfanden. In diesem unerhörten Klangzustand trieb ich dann.

Eines Tages aber trieb ich wohl zu weit. Ich trieb an mir, an allen Tönen und ihren Klangräumen vorbei. Hinter mir schlug unerwartet eine Tür nach der anderen zu. Ich saß in einer Falle und fand nicht mehr heraus. Wenn überhaupt, gingen alle Türen immer nur nach innen auf. Angst trieb mich. Sie jagte einen Schrei, mit ihm war ich so allein, daß ich das Bewußtsein verlor.

Als ich aufwachte, stand eine freundliche Schwester an meinem Bett und fragte, ob ich Mischbrot oder Knäckebrot zum Frühstück möge. Vor lauter Angst fing ich an zu weinen. Sie spritzte ein Mittel zur Beruhigung. Ich schlief wieder ein. In den Wochen, die kamen, lernte ich ruhig zu sein, um keine Spritzen zu bekommen. Ich nahm zur Kenntnis, was mir die Ärzte erklärten, daß mich das Klavierspielen krankgemacht habe, daß ich damit aufhören müsse, wenn ich nicht für immer in der Psychiatrie bleiben wollte. Ich verstand nicht, aber ich hörte meine Töne nicht mehr. Meine Melodie war weg.