Rotverschiebung

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Am liebsten hätte ich mit dem Arm über seinen Schreibtisch gefegt und alles Gerümpel samt der kleinen Schalke 04-Fahne gegen die Wand gehauen. Aber ich riss mich zusammen.

»Es gibt Menschen, die das so nennen, ja.«

»Was machen wir nun?«, fragte Schaffrath. »Ihnen ist natürlich unbenommen, die Polizei zu verständigen. Das kann auch Herr Fenner tun, wen ihm unsere Auskunft in dieser Sache nicht genügt.«

»Was erwarten Sie, was Mörder sagen, wenn sie beschuldigt werden? Sind Sie wirklich so blöde und glauben deren Ausreden einfach?«

»Frau Arta, wir sind nicht die Polizei. Was ich glaube oder nicht spielt keine Rolle. Wenn Sie mit stichhaltigen Beweisen kommen, werde ich Ihnen gerne helfen. Im Rahmen meiner Möglichkeiten.«

»Ach Scheiße, wo soll ich die Beweise herbekommen? Können Sie nicht selbst mal dort nachsehen? Lassen Sie sich Cristina zeigen. Sie werden schon sehen.«

»Nochmal, das ist nicht mein Job. Davon verstehe ich auch nichts. Gehen Sie zur Polizei und erstatten Sie Anzeige. Ganz nebenbei ist für diese Klinik einer unser Honorarkonsuln Ansprechpartner.«

»Na toll. Jetzt weiß ich auch mal, wie die Unterstützung des Konsulats aussieht. Warum bin ich eigentlich hergekommen?«

Mit Blick auf das gerahmte Foto neben seinem Schreibplatz sagte ich »Weiß eigentlich Ihre Frau, was fürn Lulli Sie sind?«

Schaffrath zog seine hohe Stirn in Falten.

»Ich verstehe ja Ihre Angst und Ihre Enttäuschung«, sagte er nach kurzem Stocken. »Mir ist klar, dass Sie sich Sorgen machen. Am besten hinterlassen Sie mir eine Telefonnummer oder Kontaktadresse, unter der ich Sie erreichen kann. Falls ich etwas erfahre oder noch eine Frage auftaucht.«

»Ich hab noch keine Bleibe.«

»Hier in São Paulo finden Sie sicher was. Ich gebe Ihnen meine Karte, dann können Sie mich anrufen. Ich schreibe Ihnen noch die Nummer des Konsuls auf die Rückseite. Sie können ihn gerne ansprechen. Er ist auch Beisitzer in der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer. Er kennt sich aus.«

Er schob mir eine Karte über den Tisch und schraubte sich aus dem Stuhl. Audienz beendet, sollte das wohl heißen. Ich schnappte mir die Karte. Auf der Rückseite stand der Name Dr. Klaus Klinkhammer. Darunter eine ellenlange Telefonnummer.

Schaffrath war bemüht zuvorkommend. »Ich bringe Sie wieder nach oben in den Publikumsbereich. Damit Sie sich nicht verlaufen.«

Unterwegs fragte er »Sie haben wahrscheinlich Angst diese Klinik wieder zu betreten, wegen Ihres Geldes. Das ist bestimmt eine Menge, nicht wahr?«

»Logo. Viel zu viel ums einfach dazulassen.«

Er überlegte kurz.

»Sie können es sich ja überweisen lassen. Oder, wenn Sie es sofort brauchen, mit jemandem zur Unterstützung dorthin gehen.«

Sieh mal an, ganz so dämlich war dieser Heini nicht.

Draußen auf der Straße war ich ziemlich desorientiert. Was nun? Das hatte ich mir vorher nicht überlegt. Aber da wusste ich noch nicht, dass der Besuch im Konsulat so kläglich enden würde.

Gegen vier stand ich vor dem Amorosa Louca. Ein Flachbau, blau und grün gestrichen. Die Fenster waren mit Platten verrammelt, die grün gestrichene Stahltür mit dem Sichtfenster war verschlossen. Oben am Gebäude zog sich ein Werbeband mit prallen roten Herzen entlang, darüber noch eine Leuchtreklame mit dem Schriftzug.

Neben der Tür hing ein Schaukasten, darin Fotos von leicht bekleideten Damen, die sich um Stangen windeten, oder sonstwie posierten. Zu tiefe Einblicke wurden durch aufgeklebte rote Herzen verdeckt. Dazu Text auf Portugiesisch und Englisch. Es ist von »Genuss pur, aufregenden Shows und totaler Entspannung« die Rede. Bei einem »wirklich unvergesslichen Abend mit Shemales« sei alles möglich und für »jeden Geschmack etwas dabei«.

Das konnte ja heiter werden.

Die Öffnungszeiten sagten mir, dass wochentags ab zwanzigdreißig und an Wochenenden ab vierzehn Uhr geöffnet wäre, montags dagegen geschlossen. Ich musste kurz überlegen bis mir dämmerte, es war Dienstag. Unglaublich, ich war erst gestern in Brasilien angekommen.

Am Besten, ich suche mir eine Unterkunft, dusche, lege mich hin und komme später wieder, dachte ich. Hier konnte ich im Augenblick nichts ausrichten.

Hinter mir brauste der Nachmittagsverkehr auf der Autobahn, die etwas unterhalb der anderen Straßenseite entlang führte. Die Rua Bandeirantes selbst zog sich durch ein Industriegebiet und bot eine Zufahrt zur Autobahn. Entsprechend viele Laster rollten auf ihr. Der Lärm war mörderisch.

Nach fünfzehn Minuten fand ich in einer Seitenstraße eine Pension. Sie hieß zwar Aida, war aber ein schäbiger Bau. Für meinen Geldbeutel also genau richtig.

Hinter der Eingangstür mit der abblätternden Farbe wartete ein nikotingelber Vorraum mit Theke, die aussah, als hätte sie eine gnädige Hand vor der Müllkippe bewahrt.

Nachdem ich mehrmals auf die Klingel geschlagen hatte, erschien eine fette, alte Hexe aus einem Durchgang hinter der Theke. Sie kaute und schmatzte. In ihren schlaffen Mundwinkeln hatten sich Krümel vorm Gefressenwerden versteckt.

Ich versuche es auf Englisch. »I need a room.«

In ihrem dunklen Gesicht arbeitete es, dann, oh Wunder, nickte sie. Sie zeigte auf mich und hielt den Daumen hoch.

»Um?«

»Sim.«

Die Sache fing an, mir Spaß zu machen. Sie fragte »Quantas dias?«

»Wieviel kostet es?« Sehr viel Geld hatte ich nicht mehr.

Sie schrieb zwei Fünfen auf ein Blatt Papier. Dazu sagte sie »pagar adiantado«, und schaute mich erwartungsvoll an.

Ich holte das Geld raus und zählte.

»Semana?«1919

Sie nickte wieder und schrieb unter die Fünfen zwei Dreien und eine Null. Ich zählte nochmal, überlegte, schließlich legte ich ihr dreihundertdreißig Reais hin. Damit blieben mir noch ungefähr zweihundertachtzig Reais. Langsam wurde es knapp.

Sie schrieb mir eine Quittung, dann schob sie mir eine Kladde rüber, in die ich mich eintragen sollte.

Ein Typ polterte hinter mir herein, knurrte irgendwas und trampelte die Treppe rauf. Mit lautem Keifen stoppte die Wirtin ihn. Er kam zögernd zurück.

Es entspann sich ein kurzes, aber heftiges Wortgefecht. Aufgeplustert und mit vorgerecktem Kinn gewann die Wirtin deutlich Oberhand, schließlich griff der Typ in die Tasche und zählte einige knüllige Geldscheine auf die Theke. Eigentlich wirkte er mit seinen großen, schwieligen Händen und dem kräftigen Oberkörper samt anhängender Bierwampe nicht so, als wäre er leicht zu beeindrucken. Trotzdem war er plötzlich ganz brav.

Die Wirtin steckte das Geld ein und wedelte ihn majestätisch weg. Er verschwand ohne weitere Einwände.

Ich klappte den Mund zu und gab ihr die Kladde zurück. Sie las und versuchte dann, meinen Namen auszusprechen.

»Ne-uw Arta …«, klang es, »Americana?«

Ich hätte sie küssen können, sie benutzte die weibliche Form.

»Não, alemão.«

Sie nickte zufrieden und trug etwas in der Kladde nach, dann sagte sie »Bem. Sua quarto, acompanhar.«2020

Sie wendete zur Treppe und stieg hinauf. Ich folgte und heftete dabei meine Augen auf ihre Fesseln. Sie trug ausgelatschte Espadrilles. Meine Nase befand sich auf Höhe ihres ausladenden Hinterteils.

Oben betraten wir in einen Gang, von dem einige Türen nach beiden Seiten abgingen. Sie öffnete eine davon. Das Zimmer war klein und genauso abgewetzt wie alles dort. Ein stählernes Bettgestell und ein gemauerter Wandschrank waren neben einem Stuhl, der als Nachttisch diente, die einzigen Möbelstücke. Das Fenster, durch das ein breiter Streifen Sonnenlicht über das Bett fiel, zeigte zur Straße und war von zwei Fetzen mürbem Stoffes flankiert. Kurz, es war himmlisch.

Die Wirtin schaute an mir runter und fragte »Bagagem?«

Erst zuckte ich mit den Schultern, dann sie. Sie zeigte mit dem Daumen über den Gang entlang und sagte »Banheiro alí.«2121

Zwanzig Minuten später lag ich frisch geduscht und rasiert im Bett. Eine bleierne Schwere presste mich auf die Matratze. Nur eine halbe Stunde ausruhen, dann musste ich los, ein Internetcafé suchen.

Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so alleine und fertig gefühlt hatte.

Die Müdigkeit zog mich in den Schlaf, aber es war, als ob ich in einem Ozean versinke.

Nach einiger Zeit bemerkte ich, wie sich alles um mich vergrößerte. Das Bett wurde länger und breiter, gleichzeitig rückten die Wände weg und die Zimmerdecke verschwand nach oben. Die Tür ragte über mir auf, wie für Riesen gemacht. Rundherum glühte ein Lichtstreifen, als sei es dahinter gleißend hell. Ich wollte den Kopf wenden, konnte mich aber nicht bewegen.

Ich spürte, dass gleich etwas durch diese Tür hereinkommen würde. Panik schnürte mir die Luft ab.

Ich fuhr aus dem Bett hoch. Benommen blickte ich mich um und wusste für Augenblicke nicht, wo ich war. Dann schlug die Erinnerung zu. Aufstöhnend sank ich zurück aufs Kissen.

Draußen war es dunkel geworden, durchs Fenster schien gelbliche Straßenbeleuchtung. Verdammt, ich hatte die Mailstunde verpennt.

Einige Minuten lang liefen meine Augen über. Dann zog ich mich an. Wenigstens in diesen Club wollte ich noch gehen, etwas Sinnvolles tun. Hunger hatte ich obendrein.

Beim Aufhübschen betrachtete ich mich im Spiegel.

Müde sah ich aus, angeschlagen und angespannt. Meine Nase spitzte aus einem blassen Gesicht heraus, die Wangen hohl bis eingefallen. Dadurch wirkten mein Mund und die Augen noch größer. Nee, schön fühlte ich wirklich nicht. Das passendere Adjektiv wäre das wohlwollende »markant« gewesen. Meine Perücke musste dringend gewaschen werden. Ich sollte wieder meine Haare wachsen lassen und so zu einer erheblich pflegeleichteren, weiblichen Frisur kommen, wurde mir langsam klar.

 

Aber leider würde davor eine längere Phase liegen, in der ich wieder aussehe würde wie Cornelius vom Land.

Die Wirtin saß hinter ihrem Tresen und studierte irgendwelche Unterlagen. Sie blickte auf und musterte mich. Sie sagte irgendwas Unverständliches, aber es klang anerkennend.

Den Weg zum Amorosa Louca fand ich ohne Probleme auch im Dunkeln wieder und so stand ich wenig später wieder vor der verschrammten Tür mit dem Guckloch.

Mir war so ein Schuppen ja zuwider. Nein, ehrlicherweise musste ich zugeben, er machte mir Angst. Aber jetzt umdrehen? Auch blöd, also klingeln.

Klingeln musste ich drei Mal, bevor sich was tat. Es war wohl noch nicht halb neun. Jemand schaute durchs Sichtfenster und fragte, was ich wollte. Vermutete ich jedenfalls. Da ich vergessen hatte mir einen Text zurecht zu legen, stotterte ich was auf Englisch. Als ich Cristina erwähnte, höre ich ein leises »moment«, dann wurde die Tür entriegelt und geöffnet.

Vor mir stand ein kahlköpfiger, muskulöser Typ, der mich an Meister Propper erinnerte. Er trug ein dunkles Ringershirt, aus dem die Muskeln quollen. Seine Ohrringe blitzten im Halbdunkel des weinroten Foyers. Er sagte »Come in« und ließ mich ein. Es kratzte metallisch, als er die Tür hinter mir abschloss.

Stumm starrten wir uns einen Moment an.

»Was willst du von Cristina erzählen? Ist sie wieder hier? Ich dachte, die ist in Deutschland.«

»Ja, eigentlich schon. Aber jetzt gerade nicht. Ich suche jemand aus ihrer Familie. Soweit ich weiß, hat sie Verwandte hier in der Stadt.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. Mehr denn je sah er dadurch wie ein schwarzer Meister Propper aus.

»Warum? Und wer bist du überhaupt?«

»Ich bin Nel Arta, aus Berlin. Daher kenne ich Cristina.«

Er kam einen Schritt auf mich zu. Ich wollte gerne mehr Abstand halten, aber direkt hinter mir war die Tür.

»Und, weiter? Mal raus mit der Sprache«, sagte er und näherte sich noch ein Stück.

»Cristina ist in Sorocaba, in einer Klinik. Aber sie ist tot.«

Er zeigt keinerlei Emotion. »Aha, tot also. Und was willst du von ihren Verwandten?«

»Wegen Beerdigen …«

»Aha.«

Ich war irritiert.

»Kennst du denn welche von ihr? Sie hat hier doch mal gearbeitet.«

»Vielleicht. Bist du auch in dem Gewerbe?«

»Du meinst hier …? Nein, nein. Wie ist das jetzt mit den Verwandten?«

»Ich könnte noch jemand brauchen. Letzte Woche ist eine weg gegangen. Du siehst europäisch aus, das kommt hier ganz gut an. Wir haben Kunden, die auf so was stehen.«

Um Himmels willen, so tief wollte ich nicht sinken.

»Nee, echt, das ist nichts für mich. Wie könnte ich an die Familie kommen? Kennst du jemanden, den ich fragen könnte?«

»Mal sehen. Wie kann ich dich erreichen?«

Ich zögerte. Diese Frage hörte ich da schon zum zweiten Mal. Sie gefiel mir nicht.

»Ich hab noch keine Bleibe. Ich komme einfach nochmal wieder. Morgen?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Gibt es hier in der Nähe eine Kneipe, wo es was zum Essen gibt?«, fragte ich.

»Rechts, nächste rechts, nächste links. Paar Minuten.«

»Danke. Okay, dann gehe ich mal. Bis Morgen.«

Kommentarlos langte er an mir vorbei, öffnete und ließ mich hinaus. Während ich durchatmete, knirschte die Tür hinter mir ins Schloss.

7

Eine gute Stunde später saß ich vollgefressen und angetütert auf einem Plastikstuhl. Vor mir das zweite Glas Wein. In der Ecke hing ein Fernseher, in dem sich ein Fußballplatz samt Zubehör breit gemacht hatte.

Ich hatte keine Lust zur Pension zu gehen, mir tat die anonyme Gesellschaft gut und es ging mir deutlich besser. Wenn nur die Sache mit der Klinik nicht gewesen wäre. Ich konnte da nicht einfach aufkreuzen und die Hand aufhalten. Ohne Hilfe und Zeugen würde ich die Klinik nicht mehr betreten.

Auf der Suche nach Auswegen stierte ich in die rötliche Spiegelung im Weinglas. Die verdunkelte sich, als sich eine Baggyjeans und ein Unterhosensaum samt Fleischfüllung vor meinem Tisch aufbauten.

»Zisch ab, Lulli, ich mag keine Jungs, egal wie klein.«

Ich machte mir nicht mal die Mühe aufzuschauen. Nur seine Stimme brachte mich dazu die Lider nach oben zu bewegen.

»Você é la alamão?«

»Sim, é você?«

Immerhin, ohne Nachdenken ein Kurzdialog auf Portugiesisch. Ich erblickte einen jungen Schwarzen mit blondierten Strähnen, jeder Menge Ohrringen und einer roten Sportjacke, mit der Aufschrift der »Olympic Heroe«.

»Sou o hermano do Cristina. Que pasa?«2222

Das würde ein Sprachproblem werden. Ich fragte »Inglés?«

Er drehte sich um und winkte jemand herbei. Eine junge Schwarze, die Blondie ziemlich ähnelte, näherte sich. Bei der Zahl der Ohrringe hatte sie ein leichtes Plus. Sie stellte sich neben Blondie, lächelte mich an und reichte mir die Hand.

»Hi, ich bin Alina, Cristinas Schwester. Ich spreche ein bisschen Englisch.«

Es war wirklich nur ein bisschen, aber ich hatte Zeit.

»Hallo, ich bin Nel. Wollt ihr euch setzen?«

Alina setzte sich, während er stehenblieb. Sie zuckte mit den Schultern und fragte »Dein Name, escribe«, dabei machte sie eine Kritzelbewegung mit den Fingern. Mit dem Lippenstift notierte ich ihn auf eine Serviette. Sie las, stutzte und murmelte »Ne-uw.« Sie brach in Lachen aus.

Ihr Bruder spielte cool. Sie hielt ihm die Serviette hin.

»Ihr Name, Ne-uwson«, sagte sie und gackerte hemmungslos.

Er musste erst mühsam das Grinsen unterdrücken, schließlich lachte er mit und ließ sich auf einem Stuhl nieder.

»Ne-uw und Ne-uwson«, prustete Alina zwischen Lachanfällen. Okay, so lustig fand ich es nicht. Aber ihr Lachen war so ansteckend, dass ich mitlachen musste.

Nachdem wir uns beruhigt hatten, besann ich mich darauf eine gute Gastgeberin zu sein.

»Was mögt ihr trinken? Bier?«

Alina übersetzte. Mit Bier waren beide einverstanden. Ich nutzte die gelockerte Atmosphäre und erzählte. Mit möglichst einfachen Worten und vielen Pausen, damit Alina Zeit zum Übersetzen hatte. Sie erzählte, dass sie ihr Englisch als Haushaltshilfe in einer englischen Familie gelernt hatte. Ein ziemliches Kauderwelsch mit vielen portugiesischen Einsprengseln, aber es funktionierte.

Nach und nach machte die ganze Kneipe spitze Ohren.

Ich schlug vor, draußen zu reden. Nebenan gab es eine niedrige Mauer, die den Parkplatz eines Apartmenthauses einfriedete. Dort machten wir uns mit ein paar Bierdosen breit.

Alina weinte, als ich erzählte, wie ich ihre Schwester gefunden hatte. Nelson sprang auf, trat gegen den Beton, setzte sich wieder und streichelte Alinas linke Hand. Die andere nahm ich mir vor.

Weitere Male sprang Nelson auf, redete erregt auf Alina ein, ballte die Fäuste, prüfte den Beton, ehe er sich wieder setzte. Alles garniert mit diversen fahrigen Bewegungen mit den Händen.

Er machte mich völlig konfus, viel lieber wollte ich Alina in Ruhe trösten und Händchen halten. Ich betrachtete sie von der Seite. Der zarte Flaum auf ihrer Wange war mit Tränen verklebt, ihre Schultern zuckten unrhythmisch.

Ich hätte Nelson zu einem Dauerlauf die Straße entlang überreden sollen. Gegen meine telepathischen Vermittlungsversuche war er aber immun.

Nach einer Weile zog er ein Pfeifchen aus der Tasche, stopfte es und hüllte uns in Rauchschwaden. Nach ein paar mächtigen Zügen hielt er mir die Pfeife hin.

»Maconha?«2323

Ich nickte, denn ich ahnte, was das bedeutete.

Schließlich nuckelten wir alle an dem Ding. Zwischendurch ging ich noch mehrmals rein und holte Bier. Alina ging es wieder besser, wir quasselten durcheinander, bis ich endlich fragte, ob sie sich vorstellen konnten, mit mir nach Sorocaba zu kommen. Geld holen, eine Beerdigung arrangieren und vielleicht der Sache auf den Grund gehen.

Erst waren sie ganz still. Da wäre ich am liebsten aufgesprungen, so gespannt war ich, doch das Bier und die Rauchwaren sorgten für solide Bodenhaftung. Nelson und Alina redeten aufeinander ein.

Schließlich erklärte Alina, dass sie beide mitkommen würden.

Ich hätte sie küssen können. Noch vor ein paar Stunden war ich völlig alleine gewesen, plötzlich hatte ich so etwas wie Freunde.

Ich fragte sie, was sie davon hielten sich an die Polizei zu wenden. Sie lachten abschätzig. Nelson ließ übersetzen, das solle ich nur machen, wenn ich geprügelt, gefickt und eingelocht werden wollte.

»Gut«, sagte ich, »ich verstehe schon, dann eben ohne Bullen. Aber dann können wir das Verbrechen sicher nicht aufklären.«

Nelson winkte ab und dabei lachte höhnisch auf.

Alina schien seiner Meinung zu sein. »Keine Chance. Um uns kümmert sich die Polizei nicht. Um welche wie dich oder Cristina erst recht nicht.«

Ich wollte noch mal Bier holen. Zum Aufstehen musste ich mich auf Alina abstützen. Sie winkte ab.

»Auch recht«, sagte ich.

Alina schaute mich fragend an. Ich musste lachen, denn ich hatte vergessen, dass sie kein Deutsch verstand.

Inzwischen war es spät geworden. Alina wollte gehen. Sie musste Nelson überreden, was ihr einige Mühe machte. Sie schleppte ihn zu einem Motorad vor der Kneipe.

Während sie sich die Helme überstülpten bekam ich Angst.

»Moment, wartet. Wir müssen uns noch verabreden. Wie kann ich euch erreichen?«

»Morgen hier um halb acht«, sagte Alina, nachdem sie mit Nelson verhandelt hatte.

Knatternd rauschten sie ab.

Sofort sackten Einsamkeit und kühles Nachtdunkel schwer auf mich. Das Gefühl war so beängstigend, dass ich mich zur erleuchteten Kneipe hinwendete. An der Tür erwarteten mich zwei neugierige Besoffene, deren Zudringlichkeit durch meine betäubte Wahrnehmung drang.

So elegant, wie das noch möglich war, legte ich eine Kehrtwendung hin, dabei hörte ich mich selbst reden.

»Könnt euch gegenseitig anne Wäsche gehn, ihr Schleimkröten, meine Mama will nich, dass ich mit Kerlen rummach …«

Sie riefen mir irgendwas nach.

Mit unsicheren Schritten machte ich mich auf den Weg in die Pension. Unterwegs erzählte ich dem Affen auf meiner Schulter, dass ich morgen unbedingt Jason schreiben müsse, dass ich die Sache mit der Kohle selbst geregelt hätte. Dann wurde mir übel.

8

Ganz vorsichtig öffnete ich ein Auge. Der Affe war verschwunden, hatte mir aber vorher ins Hirn gekackt. Der Haufen drückte noch gegen die Schädeldecke, aber der Geschmack war schon auf der Zunge angekommen.

Ich tastete systematisch meinen Körper ab. Es fühlte sich alles so an, wie ich es gewohnt war. Demnach hatte ich ziemlichen Mist geträumt.

Ich brauchte fast eine Stunde, um ausgehfertig zu werden. In der Zwischenzeit fiel mir auch ein, was ich dringend erledigen wollte.

Die Zimmerwirtin war auf ihrem Posten und erklärte mir, wo ich ein Internetcafé finden kann.

Sie sah mir an, dass ich es gestern zu gut mit mir gemeint hatte. Neugierig war sie auch, denn sie bot mir einen Kaffee an. Ich vertröstete sie auf morgen und stiefelte los.

Nie wieder hatte ich seitdem von Berlin behauptet, es wäre laut und schmutzig. São Paulo hatte mich eines Besseren belehrt. Nervenzerfetzender Verkehrslärm, von den Abgasen nicht zu reden.

Scheiße lag auch herum, aber nicht um Bäume, denn die gab es dort nicht.

Bis zum Centro Comercial in einer belebten Geschäftsstraße dauerte es eine halbe Stunde.

Mein Magen signalisierte mir, dass er eine angemessene Portion Kaffee verkraften könnte. Ich ließ sie ihm zusammen mit ein paar Madeleinas in einem Stehcafé auf der Galerie zukommen.

Meine Laune hellte sich etwas auf, aber welcher Wahn hatte mich nach Brasilien getrieben?

Von den Fragen hatte ich noch mehr auf Lager, zum Beispiel, warum geriet ich immer und überall in so eine Scheiße?

Weil ich aktiv meine missliche Lage verbessern wollte, kaufte ich mir eine Grundausstattung Klamotten. Dabei erstand ein Spaghettiträger-Top mit tiefem Ausschnitt. Zu Hause hätte ich das nie gekauft, aber hier gab es nichts, wo nicht der halbe Busen raushing.

 

Scheiß auf das Geld, wenn ich die Dollars wieder bekommen würde, war alles geritzt. Wenn nicht, reichte sowieso nicht. Deshalb kehrte ich anschließend wieder zum Stehcafé zurück. Zumal noch viel Zeit bis zur Mailstunde blieb.

Ich beobachtete die Menschen und hing meinen Gedanken nach.

Jemand drängelte sich an mir vorbei und befreite mich so von der Grübelei.

Zeit zu gehen, wie zu Hause wollte ich an den PC. Ich bückte mich nach dem Rucksack, aber der war nicht da. Auf der anderen Seite vom Hocker fand ich ihn auch nicht.

Schnell blickte ich mich nach dem Drängler um.

Da schlenderte ein spindeldürrer Halbwüchsiger mit Baseballkappe, der meinen Rucksack lässig in einer Hand trug, Richtung Ausgang. Ich sprang so ruckartig auf, dass der Hocker mit einem Knall umkippte.

Der Mistkerl mit meinem Rucksack drehte sich kurz um, dann legte er einen Kavalierstart hin. Ich schrie laut »He« und sprintete hinterher, vorbei an einem Spalier von offenen Mäulern.

Die Turnschuhsohlen des Diebs quietschten wie Turnhalle. Ich konnte auch schnell sein, wenn es sein musste. Wir sausten über die polierten Steinböden zur Treppe. Am Galeriegeländer schlug er einen Haken, dabei lugte er kurz nach hinten. Offenbar wurde ihm die Sache zu dumm, er warf meinen Rucksack in die Tiefe. Ich hatte Riesenbock mit seinen Eiern Baseball zu spielen, aber eine pragmatische Haltung zu Alltagsfragen. Deshalb raste ich die Treppen runter hinter meinen Sachen her und ließ ihn in einen Seitengang entwischen.

Mein Rucksack war zwei Etagen tief abgestürzt. Er musste offen gewesen sein, denn mein ganzer Krempel lag dort unten verstreut. Leuten schauten verstört hinauf. Ich beeilte mich die Treppe hinunterzuspringen um aufzusammeln, bevor es andere taten. Beim hastigen Schwung um das untere Ende des Geländers knallte ich voll in eine ältere Frau, die mir mit einer prallen Plastiktüte in die Quere geriet.

Wir stützten beide mit einem Schrei zu Boden, ihre Tüte platzte. Mindestens ein Kilo Tomaten rollte in alle Richtungen davon. Ich lag noch benommen auf dem Bauch, die Nase dicht über einer Doppelreihe aromatischer Bananen, da erschienen vor mir ein Paar dunkle Herrenschuhe, die unter grauen Uniformhosenbeinen herauslugten. Dazu ertönte eine Stimme. Mein Blick kletterte an den Graten der Bügelfalten empor

Die Grate endeten im Schritt in Querfalten, wie sie gewöhnlich beim Sitzen entstehen. Unter der Beule mussten Zepter und Reichsäpfel verborgen sein. Darüber folgte ein Gürtel, an dem ein Sprechfunkgerät und eine Stablampe hingen. Über dem Gürtel beulte eine Wampe in dunkelblauem Uniformhemd. Gekrönt wurde das Ganze von einem Schnauzbart, der sich mit den Lippen auf und ab bewegte. Die Rede war eindeutig an mich gerichtet und ziemlich barsch.

Zwei Kunden halfen der Frau auf. Sie hielt sich mit schmerzverzogenem Mund am Geländer fest. Ich haspelte ein paar Entschuldigungen und sammelte Tomaten ein.

Die Stimme wurde noch lauter, dazu gesellte sich eine Zweite, die hinter mir grollte. Ich scherte mich nicht darum, was gingen mich solche Kerlen an? Lieber wollte ich der Frau helfen und ihr Gemüse aufheben. Zwei Hände packten mich, zerrten mich hoch und drehten mir den Arm auf den Rücken. Ich musste den Oberkörper wegen der Schmerzen tief nach unten beugen.

»He, was soll das? Nehmt die Flossen weg, Arschlöcher.«

Mein Protest nutzte nichts. Sie drückten meinen Unterarm ao lange nach oben, bis ich die Klappe hielt. Dann ließen sie wieder nach.

»Mein Rucksack, ich brauche meine Sachen …«

Mein Protest erstickte in Gewimmer. Ich hatte Angst, sie würden mir den Arm brechen. Die beiden Uniformierten drängten mich in einen Seitengang und dort durch eine stählerne Tür. Jede meiner Bockigkeiten wurde mit einer Gemeinheit beantwortet. Erst drückten sie gegen den Unterarm, dann im Seitengang, wo es kein Publikum mehr gab, schlug einer mit einem Schlagstock gegen meinen Oberschenkel. Ich gab klein bei.

Wir durchquerten eine weitere Tür, die in eine Art Wachstube führte. Hinter einen Tresen saßen noch zwei von der Sorte. Sie musterten mich neugierig. In den Brillengläsern des Jüngeren spiegelten sich Bilder von Monitoren. Meine Bewacher ließen mich los. Ich konnte mich aufrichten, hielt aber wohlweislich die Klappe. Der immer noch bereitgehaltene Schlagstock flößte mir Respekt ein.

Die Typen begannen ein Palaver.

Schließlich erhob sich der Jüngere und verschwand. Die Beiden, die mich geschnappt hatten, stießen und gestikulierten mich durch eine andere von diesen Türen aus solidem, grau lackiertem Stahl, in einen kurzen Gang. Von dort wieder in einen Raum, klein und fensterlos mit kahlen Wänden. Bis auf einen kleinen Tisch und zwei ramponierten Stühlen war er völlig leer.

Der mit dem Schnauzer blieb an der Tür stehen. Sein Kollege wedelte mit dem Schlagstock vor meiner Nase herum und gab mir unverständliche Anweisungen. Ich verstand nichts und er schlug mir wieder gegen den Oberschenkel.

Ich schrie vor Schmerz und stolperte zurück gegen die Wand. Er setzte sofort nach, den Stock drohend erhoben. Mit der linken Hand zupfte er an meiner Jacke und machte auffordernde Bewegungen.

Also zog ich die Jacke aus. Er nickte zustimmend, nahm sie mir weg und reichte sie seinem Kollegen. Der filzte gründlich die Taschen und schmiss sie unter den Tisch. Nun zerrte er an meinem T-Shirt. Das hatte ich befürchtet.

In Krimis war das stets die Stelle, an der die Heldin ihre fast vergessenen Karatefähigkeiten einsetzt und mit ein paar Glückstreffern ihre Kontrahenten auf die Bretter schickt. Dabei bricht sie sich einen Fingernagel ab und die Frisur ist hin, aber sie kann entkommen und die Bösewichter ans Messer liefern.

Leider verfügte ich über keinerlei vergessene Fähigkeiten. Selbst wenn es so gewesen wäre, die Angst lähmte mich.

Deshalb nahm der Kerl mein Top in Empfang.

Er betrachtete eingehend meinen Busen, bevor er mit dem Stock leicht gegen meine linke Brust klopfte und eine Frage stellte. Ich zuckte mit den Schultern, aber ich glaubte, er wollte wissen, ob der Busen Natur war. Daraufhin überprüfte er die Sache eigenhändig. Das machte er dermaßen brutal, dass mir Tränen in die Augen stiegen.

Leider hatte er immer noch nicht genug, danach kam meine Hose dran, Schuhe und Strümpfe sowieso. Interessiert betrachtete er meinen Schritt. Trotz der Miederunterhose zeigte sich eine Beule. Vielleicht hatte er schon vermutet oder gehofft, dass er sie vorfinden würde.

Er prüfte die Sensibilität des Bereichs mit einem dosierten Schlag. Der Schmerz durchzuckte mich so heftig, dass mir die Luft wegblieb.

Mein Kopf sackte bis auf seine Bauchnabelhöhe. Er fasste mit der Linken meinen Hals direkt unterhalb des Kinns, hob mich so wieder hoch und drängte mich mit dem ganzen Körper gegen die Wand. Obendrein schob er seinen Schlagstock zwischen meine Beine und zog ihn kräftig nach oben. Sein Gesicht war meinem sehr nahe. Seine grobporige Nase hatte ich unmittelbar vor Augen. Sein Atem roch, als hätte er in Aftershave gesottenes Aas gefressen.

Ich wägte meine Chancen ab. Ganz kampflos wollte ich ihn nicht gewähren lassen. Vielleicht der berühmte Stirn–Nasenkick? Beide Scheißkerle schätzte ich so um die dreißig und jeder für sich schien schon kräftig genug, mich windelweich zu schlagen.

Jemand klopfte an die Tür. Der junge Kollege mit der Brille steckte kurz den Kopf rein und sagte irgenwas.

Mein Peiniger ließ unvermittelt von mir ab. Der Schnauzbart schob mir die Klamotten mit dem Fuß rüber.

Sie wollten also sehen, wie ich mich vor ihnen in den Staub schmiss. Mir war mittlerweile fast alles egal, ich bückte mich. Hauptsache ich war nicht mehr nackt. Mit zittrigen Händen zog ich mich unter den abschätzigen Blicken der Mistkerle an.

Als ich soweit war, wurde ich aus dem Zimmer eskortiert, durch den Gang in einen anderen Raum.

Es war ein fensterloses Büro mit Schreibtisch, ein paar Stühlen und zwei Aktenschränken. Hinter dem Schreibtisch thronte ein fetter Typ um die fünfzig mit kurzem grauem Haar. Er war mir spontan zuwider.