Read the book: «Venus in echt»
Rhea Krčmářová: Venus in echt
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 edition a, Wien
Lektorat: Dino Beck
Cover und Gestaltung: Hidsch
Druck: Theiss (www.theiss.at)
eBook-ISBN 978-3-99001-087-7
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
KAPITEL 1
Von meinem Platz an der Rückwand des Festsaals aus sah ich, wie Christian den Raum betrat und auf die Bühne zuging, und mein Herz fühlte sich an wie der Motor von Prinzessin Peachs Rennwagen, wenn sie über die Rennstrecke in Mario Kart rast. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn noch besser sehen zu können. Sollte ich seinen Namen rufen? Lieber nicht, dachte ich, und hoffte, er würde mich von sich aus bemerken. Stattdessen nickte Christian zwei jungen Werbern mit Hornbrillen zu und lächelte eine Gruppe Frauen an, die in der ersten Reihe saßen, aufgereiht wie die Vögel aus Angry Birds beim Warten auf das Katapult. Wie hatte er es geschafft, eine Frau mit meinen Dimensionen zu übersehen, die noch dazu keine zwei Meter neben der Eingangstür stand, durch die er gekommen war? Ich atmete tief ein und schluckte meine Enttäuschung hinunter. Hauptsache, Christian war endlich hier. Zaghaft machte ich einen Schritt nach vorne. Los, Romy, dachte ich. Sprich ihn an. Frag ihn endlich, ob er nach dem Vortrag mit dir einen Kaffee trinken gehen will. Das ist deine allerletzte Chance, bevor er sein Sabbatical antritt und du ihn vielleicht für immer aus den Augen verlierst.
Ich zögerte. Ihn vor seiner Präsentation anzusprechen, war eher keine gute Idee. Ich würde ihn aus der Konzentration reißen, und die Blicke von mehr als zweihundert Menschen auf mich ziehen. Der ganze Saal würde sich fragen, warum diese fremde fette Frau es wagte, den Starredner des Nachmittags zu belästigen. Ich lehnte mich wieder an die Wand und beschloss, erst nach dem Vortrag zu ihm zu gehen. Beinahe vier Jahre hatte ich gebraucht, um den Mut für diesen Versuch aufzubringen, fast 1.400 Tage. Da kam es auf diese eine Stunde auch nicht mehr an.
Am anderen Ende des Saals erklomm Christian das Treppchen zur Bühne und rückte seinen Laptop neben dem Rednerpult zurecht. Ich seufzte. Seit mehr als zwei Stunden stand ich mir nun schon im überhitzten und überfüllten Prunksaal des Wiener Innenstadtpalais die Beine in den Bauch und ließ Vorträge über Re-Branding und Werbestrategien über mich ergehen, die mich ungefähr so sehr interessierten wie einen Oger ein Handbuch über Webdesign. Dabei musste ich bis Ende der Woche mein aktuelles Game-Projekt fertigstellen, und morgen würde ich für zwei Tage nach London zu einem Vorstellungsgespräch fliegen. Um Christian heute ansprechen zu können, würde ich bis weit nach Mitternacht vor dem Computer sitzen und die versäumte Zeit nachholen müssen.
Um die Langeweile der vorangehenden Vorträge besser zu ertragen, hatte ich mir vorgestellt, eine Kampfelfe aus meinem Lieblingscomputerspiel Knights of the Dragon Isle zu sein. Ich hatte den Saal im Geiste in die Versammlungshalle der untergehenden Insel verwandelt und die Werbemenschen in die wikingerartigen Kostüme des Großen Rats gesteckt. Wirklich geholfen hatte es nicht. Die neuen Stiefeletten mit den Acht-Zentimeter-Absätzen, die ich extra für heute gekauft hatte, trieben mir inzwischen Tränen des Schmerzes in die Augen. Ich fragte mich, ob mein Gewicht meine Qualen noch schlimmer machte oder ob dünne Frauen in neuen Schuhen genauso litten.
Die Werbeleute im Saal waren zum Glück zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um meine inneren Tumulte wirklich zu bemerken. Ich war die einzige dicke Frau im ganzen Raum, und die Blicke, die ich deswegen auf mich zog, reichten ohnehin, dass sogar jemand wie ich sich unrund fühlte.
Zumindest konnte ich Christian wieder im wirklichen Leben sehen, nicht nur online und in meinen Fantasien. Ich fragte mich, ob ihn mein Vorschlag überraschen würde. Vermutlich schon, dachte ich. Schließlich war ich geübt darin, meine Gefühle für ihn zu verbergen. Nur meinen besten Freunden Olga und Cem hatte ich meine Verliebtheit gebeichtet. Ich wusste zu gut, wie lächerlich die Vorstellung für die meisten Menschen war, ein Mann wie Christian könnte sich in eine Frau wie mich verlieben. Christian, da war sich die Gesellschaft einig, spielte in einer anderen Liga als ich. Er war, was man einen Macher nannte, ein Mann, dessen Agentur die Social-Media-Szene aufmischte, er war erfolgreich, sportlich und von einer in sich ruhenden Selbstsicherheit. Ich passte kein bisschen in das Beuteschema, das man einem Mann wie ihm zuschrieb. Auf meinem Nachttisch stapelten sich Fantasyromane und Computerzeitschriften, ich fand Gerüchte über neue Smartphone-Entwicklungen aufregender als sämtlichen Klatsch aus Hollywood und ich konnte stundenlang mit Freundinnen über die Unterschiede zwischen den Büchern und den Verfilmungen von »Der Herr der Ringe« diskutieren. Ich war, mit anderen Worten, ein Geek. Noch dazu einer, der locker das Doppelte von den superschlanken Elfen aus der Werbewelt wog, und ich kannte keinen einzigen Mann in seiner Position und mit seinem Aussehen, der eine Frau oder Freundin mit meinen Proportionen hatte. Vielleicht war es ein Fehler, überhaupt hier zu sein, und die Idee, ihn anzusprechen, eine Wahnvorstellung. Würde er mich auslachen, wenn ich ihm ein Date vorschlug, wie er es manchmal in meinen Alpträumen tat, aus denen ich zittrig und schweißüberzogen hochschreckte? Würde er mir ins Gesicht sagen, dass ich für einen Mann wie ihn schlicht und ergreifend zu fett war?
Nein, dachte ich. Christian war anders als die meisten Männer, die ich kannte. Seit unserer ersten Begegnung hatten mich seine Einfühlsamkeit fasziniert, sein Talent, unter die Oberfläche blicken zu können. In einem zynischen, aggressiven Umfeld schaffte er es, galant und höflich zu bleiben – er war gegenüber Botenfahrern und Praktikanten genauso aufmerksam wie gegenüber seinen besten Kunden. Er merkte sich, was ich beim Smalltalk in der Büroküche von mir gab, und fragte sogar nach, wie es meinen Katzen ging. Ein Mann wie Christian konnte es schaffen, durch meine Fettschichten hindurchzusehen und sich in mein Wesen zu verlieben.
Damit er mich aber besser kennenlernen konnte, musste ich in seiner Nähe sein, und das war schwieriger, als im Alleingang ein Bossmonster aus World of Warcraft zu besiegen. Seit meine Freundin Olga und ich vor einem halben Jahr das letzte kleine Online-Spiel-Projekt für einen Kunden seiner Agentur abgeschlossen hatten, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hatte gehofft, ihm auf dem Weg ins Bauchtanzstudio zu begegnen, das im selben Haus lag wie sein Büro, oder ihn in einem der Lokale in der Nähe seiner Agentur mehr oder weniger zufällig zu treffen, doch weder das eine noch das andere war mir gelungen. Die einzigen Zeichen, dass ihn keine Schar von Dämonen gefressen, waren seine deprimierend seltenen Statusupdates auf Twitter oder Facebook. Für den Chef einer Social-Media-Agentur war Christian leider erstaunlich diskret.
Dank der automatischen Google-Benachrichtigung, die ich für ihn eingerichtet hatte, hatte ich zumindest von seinem heutigen Vortrag erfahren. Als ich gelesen hatte, dass dies sein letzter öffentlicher Auftritt vor einem längeren Sabbatical war, fühlte ich mich, als wäre mein Herz in den Kometenkrater von Diablo III gefallen. Dieser Vortrag war meine letzte Chance, mich zu überwinden und ihm endlich zu gestehen, was ich für ihn empfand. Obwohl ich in der Schlussphase dieses Game-Projekts war, hatte ich einen halben Vormittag darauf verwendet, in meinem LinkedIn, Xing und in sonstigen Netzwerken jemanden zu finden, der mir die Tür zu dieser geschlossenen Veranstaltung öffnen konnte, und jetzt bemerkte er mich nicht einmal.
Die Lichter im Raum gingen aus und Christian verschwand im Halbschatten der Bühne. An der Saalwand erschien das Bild eines Wellnesshotels irgendwo an der Baumgrenze, und Christian erzählte von der Social-Media-Strategie, die er für das Hotel entwickelte. Der Enthusiasmus in seiner Stimme ließ ein Prickeln durch meinen ganzen Unterbauch laufen. Ich versuchte, sein Gesicht zu erkennen, und wünschte mir, es wäre in Großaufnahme zu sehen. Ich kannte sein Gesicht gut, hatte immer wieder Fotos aus dem Internet abgezeichnet und mir beim Skizzieren jedes Detail eingeprägt: seine schmalen Wangen, die kleine Narbe an der Schläfe, die Sommersprossen, die seine Haut vom Ansatz der rotblonden Haare bis zu seinem Hemdkragen überzogen. Mein Blick wanderte durch das Halbdunkel über seinen langen, beinahe schlaksigen Körper, über seinen flachen Bauch, über die Stelle, wo der Reißverschluss seiner Hose sein musste. Ich wünschte mir, Christian endlich ohne Scham ansehen zu können, nach vier Jahren voller verstohlener Blicke über Besprechungstische und Laptopränder hinweg, und betete zu allen Göttern, die mir einfielen, dass er mein Angebot annehmen und mit mir ausgehen würde. Dass er mit mir reden, flirten und mich küssen würde. Dass er endlich all das mit mir machen würde, was er in meiner Fantasie schon seit Jahren tat.
Die Bilder an der Saalwand wechselten. Ich sah das Innere einer Suite, inklusive flackerndem Kaminfeuer und einer mit Kissen bedeckten Liege, über die jemand Rosenblätter gestreut hatte. Vielleicht könnten Christian und ich ja einmal ein Wochenende in diesem Hotel verbringen, dachte ich, sah meinen Körper tief in diese Kissen einsinken und glaubte, die Rosenblätter zu spüren, die an meinen Waden klebten. Christian kniete über mir, zog mein Wickelkleid auseinander, betrachtete meinen burgunderroten Balconette-BH und meinen XXL-Spitzenslip. Das weiche Licht des Kaminfeuers kaschierte die weißen Dehnungsstreifen, die meinen Bauch und meine Hüften überzogen. Christian übersah im Dämmerlicht auch die kleinen Dellen auf meinen Oberschenkeln. Ich genoss endlich die Wärme seiner Haut an meiner, spürte, wie seine Lippen meinen Körper erkundeten und ich unter seinen Berührungen dahinschmolz wie Frodos Ring in den Feuern von Mordor.
Als Applaus aufbrandete und es hell im Saal wurde, verlor ich auf meinen hohen Absätzen fast das Gleichgewicht.
Christian stieg von der Bühne, und war sofort von zwei Dutzend Menschen umringt, die mir die Sicht versperrten. Los, Romy, geh zu ihm, dachte ich. Jetzt, bevor ihn noch mehr Menschen belagern. Ich machte ein paar zaghafte Schritte nach vorne. Zwei Frauen Anfang zwanzig kreuzten meinen Weg, und ihre Blicke wanderten missbilligend meinen Körper entlang. Die eine beugte sich flüsternd zu ihrer Kollegin, bevor sich ihre Gesichter zu der Art von Grimasse verzogen, die eine dicke Frau nur zu gut kennt.
Ich setzte mich auf einen der freigewordenen Stühle, um den richtigen Moment abzuwarten. Mit einem diskreten Seufzen streckte ich meine schmerzenden Beine von mir, und kramte in meiner Tasche nach meinem Handy, das sich irgendwo zwischen Skizzenheften, Tintenstiften, einem Schoko-Müsliriegel und einer Zeitschrift für digitale Illustration versteckte. Dann sah ich aus den Augenwinkeln, dass jemand auf mich zukam. Ich hob den Kopf und sah direkt vor mir eine sehr schlanke Brünette, deren Blick am Bildschirm ihres Handys klebte. Bevor ich meine Beine zurückziehen konnte, stolperte sie über meine Stiefeletten, verlor das Gleichgewicht, und wäre fast auf den Marmorboden geknallt, wenn ich ihr nicht schnell die Hand entgegengestreckt hätte. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte ich verlegen.
Die Brünette ließ meine Hand los und sah mich giftig an. »Ihnen würde etwas mehr Rumlaufen nicht schaden«, sagte sie.
Ich senkte den Kopf, während die Verlegenheit meine Wangen zum Glühen brachte. Rasch zog ich die Beine ein, nahm mein Smartphone und tat beschäftigt. Zwischendurch schielte ich zu der Menschentraube vor der Bühne. Jetzt? Nein, noch zu viele Leute.
Nach zwanzig Minuten löste sich die Gruppe um Christian endlich auf. Nur noch er, die biestige Brünette und ich waren noch im Festsaal. Ich sah, dass er seine Tasche nahm. Jetzt oder nie, dachte ich, stand auf und ging zu ihm. »Hallo, Christian.« Mein Herz machte Sprünge wie Super Mario, meine Stimme klang ungefähr so melodisch wie ein uraltes Modem.
»Romy, was für eine nette Überraschung.«
Christians Lächeln ließ in meinem Bauch die Erregung brodeln wie einen frisch gebrauten Zaubertrank, und als er mir die Hand gab, fühlte ich mich wie elektrisiert. »Das war ein unglaublich spannender Vortrag«, sagte ich.
»Danke. Was kann ich für dich tun?«
»Also, ich wollte dich fragen, ob du mich … also mit mir …« Sehr eloquent, Romy. Wirklich. Ich holte tief Luft.
»Christian, willst du anschließend …«
Er schaute schräg an mir vorbei, und lächelte, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Als wären seine Augen ein Bildschirm, bei dem jemand die stärkste Helligkeitsstufe eingestellt hatte. Ich folgte seinem Blick. Eine Frau, deren Anblick mich überwältigte, betrat den Raum. Hatte ich schon eine XXL-Figur, wies sie sicher noch ein bis zwei X mehr auf. Doch sie kaschierte ihre Rundungen nicht mit einem wallenden Zelt von einer Tunika, sondern trug sie zur Schau, so stolz, wie ich es noch nie bei einer dicken Frau gesehen hatte. Ihren Körper umhüllte ein schwarzrotes Kleid im Vintage-Stil, und ich fragte mich, wo sie so etwas bloß in Übergröße gefunden hatte. Auf ihren hochgetürmten weißblonden Haaren thronten zwei echte Rosen, deren Rot mit dem des Kleids und ihrem Lippenstift harmonierte. Dieses Plus-Size-Pinup kam direkt auf Christian und mich zu. Was wollte sie von uns?
»Entschuldige mich bitte, Romy.«
Christian drehte sich um und nahm sie in seine sehr weit ausgebreiteten Arme. Wer war diese Frau, die jetzt ihre gigantischen Hüften an seinen schmalen Bauch presste? Woher kannte er sie?
Sie kicherte, stellte sich auf die Zehenspitzen, und berührte seine Schultern mit Fingernägeln, die aussahen wie auf dem Foto einer Burlesque-Diva, das ich letztens in meiner Facebook-Timeline gesehen hatte: perfekt oval, lackrot und mit halbmondförmigen Aussparungen am Ansatz. Sie flüsterte Christian etwas ins Ohr, sah sich um und kicherte. Er lächelte zurück und beugte sich zu ihr. Dann küsste er sie auf den Mund.
Auf einmal war es, als hätte jemand mitten in einem Computerspiel den Pauseknopf gedrückt. Spieler- und Nichtspielercharaktere froren ein. Nur die Geräusche gingen verschwommen weiter. Der Teil meines Hirns, der noch funktionierte, versuchte verzweifelt, das Offensichtliche wegzuerklären. Mein Körper konnte nur dastehen und die beiden anstarren.
Irgendwann erinnerte sich Christian wieder an mich. »Sonja, Liebling, darf ich dir Romy Morgenstern vorstellen? Sie macht Grafiken für Computerspiele.«
Sonjas Blick glitt etwas abschätzig über mich. Wieder eine von den ängstlichen Dicken, die auf Nummer sicher geht, schien sie zu denken. Eine, die glaubt, dass Mode nur für die Dünnen da ist. Sie trat einen Schritt auf mich zu und ich konnte ihr Parfüm riechen, Samsara von Guerlain, was ich mir bisher immer verkniffen hatte, weil ich es für zu dramatisch und zu auffällig hielt.
»Angenehm«, sagte Sonja. »Woher kennen Sie meinen Verlobten?«
Sie waren verlobt? Nein, bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist. Sonja wiederholte ihre Frage. Ich versuchte, aus dem Matsch, der einmal mein Hirn gewesen war, eine Antwort herauszupressen. »Ich habe bei einigen Projekten für seine Agentur mitgearbeitet.«
Hinter mir beendete die Brünette ihr Telefonat, ich hörte das »klack, klack«, mit dem ihre Stilettos auf dem Marmorboden auftrafen. Christian lächelte auch sie an. »Hallo, Alexa.«
Alexas Stimme klang wie Süßstoff, als sie Christians Namen aussprach, Sonjas Namen intonierte sie wesentlich säuerlicher, und mich ignorierte sie. »Gratuliere euch beiden zur Verlobung«, sagte sie und nahm Sonjas Hand. Ich sah, wie ihr Blick abschätzig über die Rundung von Sonjas Bauch glitt. »Na, wann ist es denn so weit?«
Ich zuckte zusammen. Wieso mussten dünne Menschen dicke Frauen immer fragen, ob wir schwanger sind? Christian aber streichelte den Hügel unter dem Pinup-Kleid, und Sonja presste ihre Hand über seine. »Danke, Alexa«, sagte Sonja. »Das Baby kommt Ende des Sommers.«
KAPITEL 2
»Wenn du nicht bald einen Schluck trinkst, nehme ich das persönlich.«
Ich seufzte, griff nach der Erdbeer-Colada, die ich stumm anstarrte, seit ich mich vor einer dreiviertel Stunde in Cems kleine Bar Chez Cem hinter dem Musikverein geschleppt hatte, und tat, wie mir befohlen. Dann sah ich Cem an, der über mir lehnte wie eine metrosexuelle Version des Gangsters Niko Belic aus Grand Theft Auto. »Zufrieden?«, fragte ich.
Cem, talentierter Barkeeper, guter Freund und mein Nachbar, schüttelte den Kopf. »Du siehst immer noch erbärmlich aus.«
»Vielen Dank, Cem.« Ich schob den Drink von mir, und blickte in den großen Spiegel über der Theke, der besser in eine südfranzösische Konditorei gepasst hätte als hier in die Wiener Innenstadt. Cem hatte recht, ich sah derart elend aus, dass ich mich als Covermodel für ein Zombiespiel bewerben konnte. Meine Locken waren bei meiner Flucht durch den Schneeregen aufgeweicht und hingen welk um mein Gesicht. Die verronnene Wimperntusche hatte ich nur provisorisch weggewischt, und mein Gesicht war noch blasser als sonst, von den roten Stellen einmal abgesehen, die leider nicht dekorativ auf meinen Wangen saßen, sondern ziemlich uncharmant um Augen und Nase. Zumindest bekam fast niemand mit, wie erbarmungswürdig ich aussah. An diesem Spätnachmittag Ende März war Cems Bar ziemlich leer. Die Tagesgäste zogen ihr Daheim dem Schneeregen vor, und die Menschen aus den umliegenden Büros würden wohl erst in ein oder zwei Stunden einzutrudeln beginnen.
Zumindest hatte Olga sich nicht davon abhalten lassen, sich durch den Matsch zu mir zu kämpfen. Ich sah, wie der Kälteschutzvorhang sich teilte, und ihr blonder Pagenkopf zwischen den Samthälften auftauchte. Sie winkte, als sie mich entdeckte, und kam auf die Theke zu. Zur Begrüßung schlang sie ihre zarten Arme um mich und drückte ihren Zwergenprinzessinnenkörper an meinen. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen«, sagte sie. »Romy, das tut mir so leid.«
Ich wusste, wie sehr sie meine Leidenschaft für Christian immer genervt hatte und fand ihre Lüge rührend. Olga kletterte auf einen der weiß lackierten, im Shabby Chic gehaltenen Hocker und schob mir meinen Cocktail zu. »Trink, Romy«, sagte auch sie. »Du bist unter Schock und brauchst Mana.«
Cem runzelte seine künstlich gebräunte Stirn. Seit dem Tag, an dem er und sein Klaus in die Wohnung neben meiner gezogen waren, hatten Olga und ich versucht, ihm die Augen für die magische Welt der Computerspiele zu öffnen. Bisher waren wir kläglich gescheitert.
»Mana ist Magier-Energie«, sagte Olga. »Wenn du dir endlich einmal ein paar Computerspiele zulegen würdest, wüsstest du das.«
Cem mixte einen Caipirinha für Olga. »Wenn ich mir euch Mädels so ansehe, finde ich, dass es genug Geeks auf dieser Welt gibt«, sagte er.
Ich ignorierte Cems und Olgas übliche kleine Neckereien. »Ich hätte alle meine Konsolen darauf verwettet, dass ihm nur Frauen mit Modeldimensionen gefallen«, sagte ich. »Und dann schwängert er ausgerechnet die Showgirl-Version von Miss Piggy. Ist euch klar, was das bedeutet?«
Olga griff über den Tresen nach einer Schale mit Erdnüssen. Cem klopfte ihr auf die Finger.
»Das heißt, dass ich es selbst verpatzt habe«, sagte ich und drückte meine Handflächen gegen mein Gesicht. »Wie um Himmels willen ist es mir gelungen, zu übersehen, dass ihm dicke Frauen gefallen?«
Cem warf eine Rumflasche in die Luft und fing sie nach zwei Loopings wieder auf. »Wenn er mit dir geflirtet hätte, hättest du das ja wohl bemerkt, oder?«, sagte er.
»Offensichtlich nicht. In Sachen Liebe hab ich kein Talent.« Ich schüttelte den Kopf, um den Nebel loszuwerden, der sich seit der Begegnung mit der dicken Sonja um mein Hirn gelegt hatte.
»Süße, ich weiß, dass es wehtut, aber diese Episode ist kein Lebensdrama«, sagte Cem.
»Und ob sie das ist. Ich bin 33 und hatte erst zwei Liebhaber. Cem, ich hatte meinen ersten Sex mit 27, in einem Alter, in dem meine Mutter schon ihre Familienplanung abgeschlossen hatte. In den vergangenen vier Jahren habe ich einen Kerl aus der Entfernung angeschmachtet, den ich die ganze Zeit hätte haben können, was ich aber nicht gemerkt habe, weil ich dafür schlicht und ergreifend zu blöd war, oder zu feige, und jetzt ist er weg.«
Cem mixte für einen sehr blonden Mann am anderen Ende der Theke etwas mit sehr viel Scotch. Olga beugte sich zu mir und strich mir in einer für sie untypisch sanften Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist eben eine Träumerin«, sagte sie.
Ich wich ihrem Blick aus. Träumerin, dachte ich, wie oft ich das schon gehört hatte, von Lehrern, Eltern, Freunden, sogar von meiner jüngeren Schwester. Sie hatten alle recht. Meine ganze Jugend hindurch hatte ich mich in Fantasiewelten voller Elfen und Trolle geflüchtet. Hatte Heftchenromane verschlungen, in denen edelmütige Piraten, grüblerische Ritter und Musketiere mit Gewissenskonflikten um die Liebe ihres Lebens kämpften. Bei seitenlangen Liebesszenen hatte ich heimlich meine Sinnlichkeit entdeckt und mich auf diese Art anscheinend für alle Zeiten für die Männer aus der Wirklichkeit verdorben.
»Was hat mir meine dumme Träumerei eingebracht außer verlorene Jahre, in denen ich alleine im Bett gelegen und von der großen Liebe fantasiert habe?«, fragte ich.
Cem wischte den Tresen ab. »Wir haben alle solche Phasen«, sagte er.
Das sagte ein glücklich verheirateter Mann, der den Partner seiner Träume auf einem Baumarktparkplatz gefunden hat.
»Bei mir ist das keine Phase«, sagte ich. »Vor vier Jahren war ich so unterkuschelt, dass ich mir die Katzen zugelegt habe. Ich war schon mit 29 eine Crazy Cat Lady.«
Olga hielt mir meine Erdbeer-Colada hin. »Dann lass uns darauf anstoßen, dass du endlich aufwachst«, sagte sie.
»Wobei ich nicht verstehe, warum es bei dir mit Männern nie klappt«, sagte Cem. »Du hast dein Leben doch sonst so gut im Griff. Sieh dich an. Traumjob, Traumfreunde und eine nette Wohnung hast du auch.«
»Ich bin fett, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.«
»Du bist auch gesund und fit, insofern ist dein Gewicht höchstens ein kosmetisches Problem. Nicht einmal das, weil es ja offensichtlich Männer gibt, die auf fette Frauen stehen«, sagte Cem.
»Anscheinend gibt es nur einen, und für den war ich zu dumm.«
»Nicht nur. Siehst du den Blonden am Tresen, den mit dem Polohemd? Der sieht dich schon die ganze Zeit an.«
Ich schüttelte den Kopf. »Meinst du den Fitnesstrainertyp da? Der sieht mich doch nur an, weil er sich fragt, wie eine Frau so fett sein kann, und ob er mich als Klientin gewinnen kann.«
Olga stöhnte. »Komm Romy, reiß dich zusammen und hör auf, dich zu bemitleiden. Christian war nichts für dich, und du hast zumindest ein paar XP gesammelt.« Sie wandte sich an Cem. »Experience Points, also Erfahrungspunkte«, erklärte sie ihm. »Die bekommst du beim Spielen, zum Beispiel wenn du einen Gegner besiegst oder besondere Aufgaben erfüllst. Hast du genügend Punkte gesammelt, kommst du auf den nächsthöheren Level und lernst neue Zaubersprüche und Kampftechniken.«
»Ich kann froh sein, dass die Liebe kein Computerspiel ist«, sagte ich. »Venus wäre gerade mal auf Level zwei. Sie spielt wie ein Noob.«
»Wer bitte ist Venus, und was ist ein Noob?«, fragte Cem.
»Venus ist mein Online-Name, seit ich dreizehn bin«, sagte ich. »Wegen meines Nachnamens. Morgenstern. Die Venus ist der Morgenstern, und ein Noob ist ein Newbie, also ein blutiger Anfänger.«
»Es wird Zeit, auf ein höheres Level zu kommen. So schwer kann es nicht sein. Erst letztens habe ich wieder von einer Studie gelesen, dass wenn Männer im Internet nach Sex suchen, sie den Figurentyp ›fett‹ dreimal so oft eingeben wie den Figurentyp ›dünn‹«, sagte Olga.
Ich schnaubte. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Laut dem Artikel gibt es sogar Plus-Size-Pornostars«, sagte Olga, tippte etwas in ihr Smartphone und hielt es mir unter die Nase. Ich sah das Bild einer rothaarigen, dicken Frau, die auf dem Rücken lag. Nackt. Sie hatte die Beine gespreizt und ihre Hand berührte ihre Pussy.
»Schau mal, diese April Flores sieht doch genauso aus wie du«, sagte Olga. »Ähnliche Figur, helle Haut, und rot gefärbte Haare hat sie auch. Da steht, dass ihre Pussy sogar als Sexspielzeug aus Latex am Markt ist.«
Ich sah mich um. Seinem Grinsen nach zu schließen, hatte der Blonde mit dem Scotch-Drink unser Gespräch offenbar mitgehört.
»Können wir über so etwas vielleicht in Zimmerlautstärke reden?«, fragte ich Olga.
Der sportliche Blonde prostete uns zu.
Olga scannte ihn von den Spitzen seiner kunstvoll verwuschelten Haare bis zu den grauen Tennisschuhen. »Was hältst du von ihm?«, fragte sie. »Der sieht doch ein bisschen aus wie Jaime Lannister aus ›Game of Thrones‹.«
»Auf mich wirkt er wie ein etwas heruntergekommener Fitnesstrainer.«
Olga verdrehte wieder die Augen. »Mein Gott Romy, du sollst ihn ja nicht heiraten. Bloß ein paar XP sammeln.«
»Ich erlebe gerade das Drama meines Lebens«, sagte ich. »Das sind für eine Weile genug XP.«
»Christian war nur ein Trugbild«, sagte Olga. »Es lohnt sich nicht, einer Illusion nachzutrauern. Wie viel Zeit willst du noch verlieren?«
»Weißt du, wie viel Lust ich gerade habe, einen Mann kennenzulernen?«, fragte ich. »Ungefähr so viel, wie ein eingeschworener Apple-Fan Lust hat, auf Windows umzusteigen.«
»Weil du ja so viel zu verlieren hast.«
Ich schenkte Olga einen trotzigen Blick, zog mich aber trotzdem in den kleinen Waschraum der Damentoilette zurück und brachte mein Gesicht in Ordnung, so gut es irgendwie ging.
Als ich zurückkam, hielt mir Cem eine weitere Erdbeer-Colada hin und deutete mit dem Daumen auf den Blonden. »Mit freundlichen Grüßen von deinem neuen Verehrer.«
»Ich liebe es, wenn ich recht habe«, sagte Olga. »So, und jetzt flirtest du mal ein bisschen mit ihm.«
»So wie ich aussehe? Es ist euch schon aufgefallen, dass ich mein Gesicht nur sehr provisorisch restauriert habe, ja?«, fragte ich.
»Glück für dich, die meisten Männer achten nicht auf solche Kleinigkeiten«, sagte Cem. »Uns geht es um das große Ganze.«
Ein paar Augenblicke später hatten Olga und Cem sich diskret in Luft aufgelöst und der Blonde hatte sich auf dem Hocker neben mir niedergelassen. Er lächelte mir zu und fischte eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Poloshirts, auf dessen linker Brust es zwei Krokodile miteinander trieben. Toll, der Humor meines potenziellen Verehrers war ungefähr so tiefgründig wie eine Acht-Bit-Grafik.
»Manfred Neuber, Filialleiter-Stellvertreter vom Hypersport-Markt im Shopping Center Nord«, stellte er sich vor.
»Romy Morgenstern.« Ich wollte ihm erzählen, dass ich 3D-Artist war, an Social Games, Smartphonespielen, Serious Games, und sogar einem free to play MMO arbeitete. Im Moment hatte ich jedoch wenig Lust auf die unvermeidliche Diskussion über Frauen und die Computerspielbranche. »Ich kenne den Barkeeper«, sagte ich. »Außerdem muss ich bald nach Hause. Arbeiten. Und packen.«
»Wir haben uns gerade erst kennengelernt und schon willst du los?«
»Morgen um sieben muss ich im Flieger nach London sitzen.«
In weniger als 24 Stunden würde ich der Kreativdirektorin meines Lieblingsspiels gegenübersitzen. Ich musste den guten Eindruck, den ich bei den Vorrundengesprächen über Skype aufgebaut hatte, bestätigen, auch wenn ich mich gerade fühlte, als hätte mich eine Horde Orks als Fußmatte benutzt.
»Ist England im Jänner nicht etwas kalt für Urlaub?«, sagte Manfred.
»Ich muss beruflich hin.«
»Aha«, sagte er.
Er fragte nicht nach, dafür rutschte er näher, bis sein Schenkel mein Knie berührte. Mit meiner vom Weinen noch verstopften Nase roch ich sein Rasierwasser, das frisch, aber für meinen Geschmack etwas zu seifig roch. Ich zog mein Knie weg und nippte an meinem Cocktail, während er mir seine Karriere als Sportartikelverkäufer und seine Erlebnisse in der Kraftkammer schilderte.
Ich gab mir große Mühe, zuzuhören, wenn auch nur, um die Gedanken an Christian und Sonja aus meinem Hirn zu verscheuchen. Als mir Manfred gerade erzählte, wie viel Umsatz die Sportartikelmärkte ans Internet verloren, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
»So schlimm ist das auch wieder nicht«, sagte Manfred und hob erschrocken seine Augenbrauen. »Die guten Märkte halten mit neuen Konzepten tapfer dagegen.«
Ich schüttelte den Kopf und sah mich nach einer Serviette um. »Kein guter Tag heute. Entschuldige.«
Cem und Olga tauchten wieder auf, und Cem nahm mich in den Arm. Manfred schob mir seine Karte hin, die ich auf dem Tresen liegengelassen hatte. »Ruf mich doch an, wenn du aus England zurück bist, ja?«, sagte er, und verließ die Bar.