Read the book: «China – ein Lehrstück», page 7

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Häufig verwendete Abkürzungen:


AS Deng, Xiaoping (1985): Ausgewählte Schriften (1975-1982), 1. Aufl., Beijing.
BR Liu, Suinian/Wu, Qungan (Hrsg.) (1984): Chinas sozialistische Wirtschaft.Ein Abriss der Geschichte 1949 bis 1984, Beijing.
CA China aktuell. Journal of Current Chinese Affairs, Hamburg.
CL Staiger, Brunhild/Friedrich, Stefan/Schütte, Hans-Wilm (Hrsg.) (2003): Das Große China-Lexikon, Darmstadt 2003.
GS Gegenstandpunkt. Politische Vierteljahreszeitschrift.

Der in der ursprünglichen Print-Version auf CD mitglieferte Anhang wird nun auf der Website renatedillmann.de zur Verfügung gestellt.

Teil 1
Der Sozialismus in der Volksrepublik China

China ist ein bemerkenswerter Sonderfall. Ausgerechnet eine kommunistisch regierte Bauernnation des Ostens macht praktisch wahr, was der Westen seinen in die Freiheit entlassenen Kolonien als Chance einer Teilnahme an der Staatenkonkurrenz des kapitalistischen Weltmarkts verkaufen wollte: China schafft eine wahrhaft nachholende »Entwicklung«, schließt zu den etablierten Nationen auf, wird kapitalistische Weltmacht. Anhänger einer früher antikapitalistisch inspirierten Drittwelt-Bewegung können sich heute fragen, ob es das war, wovon sie immer geträumt haben…

Dieses Buch geht der Frage nach, wie die 30 Jahre Aufbau des Sozialismus und die 30 Jahre Aufbau des Kapitalismus eigentlich zusammenpassen, die in China unter derselben KP-Führung auf die Tagesordnung gesetzt und durchgezogen wurden. Wo ist der rote oder weniger rote Faden?

Die zentrale These des Buches: Schon in Theorie und Praxis der KP unter Mao ist die Unterordnung aller sozialistischen Ambitionen unter das Ziel der Befreiung, Einigung und schließlich des Aufbaus einer machtvollen chinesischen Nation grundgelegt, das dann unter Deng und den Nachfolgern mit einer Neudefinition der Staatsräson weiter verfolgt, mit »kapitalistischen Methoden« vorangetrieben und zu erstaunlichen Erfolgen geführt wird.

Zum Einstieg ein paar Bemerkungen über die Geschichte der Öffnung Chinas durch die aufstrebenden imperialistischen Staaten, also die Vorgeschichte der sozialistischen Volksrepublik. Sie bietet ein bemerkenswertes Lehrstück darüber, was Nationen mit kapitalistischer Ökonomie auf dem Erdball wollen und wie sie es durchsetzen. Und obwohl es 150 Jahre zurückliegt, mutet es erstaunlich aktuell an.

Kapitel 1
Das Reich der Mitte wird vom Imperialismus »erschlossen«

Um 1800 ist China der größte Flächenstaat der Welt und verfügt mit rund 300 Millionen Menschen auch über das mit Abstand größte Staatsvolk. Ökonomisch ist das »Reich der Mitte«, wie es sich selbst bezeichnet, vor allem ein Agrarland. Die Masse seiner Bewohner sind Bauern, die von Landwirtschaft und häuslichem Handwerk leben. Sie pflanzen hauptsächlich Getreide, Reis und Baumwolle, fertigen Korbwaren, weben Baumwollstoffe. Der Boden, den sie bearbeiten, ist meist gepachtet; für die Grundbesitzer müssen sie den Pachtzins erarbeiten, dem Staat Steuern zahlen; Verschuldung (mit hohen Zinszahlungen) ist üblich, existenzielle Not nicht nur im Fall von Missernten und Überschwemmungen angesagt. Das Elend der ländlichen Bevölkerung macht sich regelmäßig in Aufständen Luft; die Figur des »Rebellen« ist in Erzählungen und Märchen des Volks präsent und beliebt.

Neben der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft existiert eine lebhafte Handelstätigkeit. Gehandelt werden Salz und Tee, Reis aus den südlichen, Baumwolle aus den angrenzenden nördlichen Provinzen sowie viele regionale Spezial- und Handwerksprodukte; Porzellan, Baumwollstoffe und Tee werden teilweise in großen Manufakturen hergestellt. »Allein in Nanjing standen mehr als 30.000 Webstühle.« (Schmidt-Glintzer 2007: 125) Die Waren werden über große Wasserstraßen oder per Küstenschifffahrt transportiert. Ein englischer Beobachter notiert, dass der Umschlag in Shanghai um 1840 größer ist als der des Londoner Hafens, der damals als Zentrum des Welthandels gilt.

Politökonomisch ist das China des beginnenden 19. Jahrhunderts damit eine Gesellschaft, in der Produkte über den unmittelbaren Bedarf hinaus verbreitet als Waren hergestellt werden. Das System der Naturalsteuern ist bereits seit dem 13. Jahrhundert durch Umstellung auf Geldsteuern abgelöst, Geldverkehr auch auf dem Lande allgemein üblich – alle Dörfer ordnen sich Marktflecken zu, in denen die staatliche Verwaltung ihre Steuern erhebt. Kaufleute bereichern sich durch landesweit organisierten Verkauf ihrer Waren, es gibt Ansätze kapitalistischer Warenproduktion in Manufakturen und – neben der bäuerlichen Schuldenwirtschaft – erste Formen eines auf Handel und Produktion bezogenen Kredits (Banken ersetzen den für Verlust und Raub anfälligen Transport von Silber durch Schecks). Im Unterschied zu Westeuropa, wo aus einer ähnlichen Ausgangslage die kapitalistische Produktionsweise entsteht, bleiben diese Phänomene in China allerdings Randerscheinungen. Trotz des Vorhandenseins »eines technisch reifen Handwerks« und »industriekapitalistischer Betriebe von z.T. beträchtlichem Umfange« findet der Übergang von einer auf Geld basierenden Warenwirtschaft zu einem kapitalistischen Akkumulationsprozess nicht statt – die industriekapitalistischen Unternehmen bleiben »Oasen in einem Meere, dessen Grundströmung nach einer durchaus anderen Richtung drängte« (Wittfogel 1931: 607). Anders gesagt: Im Unterschied zu Europa schaffen es die chinesischen Besitzer von bereits kapitalistisch produzierten Geldvermögen nicht, ihre Art der Reichtumsproduktion zu verallgemeinern und zum letztlich herrschenden Produktionsverhältnis zu machen. Gründe dafür liegen in Besonderheiten der »ostasiatischen Produktionsweise« (Marx 1857/58: 377) und des chinesischen Staatswesens.

 Geografische und klimatische Besonderheiten machen in Asien fast die gesamte Agrikultur abhängig vom Wasserbau – und zwar in doppelter Hinsicht: Flüsse müssen eingedämmt werden, da sich in bestimmten Jahreszeiten (Gletscherschmelze und Monsunregen treffen zusammen) verheerende Hochwasser über die fruchtbaren Landesteile ergießen; andererseits ist Regenfeldbau nur sehr beschränkt möglich. Was als Kulturfläche genutzt werden soll, muss künstlich bewässert werden. Beides erfordert die Zusammenfassung materieller Mittel und Arbeitskräfte und bildet seinerseits die Basis zur Ausbildung von Staatlichkeit. Seit etwa 200 v.Chr. existiert in China ein solches herrschaftliches Kommando über ein ausgedehntes Territorium.1 Das frühneuzeitliche Europa bewundert als chinesische »Hochkultur«, was darüber an Größe und staatlicher Potenz zustande kommt ebenso wie an wissenschaftlichen und technischen Leistungen. Auch heute beginnen viele Abhandlungen, die sich mit China befassen, gerne mit Reminiszenzen an diese »große« Vergangenheit des Landes. Eben dieses chinesische Staatswesen wirkt andererseits als Schranke.

 Die chinesischen Herrscher entwickeln kein besonderes Interesse an einer Förderung der ökonomischen Unterteilung ihrer Gesellschaft, die mit Handel und Gewerbe zu tun hat. Beides wird sogar mit hohen Steuern belegt.2 Während die europäischen Regenten in den ökonomischen Potenzen der Handels- und Geldkapitalisten ein interessantes Mittel für sich und ihre politischen Expansionsabsichten entdecken und sich im Merkantilsystem zu dem Standpunkt vorarbeiten, dass die systematische Förderung abstrakter Reichtumsproduktion und die Bereicherung durch Außenhandel für ihre Staatskassen vorteilhaft ist, sehen die chinesischen Kaiser ihre Lage anders. Sie verfügen bereits über ein ausgedehntes Territorium, das ihnen genügend Ressourcen zur Machtentfaltung nach innen abwirft, dazu eine Hauptstadt und einen Hof, die über Jahrhunderte hinweg weltweit ohne Pendant sind. Ihr ökonomisches Mittel besitzen sie in der Besteuerung einer (wachsenden) bäuerlichen Bevölkerung, die sie mit ihrer Beamtenschaft organisieren. Nach außen versuchen sie, ihre Herrschaft mit dem Bau gigantischer Schutzmauern gegen die aus dem Norden anstürmenden Reitervölker zu sichern; die meisten Anrainer (Vietnam, Korea, Japan etc.) erkennen die Oberherrschaft des riesigen Reichs an und leisten Tributzahlungen sowie ihren Kotau vor dem chinesischen »Sohn des Himmels«.Die Sicherung dieses Reiches soll durch weitere Expansionen – einen Standpunkt, den die chinesischen Herrscher selbstverständlich auch kennen und in der Vergangenheit erfolgreich praktiziert haben – nicht gefährdet werden. So befiehlt der zweite Kaiser der Ming-Dynastie, das durchaus erfolgreich verlaufende Projekt einer chinesischen Exploration der Welt abzubrechen und mit der Demontage der gesamten, unter Aufbringung riesiger gesellschaftlicher Mittel gebauten Flotte wieder zu beenden.3

 Als entscheidendes Mittel dieser Herrschaft funktionieren die kaiserlichen Beamten. Sie erheben Steuern und Zölle und sorgen für die Umsetzung der herrschaftlichen Anweisungen (z.B. Deich- und Kanalbau, Anlage von Getreidevorräten usw.). An den kaiserlichen Hof müssen sie festgesetzte Summen abführen; der Rest steht ihnen zu ihrer eigenen Verfügung. Diese mit dem Amt installierte Lizenz zur persönlichen Bereicherung sichert dem »Sohn des Himmels« die Treue seiner Mandarine; für die moralisch nicht ganz integren Figuren unter ihnen wirkt sie als Antrieb, die ihnen anvertrauten Provinzen auszuplündern und Widerstand entsprechend hart niederzuschlagen. Die Ämter werden durch ein über Jahrhunderte hin ausgeklügeltes Prüfungssystem vergeben, sind also nicht erblich. Diese Regelung und die Verschickung der ausgewählten Beamten in heimatferne Provinzen sollen einerseits Nepotismus, vor allem aber dem Aufbau konkurrierender Machtzentren vorbeugen. So sorgt der Umstand, dass in diesem System Reichtumserwerb an politische Macht gekoppelt ist und letztlich von der Lizenz des kaiserlichen Hofs abhängt, dafür, dass keine gesellschaftlich relevante freie, weil über eigene ökonomische Mittel verfügende Klasse entsteht.Das, was sie aus ihren Ämtern an privatem Reichtum zusammenschachern, verwenden die Beamten in den allermeisten Fällen, um in Grundbesitz zu investieren, der ihren Familien zuverlässig als Reichtumsquelle dienen soll – so bleiben Hof, Beamtenschaft und grundbesitzende Klasse personal- wie interessenidentisch. (Vgl. de Beauvoir 1960: 264)

 Zur damit erzeugten politischen Stabilität (negativ konnotiert: Stagnation) trägt im kulturell-religiösen Überbau der chinesischen Gesellschaft auch bei, dass die chinesischen Herrscher die Vergabe der Ämter so organisieren, dass damit gleichzeitig eine landesweit einheitliche, dem Inhalt nach konservative Kultur und Moral durchgesetzt wird. Wichtigste Prinzipien der konfuzianischen Ethik sind die Gebote, das Althergebrachte zu ehren und der (väterlichen) Autorität in Familie und Staat bedingungslos zu gehorchen. Sämtliche Anwärter auf kaiserliche Beamtenstellen müssen in einer Reihe von Prüfungen, die örtlich (von den Dörfern über die Provinzhauptstädte bis zu den letzten Prüfungen in Beijing) und nach Schwierigkeitsgraden gestaffelt sind, Kenntnisse der Schriftzeichen, der chinesischen Literatur und der konfuzianischen Philosophie in ihrer jeweils gültigen, d.h. den aktuellen Herrschaftsbedürfnissen angepassten Deutung, nachweisen.4In ihrem Alltag ergänzen fast alle Chinesen die konfuzianische Morallehre durch althergebrachte abergläubische Vorstellungen und buddhistische Ideen, die seit dem 1. Jahrhundert nach China einsickern, ohne jemals den Rang eines offiziellen Staatskults zu erlangen – ebenso wenig wie das Christentum, das trotz gewaltiger Missionsbemühungen der christlichen Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert marginal bleibt.

Die große chinesische Mauer

bezeugt die gewaltige zentralstaatliche Macht, die Chinas Kaiser mobilisieren konnten. Die vermutlich weltgrößte Defensivanlage verdankt sich dem Umstand, dass an der nördlichen Grenze Chinas zwei komplett unterschiedliche Produktionsverhältnisse aufeinander treffen. Das auf Ackerbau beruhende chinesische Reich suchte sich und seine Reichtumsgrundlagen gegen Völker abzuschotten, die als kriegerische Reiter vom Überfallen und Ausplündern leben, deren Eroberung schwierig und deren zukünftige Benutzung wenig aussichtsreich erschien. Die dafür errichtete Mauer ist ein riesiger Schutzwall, der über mehrere Jahrhunderte durchgehend ausgebaut wurde. Einige Male wurde die Mauer überwunden, so z.B. von Dschingis Khan Anfang des 13. Jahrhunderts; von den Mandschus im 17. Jahrhundert. Die Gesamtlänge der Mauer »betrug einst mehr als 50.000 Kilometer« und erstreckte sich teilweise in mehreren Ringen über verschiedene Provinzen, durch Wüsten und über Bergketten, wo sie vorzugsweise über die Gipfel geführt wurde. Zu ihrem Bau werden neben Zwangsarbeitern und Strafgefangenen immer wieder die Streitkräfte selbst herangezogen. Während der Qin-Dynastie waren bei einer Bevölkerungszahl von 20 Millionen 500.000 Menschen mit dem Bau der Mauer befasst, während der Ming-Dynastie fast 1 Million Soldaten, die sich gleichzeitig durch Ackerbau und Viehzucht selbst versorgen mussten. »Mit der Verschärfung der Kriege und der Verbesserung der Waffen und der Bautechnik wurden die Mauern an vielen Stellen mit Kampftürmen, Wachtürmen, Zinnenwänden, Festungsstädten, Sperrmauern und Schießscharten versehen. Mit der Zeit entwickelte sich die Große Mauer zu einem riesigen, gut ausgerüsteten militärischen Verteidigungssystem.«

Bau und Befestigung der großen Mauer dauerten mehr als 2000 Jahre, bis sie 1644 unter Kaiser Kangxi eingestellt wurden. »Mit der Entwicklung der Schusswaffen hatte die Mauer ihre Funktion der Verteidigungsanlage weitgehend verloren.«

Zahlen und Zitate: Wenguan 1996: 7ff.

Auf dieser Basis ist das Reich der Mitte politisch bemerkenswert stabil – vom gelegentlichen Wechsel der Herrscherhäuser abgesehen. An denen fällt vor allem auf, dass die jeweiligen Eroberer von außen – Dschingis Khan (ab 1155) oder die Mandschu-Dynastie der Qing (ab 1644) – sich bei der Entfaltung und inneren Absicherung ihrer Herrschaft notgedrungen in das bestehende Staatswesen einfügen.5 Ihre Herrschaft über China organisieren sie so, dass sie selbst dessen Herrschaftsprinzipien übernehmen, also chinesisch werden.

»Als der britische Botschafter Macartney und sein Gefolge 1793 China bereisten, bot das Land insgesamt ein eindrucksvolles Bild von Prosperität, Ordnung, Dynamik und Selbstvertrauen.« (Stichwort Qing-Dynastie, CL: 600) Vertreter der modernisierten westlichen Nationen des 18./19. Jahrhunderts nehmen dieses Land als eine gegen jeden Änderungswillen geradezu hermetisch abgeschottete Gesellschaft wahr. Das zeugt vor allem davon, dass sie China anders haben wollen. Was sie im Reich der Mitte an »Neuerungen« anstreben und durchsetzen, zerstört dieses Reich mit seinen bestaunten Errungenschaften.

Die in Europa gerade in Schwung gekommene kapitalistische Produktionsweise gehorcht dem Prinzip, aus Geld mehr Geld zu machen – und dieses Prinzip verlangt überall Geltung. Nur auf dem heimischen Markt, etwa in England, zu produzieren, zu verkaufen, Gewinn zu realisieren und die ganze Operation – vergrößert – von neuem zu beginnen, das stellt vom Standpunkt der Kaufleute und industriellen Unternehmer eine Beschränkung ihrer Geschäftsmöglichkeiten dar, die nicht sein soll und darf. Und genau so radikal wie borniert sehen es die Staatsgewalten, die die Geschäftemacherei zur materialistischen Grundlage ihres Florierens erkoren haben. Die gesamte Welt wird neu betrachtet: als potenzielle Geschäftssphäre, in der man Waren einkaufen und an die man Waren verkaufen kann. Wenn ein Land nicht mitspielt oder gar sich diesem Programm verweigert – aus welchen Gründen auch immer – gilt es als rückständig, unmodern. Und so wird die Welt nicht nur betrachtet. Eine Nation wie China soll »sich öffnen« und Handel zulassen; von diesem Interesse beseelt, segeln die Kaufleute aus Europa mit dem Segen und dem Rückhalt ihrer staatlichen Schutzherrn dorthin.

Auch wenn der chinesische Hof wenig Bedarf danach hat und den Wünschen der westlichen »Barbaren« mit Desinteresse und Arroganz begegnet – »Mein Reich hat alles im Überfluss und braucht nichts einzuführen«, schreibt Kaiser Qianlong an Georg III. –, erlaubt er schließlich einen begrenzten Handel. Während chinesischer Tee zum Absatzschlager in England wird, verkaufen sich englische Waren nicht sonderlich gut in China. Die englischen Textilprodukte sind, aller Produktivität der modernen britischen Manufakturen zum Trotz, zu teuer – gemessen an der Billigkeit, mit der die Masse der chinesischen Bauern ihre Baumwollstoffe herstellt. So erwirtschaftet die Ostindische Kompanie zwar Profite, der englische Staat aber konstatiert eine negative Handelsbilanz und fortwährenden Abfluss englischen Silbers nach China.

Um das zu ändern, verkaufen die Briten Opium nach China. Opiumkonsum ist in China offiziell verboten, der Handel damit ebenso. Zunächst wird es auf den Schiffen der Ostindischen Kompanie geschmuggelt. Als sich zeigt, dass es gut absetzbar ist, steigt die Kompanie in die Produktion ein: Sie lässt den Mohn in ihren indischen Kolonialbesitzungen anbauen und von privaten Händlern in die chinesischen Häfen bringen. Der Erfolg für die englische Handelsbilanz ist durchschlagend; die indischen Kolonien beziehen in der Folge 1/7 ihrer Einkünfte aus dem Opiumhandel. Ebenso durchschlagend sind allerdings die Folgen für China, weil das »Rauschgift ... gleichermaßen verderblich auf Moral, Staatssäckel und Gesundheit im blumigen Reich der Mitte wirkt« (Karl Marx in der New York Daily Tribune; vgl. Marx 1955). Allein zwischen 1829 und 1840 fließen 45 Millionen Silberdollar aus China ab, 6 Millionen Chinesen sind opiumsüchtig, die mit dem Opiumschmuggel verbundene Korruption wirkt demoralisierend auf die chinesischen Beamten, die ihre fürsorgliche Seite zunehmend fahren lassen und damit ihre (und des Kaisers) Autorität beim Volk verlieren.

Der chinesische Hof beschließt 1839, praktisch gegen den Opium-Handel vorzugehen; ein Beamter6 setzt britische Händler gefangen und beschlagnahmt Schiffsladungen. Das nimmt England zum Anlass, einen Krieg gegen China zu führen, der ihm endlich umfassende neue Freiheiten verschafft. Mit dem »Opiumkrieg« und dem anschließenden Vertrag von Nanjing (1842) beginnt eine ganze Reihe von militärischen Auseinandersetzungen und Friedensschlüssen. Neben England und Frankreich, Amerika, Schweden, Norwegen, Belgien bringen sich auch die neu in imperialistische Weltpolitik einsteigenden Mächte Japan und Russland, schließlich auch die ewig verspätete Nation Deutschland ins Spiel, teilweise unmittelbar kriegerisch, teilweise mehr im Windschatten der anderen segelnd.

Die damit beginnende Öffnung Chinas ist ein regelrechtes Lehrstück über die imperialistische Erschließung der Welt und den Zusammenhang von privatem Geschäft und staatlicher Gewalt. Aufstrebende und buchstäblich weitblickende Geschäftsleute beanspruchen auf dem gesamten Globus Freiheit für sich und ihre Profitinteressen. Dieser Wunsch stößt in China auf Ablehnung, und zwar in Gestalt einer immerhin so durchorganisierten staatlichen Gewalt, dass diese nicht (wie in vielen anderen Fällen) einfach zu ignorieren oder zu übergehen ist. Das heißt keineswegs, dass man das Land in Ruhe lässt. Die wenigen zugebilligten Geschäfte werden mitgenommen. Sehr schnell registriert man an ihnen, dass sie »zu beschränkt sind« – sowohl vom Standpunkt der Kaufleute wie dem der nationalen Handelsbilanz. Also wird der Anspruch auf Geschäft und Gewinn, den man sich gegenüber diesem Land wie ein Recht herausnimmt, mit aller Gemeinheit und Gewalt durchgesetzt. Das zersetzt das Land nach innen und bringt – von unten wie von oben – praktischen Aufruhr gegen die »barbarischen Ausländer« hervor. Natürlich bedeutet das nicht, dass diese nun abziehen. Ganz im Gegenteil ruft es deren Regierungen erst recht auf den Plan. Diese wollen das Geschäftemachen ihrer rührigen Bürger gegen alle Widerstände ins Recht setzen; dafür zetteln sie regelrechte Kriege an. Dafür bemühen sie sich (auch das schon sehr modern!) um einwandfreie Legitimationstitel – schließlich sollen auch die anderen Staaten ihr Vorgehen anerkennen und die Öffentlichkeit zuhause alles moralisch in Ordnung finden.

»Dass ein Riesenreich, das nahezu ein Drittel der Menschheit umfasst, das durch künstliche Abkapselung vom allgemeinen Verkehr isoliert, langsam durch die Jahrhunderte dahinvegetiert und es deshalb zuwege bringt, sich mit Illusionen über seine himmlische Vollkommenheit zu täuschen – dass solch ein Reich schließlich zugrunde gehen muss in einem tödlichen Zweikampf, in dem der Vertreter der alten Welt aus ethischen Beweggründen handelt, während der Vertreter der überlegenen modernen Gesellschaft für das Privileg kämpft, auf den billigsten Märkten zu kaufen und auf den teuersten zu verkaufen – das ist wahrlich ein tragischer Abgesang, wie ihn seltsamer kein Dichter in seinen kühnsten Visionen ersinnen könnte.«

Karl Marx für die New York Daily Tribune, 20. September 1858, in: Marx 1955: 70 (weitere Berichte von Marx zum China-Handel und Englands Militäraktionen siehe renatedillmann.de)

Nach jedem Kriegserfolg gegen die militärisch unterlegene chinesische Regierung werden passende Verträge ausgehandelt. Insoweit wird der »Sohn des Himmels« also noch anerkannt; vermutlich weniger, weil seine Gewalt über Land und Leute für die Umsetzung der Verträge gebraucht wird, als deshalb, weil die imperialistischen Mächte sich in ihrer Konkurrenz um China wechselseitig ausbremsen. Mit Verträgen, die ziemlich offenherzig »ungleiche« genannt werden, wird China peu à peu gezwungen,

 Land abzutreten (Hongkong, Kowloon, die New Territories),

 immer mehr Häfen und Handelsplätze zu öffnen,

 immer mehr Produkte in Zolltarife aufzunehmen und damit zum Verkauf zuzulassen (u.a. Opium),

 für alle Ausländer das Prinzip der Exterritorialität anzuerkennen (d.h. sie sind wie sonst nur diplomatische Vertreter eines Landes »immun« und unterstehen ihrer eigenen Gerichtsbarkeit),

 christliche Missionare frei im Land wirken und Religionsfreiheit zuzulassen,

 ein »Amt für auswärtige Angelegenheiten« einzurichten, d.h. die Auseinandersetzung mit den Anliegen der Ausländer im Land zum Bestandteil ihrer Regierungstätigkeit zu machen,

 die Gründung von Industriebetrieben und den Bau von Eisenbahnlinien durch Ausländer zuzulassen,

 über die »Meistbegünstigungsklausel« das jeweils von einem Staat durchgesetzte Recht gleich allen anderen zuzubilligen,

 immense »Entschädigungen« für die verlorenen Kriege zu zahlen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die chinesische Gesellschaft bereits enorm verändert. Opiumhandel und die zerstörerische Konkurrenz ausländischer Produkte haben die bisherige Ökonomie angegriffen. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg gibt es erste industrielle Produktionsstätten, die von Ausländern betrieben werden. Während in den meisten kolonialisierten Ländern lediglich Rohstoffe gewonnen und zur Weiterverarbeitung in die entwickelten Industriestaaten exportiert werden,7 stellt das geöffnete China in dieser Beziehung einen Sonderfall dar. Auf Basis der im Land verbreiteten Handwerkskunst und bereits vorhandener Manufakturen und – dank der einsetzenden Landflucht – extrem billiger Löhne erscheint der Aufbau einiger Produktionsstätten, vor allem in der Textilproduktion (Baumwolle und Seide), lohnend. In Shanghai und an der Ostküste, günstig gelegen für den Transport nach Europa und Amerika, werden deshalb Fabriken betrieben; Japan ist im Nordosten aktiv (und übernimmt nach 1919 die deutschen Konzessionen in Qingdao).

Die Zustände in diesen Fabriken spotten jeder Beschreibung – die »Arbeitsbedingungen in China« sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts »vermutlich die schlimmsten in der ganzen Welt, Japan und Indien nicht ausgenommen« (Thomas Chu, Vorstand der industriellen Abteilung des Christlichen Vereins Junger Männer (YMCA), der 1924 eine Untersuchung durchführt, zit. in: de Beauvoir 1960: 174ff.).

Rewi Alley, ein Neuseeländer, der ab 1932 für den Stadtrat von Shanghai als Fabrikinspektor arbeitet und später der KPCh beitritt, schreibt: »Einmal rief man mich in eine Fabrik, wo der Direktor gerade einen Lehrling totgeprügelt hatte. Zur Rede gestellt, entgegnete der Gentleman: ›Der Bursche hat ohnehin nichts getaugt.‹ Die Polizei verhaftete den Direktor zwar, doch ein paar Monate später sah ich ihn wieder lächelnd hinter seinem Schreibtisch sitzen. Es gehörte wahrhaftig nicht viel dazu, einen Kuli ins Jenseits zu befördern. (...) Übelriechende Aborte und nirgends eine Waschgelegenheit, verdorbene Nahrung, blutendes Zahnfleisch und entzündete Augen, Fußtritte, Prügel und Unglücksfälle am laufenden Band – das war der Lohn dieser Arbeitssklaven, die niemand als menschliche Wesen betrachtete... Unvergesslich sind mir auch die Werkstätten einer Farbenfabrik, wo die jungen Arbeiter in dem ätzenden Staub der Chromsalze schlafen mussten, der ihnen Hände und Füße bis auf die Knochen zerfraß.«

zit. nach de Beauvoir 1960: 176f.

Aufrüstungs- und Kriegskosten haben die Finanzen des chinesischen Staats zerrüttet. China ist bei europäischen Bankenkonsortien hoch verschuldet. Schon die alten Steuern waren für die Bauern kaum tragbar; nun kommen neue hinzu, steigern die Armut und führen vermehrt zu Aufständen.8 Korruptheit und der demoralisierte Zustand der Beamtenschaft untergraben die staatliche Autorität; chinesische Unternehmen und Schmuggler machen sich die »exterritorialen« Privilegien der Ausländer zunutze und unterhöhlen das geltende Recht- und Steuerwesen; Kriminalität und Bandenwesen machen sich breit.

Als Reaktion auf den Zustand des Landes rührt sich zunehmend und auf verschiedenen Ebenen nationaler Widerstand. Das »Nationale« an diesem Aufbegehren ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: Einerseits richtet sich Feindseligkeit und Hass auf die ausländischen Mächte, deren Wirken als ruinös für China und deren Kriegshandlungen wie Friedensschlüsse als demütigend begriffen werden. In diesem nationalen Gefühl gegen die unerwünschten Ausländer sind sich – über alle existierenden sozialen Gegensätze hinweg – Chinesen aus allen Klassen und Schichten einig. Offensichtlich existiert im kaiserlichen China die Vorstellung einer chinesischen Identität, einer Zusammengehörigkeit von Volk und Herrschaft, bzw. bildet sich ein solches Nationalgefühl im modernen Sinn als Reaktion auf das Eindringen der Ausländer heraus. Andererseits zielt der Protest auch auf den regierenden Mandschu-Kaiser. Modernen, patriotisch denkenden Chinesen – in den meisten Fällen Söhne reicher Familien, die im westlichen Ausland oder in Japan studiert haben – gilt die Mandschu-Dynastie, gegen die es von Anfang an vor allem in der herrschenden chinesischen Klasse Vorbehalte gab, immer mehr als Fremdherrschaft. Ihr wird vorgeworfen, dass sie, weil fremd, die Ausländer und ihre expandierenden Ansprüche nicht konsequent bekämpft, sondern ihrer eigenen Machterhaltung zuliebe mit ihnen gemeinsame Sache macht. Angesichts der Schwäche der chinesischen Regierung finden sich genügend Anhaltspunkte für den Vorwurf nationalen Ausverkaufs, sowohl in den »ungleichen Verträgen«, den erzwungenen ökonomischen Konzessionen (etwa beim Eisenbahnbau)9 wie bei politischen Vereinbarungen.10 So wird letztlich die im Vergleich mit den modernen kapitalistischen Staaten wahrgenommene ökonomische, politische und kulturelle Rückständigkeit Chinas als Werk einer unchinesischen Führung gedeutet.

Die nationale Ausrichtung der Widerstandsbewegungen findet in verschiedenen Schichten mit unterschiedlichen Interessenlagen jeweils besondere Ausprägungen:

 Ein Teil des Volks lässt seine Wut über die zunehmend elenden Zustände unmittelbar an den verhassten Ausländern aus. In Hongkong werden Brote vergiftet, die für westliche Geschäftsleute bestimmt sind; christliche Missionare werden ermordet; in den Fabriken gibt es Fälle von Maschinenstürmerei. 1899/1900 organisieren die Boxer, eine Volksbewegung zur Selbstverteidigung, die nach dem chinesisch-japanischen Krieg großen Zulauf unter den Flüchtlingsmassen in Shandong findet, einen zunächst anti-christlichen, dann allgemein fremdenfeindlichen Aufstand. Aufstände und Rebellionen dieser Art werden im Normalfall von der chinesischen Regierung blutig niedergeschlagen; der Boxeraufstand, den der kaiserliche Hof ein Stück weit berechnend angestachelt hat, wird dagegen von einer gemeinsam aufgestellten Truppe aller imperialistischen Mächte unter deutscher Führung niedergekämpft.

 Teile der alten politischen Klasse Chinas, Beamte aus der unmittelbaren Umgebung des Kaisers, hohe Provinzbeamte, aber auch Intellektuelle (Literaten) protestieren gegen den Verlust an Macht und Prestige, den China durch die zu nachgiebige Behandlung der Ausländer erfährt. Sie versuchen, das alte System durch Reformen zu retten; so gibt es unter anderem eine sehr populäre »Selbststärkungsbewegung«, die pur chinesisch finanzierte Eisenbahnen, die sogenannten Volksbahnen, baut.

 Eine neu entstehende Schicht von patriotisch denkenden chinesischen Intellektuellen und Angehörigen freier Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte, Unternehmer) will China durchgreifend modernisieren – wobei wiederum sehr verschiedene Vorstellungen zum Zug kommen. Während die chinesischen Unternehmer sich vor allem gegen ökonomische Beschränkungen wenden, die sie in ihrer Konkurrenz mit den Ausländern erfahren, orientieren sich andere am politischen Vorbild der erfolgreichen kapitalistischen Mächte: So wie diese in jeder Hinsicht überlegenen Staaten soll das zukünftige China aussehen, ein freies und souveränes Land mit einem aufgeklärten und gebildeten Volk. Bewegungen aller Art – religiös-sozial, bildungs- oder reformorientiert, umstürzlerisch – werden in großer Zahl gegründet; so auch die »Gesellschaft zur Wiedererrichtung Chinas«, die 1894 von Sun Yatsen ins Leben gerufen wird, einem Arzt, der in Japan und den USA studiert hat. Sie wird 1912 mit anderen kleinen Parteien zur Guomindang Partei vereinigt. Angesichts der herrschenden Verhältnisse von Geschäft & Gewalt in ihrem Land sind die bürgerlich-nationalen Reformideen ein einziger Idealismus. Aufgrund ausbleibender Erfolge radikalisieren sich immer mehr ihrer Protagonisten: In der »verkommenen« und zu Reformen nicht bereiten Mandschu-Herrschaft machen sie zunehmend das Hindernis für ein neues, modernes China aus.

Nach zehn erfolglosen Versuchen wird die letzte Dynastie 1911 schließlich weggeputscht und eine chinesische Republik ausgerufen.11 Das beseitigt allerdings wenig von den Problemen, denen sich China gegenübersieht: Weder ziehen sich die westlichen Ausländer aus Respekt vor der neuen volkssouveränen Herrschaft zurück, noch ändert sich etwas an den materiellen Grundlagen von Volk und Staatsgewalt. Letztere muss sich ganz im Gegenteil gegen eine ganze Reihe von separatistischen Aufständen behaupten, die der Zerfall der kaiserlichen Macht auf den Plan gerufen hat, und sieht sich darüber hinaus mit den sogenannten »21 Forderungen« Japans konfrontiert, die aus China eine Art japanisches Protektorat machen wollen. Das staatliche Gewaltmonopol zerfällt zusehends; das Land wird de facto von einzelnen regionalen Militärdiktatoren (warlords) und ihren kriegerischen Auseinandersetzungen beherrscht.