Read the book: «Inselgötter»
Reinhard Pelte
Inselgötter
Der siebte Fall für Kommissar Jung
Impressum
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Inselroulette (2014), Mordsee (2013), Tiefflug (2012), Inselbeichte (2011), Kielwasser (2010), Inselkoller (2009)
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sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Ulf Kotzan – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4936-9
Inhalt
Widmung
Prolog
Maul halten
Schrei, so laut du kannst
Die Insel
Tomas Jung
Holtgreve
Mittagessen
Charlotte Bakkens
An die Arbeit
Erster Besuch
Zurück an die Schreibtische
Sylt, die Insel der Reichen und Schönen
Tomas Jung wird ärgerlich
Ein Abend voller Überraschungen
Auf der Freiheit
Hinterm Deich
Intermezzo
Zweiter Besuch
Eine schöne Theorie
Die Beförderung
Happy End der besonderen Art
Epilog
Lesen Sie weiter …
Widmung
Für Irmi
»I can get no satisfaction«
Rolling Stones
Prolog
Die meisten Menschen machen Pläne. Sie reden über ihre Wünsche. Und sie reden über ihren Willen, ihre Wünsche wahr zu machen. In der Regel klappt das nicht. Das Resultat ihrer Bemühungen entspricht selten dem, was sie sich davon versprochen haben. Leider oder zum Glück bestimmen andere Mächte unser Tun. Sie, nicht wir, entscheiden, was uns schmeckt, was wir sehen, was wir hören und was wir können. Ja, sie bestimmen sogar, wie und worüber wir reden, was und wie wir denken, heute so und morgen wieder ganz anders. Sie machen mit uns, was sie wollen. Je nach Lust und Laune. Sie spielen mit uns. Sie machen uns zu Narren oder Helden, stark oder schwach, beliebt oder unbeliebt. Ihre Stärke ist unwiderstehlich. Uns schlottern die Glieder, wenn wir ihrem Toben zusehen. Aber wie wir damit umgehen, ist ganz allein unsere Angelegenheit. Ob wir unseren Ängsten erliegen oder ihnen trotzen, ob wir sie annehmen oder verdrängen, ob wir intelligent oder dumm handeln, ist mühsam zu durchschauen und in der Regel verwirrend. Aber die Auseinandersetzung mit der Angst ist wirklich lehrreich.
Maul halten
»Von wo rufen Sie an?« Die Stimme am anderen Ende war leise und klang bedrohlich. Die Frage überraschte ihn nicht. Er wusste längst, wie der Hase lief.
»Von einem öffentlichen Münztelefon.«
»Wer sind Sie?«
Er nannte Namen und Adresse.
»Rufen Sie in einer halben Stunde noch einmal an. Vom gleichen Apparat.«
Es machte klick in der Leitung. Er legte auf und wandte sich um. In der Buchhandlung neben dem Bahnhofseingang kaufte er das Tageblatt. Den überregionalen Teil legte er beiseite. Die Nachrichten aus aller Welt interessierten ihn nicht. Er war überzeugt, es besser zu wissen. Besser als alle Korrespondenten und Nachrichtenagenturen zusammen. Sie gaben nur weiter, was ihre bezahlten Gewährsträger ihnen zuflüsterten. Woher die ihr Wissen hatten, interessierte überhaupt nicht. Aus gut unterrichteten Quellen, hieß es gewöhnlich. Einen Scheiß wussten sie.
Seine Aufmerksamkeit galt dem Regionalteil. Für ihn war es wichtiger zu wissen, mit wem der Wirtschaftsminister oder der Bürgermeister sprach, wohin sie reisten und wen sie trafen. Er versuchte, sich in seine Lektüre zu vertiefen. Zwischendurch sah er auf die Uhr. Die Zeit verging im Schneckentempo. Er war bei den Todesanzeigen angelangt. Er las die Nachrufe. Einige der Toten waren jünger als er. Er faltete die Zeitung zusammen und schlenderte an den Schaukästen vorbei durch den Tunnel, der zu den Bahnsteigen führte. Am Ende machte er kehrt und schlenderte zurück. Er sah auf die Uhr. Es war so weit. Er wählte.
»Ja«, meldete sich die Stimme von vorhin.
»Ich bin’s«, sagte er.
»Was können wir für Sie tun?«
Er schilderte sein Begehren.
»Wo finden wir ihn?«
»Er wird am Donnerstag im Zug von Hamburg nach Westerland sitzen, Ankunft in Westerland 14.04 Uhr.«
»Diese Woche?«
»Ja.«
»Kennen Sie den Mann?«
»Nein.«
»Was wissen Sie von ihm?«
»Er trifft in Westerland einen Mann. Der ist Polizist und heißt Tomas Jung.«
»Polizist? Was für ein Polizist?«
»Kripo. Kriminaloberrat.«
Am anderen Ende herrschte für einen Moment Schweigen.
»Heute Nachmittag werden Sie Besuch bekommen. Der Mann trägt eine schwarze Laptop-Tasche aus weichem Leder über der Schulter. Es wird teuer werden.«
»Wie teuer?«
»Verhalten Sie sich unauffällig. Machen Sie, was Sie immer machen. Plappern Sie nicht.«
»Was soll das? Ich …«
»Halten Sie den Mund.«
Die Leitung war tot. Er schmiss verärgert die Zeitung in den nächsten Papierkorb. Draußen stieg er in seinen Mercedes und fuhr die Bahnhofstraße entlang bis zur Kreuzung. Er bog rechts ab auf den Mühlendamm. Nach der nächsten Kurve gab er Gas und folgte Munketoft bis zur Osttangente. Von da ab war es nicht mehr weit.
Schrei, so laut du kannst
War es richtig, was sie tat? Ja, es war richtig. Absolut richtig. Nach ein paar Gläsern Rotwein waren auch ihre letzten Zweifel geschwunden. Er hatte sie hierherbestellt. Und sie war seinem Wunsch gefolgt. Sie hatte ihm ihre Zeit zur Verfügung gestellt, obwohl das nicht zu ihren Pflichten gehörte und obwohl es der letzte Arbeitstag vor ihrem Urlaub war.
Warum gerade dieser öde, düstere Ort? Dafür gab es überhaupt keinen nachvollziehbaren Grund. Das Gebäude sollte abgerissen werden. Es war längst überfällig. Der Fortgang des Projektes duldete keinen Aufschub. Je schneller, desto besser. Im Erschließungsvertrag war festgelegt worden, dass die Kosten für Sanierung und Infrastruktur zu Lasten der öffentlichen Hand gingen. Also sollte der rasche Abriss eigentlich in seinem ureigensten Interesse liegen. Wenn es um die Einhaltung von Verpflichtungen der Kommune ging, hatte er bislang immer ordentlich Druck gemacht. Verzögerungen kosteten Geld. Und das hatte er nicht. Nicht einen einzigen Cent. Die Kassen waren leer und mussten gefüllt werden. Andernfalls würde dem Laden schon in allernächster Zeit die Luft ausgehen.
*
Es war nicht schwer gewesen herauszufinden, wie kritisch die Lage war. Schon in ihrer Probezeit hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, nach Dienstschluss im Büro zu bleiben. Auf seine erstaunte Nachfrage hatte sie erwidert, dass sie es für ihre Pflicht hielt, vor Feierabend aufzuräumen und die liegen gebliebenen Papiere zu ordnen. So war sie nun einfach mal. Er hatte keine Ahnung, wer sie wirklich war. Wahrscheinlich war er viel zu besoffen gewesen. Aber sie wusste genau, wer er war. Sie würde ihn nie im Leben vergessen.
Fleiß kam bei den Chefs immer gut an. Ehrlich gesagt waren es zu viele Chefs gewesen, gab sie insgeheim zu. Aber dieses Mal hielt sie die Trümpfe in der Hand. Daran hatte sie keinen Zweifel, seit sie an einem Sonntag auf einem ihrer üblichen Kontrollgänge den Brief auf seinem Schreibtisch gefunden hatte. Er lag zur Unterschrift in der Mappe. Was hatte ihn bewogen, in diesem Fall auf die Bremse zu treten? Welches Geheimnis barg das alte Wachhaus aus düsteren Nazi-Zeiten?
*
Sie war mit Absicht zu früh. An die Schlüssel zu kommen, war kein Problem gewesen. Schließlich war sie als Kontrollmanagerin über jeden Verdacht erhaben. Selbst den Job zu ergattern, war ein Leichtes gewesen. Ihre Fähigkeiten, ihre ganze Natur, ihr Charakter waren danach. Sie war motiviert und einsatzbereit und hatte alle anderen Bewerber aus dem Feld geschlagen. Sie wusste genau, mit wem sie es zu tun hatte. Es hatte sie verwundert, dass sein Sohn so ganz anders war. Mit ihm verband sie von Anfang an eine geheimnisvolle Nähe, ein Band, das ihr sowohl angenehm als auch befremdlich war. Sie war auf Distanz geblieben. Dennoch hatte sie ihm einen Umschlag anvertraut, den er im Fall, dass ihr etwas zustoßen würde, öffnen und dann selbst entscheiden solle, was zu tun sei. Er hatte ihr intensiv in die Augen gesehen, aber kein Wort verloren.
Sie schloss die Tür zum Wachlokal auf. Es roch muffig. Das Fensterglas war zerbrochen, die Fensterhöhlen verbrettert. Putz blätterte von den Wänden. Nichts außer Staub und Schutt.
Die nächste Tür führte in einen größeren Raum. Ein großes Bullauge sorgte für Tageslicht. Vermutlich der Aufenthaltsraum für die Wachmannschaften. Die Mauern sind verdammt dick, dachte sie, als sie durch das Gitterfenster nach draußen blickte. Die Nazis waren für ihre Gründlichkeit bekannt. Und misstrauisch müssen sie auch gewesen sein, ging ihr beiläufig durch den Kopf.
Der nächste Raum war fensterlos. In dem fahlen Licht, das vom Flur hereindrang, konnte sie ein verrostetes Bettgestell mit durchgelegener Sprungfedermatratze ausmachen. Wahrscheinlich der Ruheraum für die Freiwache. So genau kannte sie sich beim Militär nicht aus.
Sie schloss die Tür und wandte sich dem dunklen Gang zu, der in den hinteren Teil des Gebäudes führte. Es war stickig und unangenehm warm.
Als Erstes betrat sie die Waffenkammer. Das große Bullauge war vergittert und in die seitlichen Wände waren Gewehrständer eingelassen.
Die nächste Tür den Gang runter war nicht abgeschlossen, aber mit einem Fallriegel auf der Gangseite gesichert. Sie entriegelte die Eisentür. Es kostete sie Kraft, sie aufzustoßen. Sie zog ihr Smartphone aus der Jackentasche und suchte die Taschenlampe. In dem gleißenden LED-Strahl sah sie auf eine Szene, die sie erzittern ließ. Der Anblick entfesselte Bilder in ihrem Kopf, Bilder, an die sie nicht erinnert werden wollte, Bilder, die immer wieder in ihren Träumen auftauchten, Albträumen, aus denen sie schweißgebadet aufwachte. Ein Raum ohne Licht, kahl und glatt, eine karge Zelle, deren dicke Mauern jeden Schrei erstickten. Sie holte tief Luft und atmete hörbar aus. Was war das hier? Vielleicht eine Verhörzelle für widerspenstige Soldaten, die den Zapfenstreich verpasst hatten, betrunken vom Ausgang zurückgekehrt waren oder sonst wie gegen Befehle verstoßen hatten?
Hinter der ersten schlossen sich fünf weitere Zellen an. Sie kämpfte ihren Widerwillen nieder und machte weiter. Nichts außer kahlen Wänden, Düsternis und muffiger Schwüle. Folterkammern. Schauer jagten ihr über den Rücken. Ihr Verlangen nach Tageslicht wurde immer drängender.
Überrascht stellte sie fest, dass sich die letzte Tür leicht öffnen ließ. Die Beschläge mussten vor Kurzem geölt worden sein, schoss es ihr durch den Kopf. Der Raum war vollgestellt mit Kartons, Kisten, Planken und Brettern. Ein paar Geräteteile schienen unter dem Gerümpel verborgen zu sein. Das Geheimnis, hier lag es verborgen. Aufgeregt betrat sie die Zelle. Das Licht in ihrer Hand geisterte zitternd über die wirr übereinandergestapelten Kartons. In der hintersten Ecke entdeckte sie zwei Kisten mit Vorhängeschlössern. Sie kämpfte sich durch das Chaos. Das Licht in ihrer Hand blitzte auf und erlosch. Hektisch schüttelte sie das Smartphone. Erfolglos. In der Finsternis strauchelte sie und kam zu Fall. Sie trat panisch um sich und versuchte, sich aus dem Gerümpel zu befreien. Sie hörte ein paar schwere Planken polternd zu Boden gehen. Dann fiel die Eisentür ins Schloss. Sie schrie, wie sie zuvor nur ein einziges Mal in ihrem Leben geschrien hatte.
Die Insel
Er hatte in seinem ganzen Leben nichts Vergleichbares durchgestanden. Gegen Mitternacht hatte es angefangen und erst am frühen Morgen aufgehört. Ein Blitz nach dem anderen, Donner auf Donner, wie Keulenschläge. Wasser strömte vom Himmel, als hätten sich Schleusen geöffnet. Wie die apokalyptischen Reiter waren die Böen über ihn hergefallen. Sie kamen aus allen Richtungen, in allen Stärken, unberechenbar und tückisch. Man hätte meinen können, das Jüngste Gericht sei angebrochen. Aber er lebte. Er hatte geschuftet wie ein Tier. Das Wasser aus dem Boot zu kriegen, war das Schlimmste gewesen. Fast hätte er schlappgemacht. Das Boot, seine Fair Lady, hatte standgehalten. Auch das Rigg hatte überlebt. Bis auf die Knochen durchnässt, hatte er gefroren wie ein Schneider. Und in dem ganzen Chaos hatte er auch noch seinen Insulinhaushalt regeln müssen. Ein einziger Wahnsinn! Aber was war das schon gegen den Triumph, den er empfand, als alles vorüber war? Das Glück war ihm hold gewesen. Und hilfreich! Besser hätte es nicht kommen können.
Er lachte. Er war der Hölle entronnen. Alles würde gut werden. Wo war er? Wie spät war es? Er sah auf seine Armbanduhr. Er nahm sein Smartphone und loggte sich ein. Schnell schaltete er es wieder ab. Er nahm das Glas an die Augen und suchte den Horizont ab. Voraus sollte das Feuer am Eingang zum Sandefjord liegen. Richtig, an Backbordseite kam es in Sicht. Noch ein paar Meilen, dann würde er auf den anderen Bug wechseln und Kurs auf Veierland nehmen. Sein Ziel kannte er seit frühester Jugend. Ihm kam es vor, als segele er schon länger, als er laufen konnte. Sein Onkel hatte ihn auf sein Boot geholt und vor der Hölle an Land gerettet. Von ihm hatte er Segeln gelernt. Er würde ihm ewig dankbar sein. In den Sommern seiner Jugend waren sie hier hoch auf die einsame Insel gesegelt und hatten unvergessliche Ferien verbracht. Wenn er an die Zeiten zurückdachte, stiegen ihm die Düfte von damals in die Nase: Wind, Meer, Sommer, Torunns feuchtes Haar, offenes Feuer, gegrillter Fisch. Was war seitdem nur passiert?
Er schob seine Gedanken beiseite und sah auf seine Armbanduhr. Höchste Zeit, seinen Blutzucker zu kontrollieren. Nach seinem 18. Geburtstag hatte man bei ihm Diabetes mellitus festgestellt. Sein Vater wollte ihm das Segeln verbieten. Es sei lebensgefährlich, vor allem, wenn er allein auf dem Wasser unterwegs sei. Es hatte Streit in der Familie gegeben. Seine Mutter hatte ihm gegen den Willen des Vaters ein gebrauchtes Folkeboot zum bestandenen Abitur geschenkt. Der kleine, seetüchtige Bootstyp war für ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern konstruiert und für das Fahrtensegeln in der dänischen Südsee und den Küstengewässern ausgelegt. Allein kam er sehr gut damit zurecht. Er hatte es mit Hingabe und Liebe aufgearbeitet und zu seinem Zuhause gemacht. Je länger sein Vater auf ihn einredete, desto größer wurde sein Ehrgeiz, aller Welt zu zeigen, dass Diabetes überhaupt kein Grund war, die Hände von der Pinne zu lassen. Es hatte ihn zeit seines Lebens aufs Meer getrieben. Davon konnte ihn keine Macht der Welt abbringen. Als er später sein kleines Boot nach List an die Nordsee verlegte, hielt ihn nicht nur sein Vater für komplett verrückt. Gut so, hatte er gedacht und sich ins Fäustchen gelacht. Voraus kam die Ansteuerung in den Tonsbjergfjord in Sicht. Zeit, alles klarzumachen.
*
Er schmiss die Steuerbordschot los und legte das Ruder um. Das Boot gehorchte ihm willig. Er duckte sich unter dem überholenden Großbaum hindurch und holte die Backbordschot dicht. Er justierte den Trimm und lehnte sich zurück. Er war auf dem richtigen Kurs.
Vor dem Kajütsüll lag der Plastiksack mit dem Müll. Warum hatte der Sturm ihn nicht über Bord gefegt? Müll, nichts als Müll. Müll, Müll und nochmals Müll. Angeekelt nahm er den Sack auf. Er wollte ihn gerade über Bord werfen, als er noch einmal innehielt. Er öffnete den Sack und sah hinein. Dann nahm er mit spitzen Fingern ein Stück nach dem anderen heraus und ließ es neben der Bordwand ins Wasser gleiten. Zum Schluss hielt er das Beil in der Hand. Er drehte es vor seinen Augen hin und her. Dann schmiss er es mit wütendem Schwung weit hinaus in den Fjord. Hier war das Meer tief. Nie wieder würde es zurück ans Tageslicht kommen. Es war ein für alle Mal vorbei. Für immer und ewig vorbei, vorbei, vorbei! Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.
Die salzige Luft tat ihm gut. Er sog sie tief in die Lungen und ließ den Blick über den Horizont schweifen. Die Wolkenfelder hatten sich hinter den norwegischen Bergen aufgelöst. Die Sonne strahlte aus einem stahlblauen Himmel. Die Luft war klar wie poliertes Glas. Ein frischer Nordost brachte ihn seinem Traum immer näher. Bald würden die glatten Uferfelsen von Veierland auftauchen. Er lachte. Es würde alles gut werden. Torunn hatte das Schicksal in die Hand genommen. Sowohl ihres als auch seins. Sie hatte sich gekümmert, hatte vorgesorgt, sie war das absolut Beste, was ihm im Leben jemals passiert war. Wie lange hatte sie auf ihn gewartet? Endlich würden ihre Sehnsüchte in Erfüllung gehen.
Tomas Jung
Er stand am Fenster, als das Telefon klingelte.
»Endlich erreiche ich dich«, sagte eine fremde Stimme. »Warum ist immer nur dein blöder Chef am Apparat? Warum lässt du dich verleugnen? Langsam bin ich …«
»Wer ist da eigentlich?«, fragte er scharf.
»Tiny. Tiny aus Carvoeiro. Jetzt sag bloß, du weißt nicht, wer ich bin.«
Jung stutzte einen Moment und atmete hörbar aus.
»Tiny! Sag das doch gleich. Ich …«
»Red dich nicht raus, Tomi. Meine Stimme müsstest du eigentlich im Schlaf erkennen.«
»Ich bin im Dienst. Wenn du mich unbedingt anrufen musst, dann melde dich mit Namen. Ich habe einen Job, der mich empfindlich macht. Das solltest du eigentlich kapiert haben. Ich muss vorsichtig sein.«
»Eben, eben. Wie recht du hast. Aber ich stecke in der Scheiße. In der totalen Scheiße, mein Lieber. Ich muss viel vorsichtiger sein als du. Gerade jetzt. Das ist dir doch wohl klar, oder? Sooft ich versuche, dich …«
»Gerade jetzt? Was meinst du damit, Tiny?«, unterbrach ihn Jung irritiert.
»Sag bloß, du liest keine Zeitungen. Das Fernsehen hat darüber berichtet. Sogar das Radio. Wenn wir …«
»Wovon redest du eigentlich?«, stoppte Jung seinen Redefluss. In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken.
»Du wolltest etwas dagegen tun. Aber …«
»Was wollte ich tun?«
»Du weißt genau, wovon ich rede. Du wolltest dafür sorgen, dass die Täter in den Knast kommen.«
»Falsch, Tiny. Ich habe überlegt, ob ich den portugiesischen Kollegen nicht einen Tipp geben soll.«
»Und? Hast du?«
»Nein. Ich habe es mir anders überlegt. Außerdem war ich beschäftigt.«
»Schöne Scheiße. Die Staatsanwaltschaft in Lissabon hat das Verfahren wieder aufgenommen.«
»Und? Was ist jetzt anders als vorher? Was beunruhigt dich?«
»Scotland Yard hat sich ebenfalls eingeschaltet. Sie ermitteln in der Sache.«
»Was willst du mir eigentlich sagen, Tiny? Du scheinst die Hosen voll zu haben. So kenne ich dich gar nicht.«
»Die Briten sind von anderem Kaliber, mein Bester. Ich kenne sie alle. Die verpennten Portugiesen genauso wie diese beschissenen Limies. Das sind Pitbulls. Wenn die sich mal festgebissen haben, dann lassen die nicht mehr los. Ich kann ein Lied davon singen. Das kannst du mir glauben.«
»Meinetwegen. Aber beantworte mir bitte meine Frage«, sagte Jung unwirsch.
»Ich mache mir Gedanken. Wenn …«
»Was hast du vor?«, fragte Jung, aufs Höchste alarmiert.
»Wenn du das nicht auf die Reihe kriegst, dann muss ich das eben tun.«
Jung atmete tief durch. Er überlegte fieberhaft.
»Wo bist du jetzt?«, fragte er.
»Im Flugzeug.«
»Doch nicht etwa in einem Jet deiner Militärkumpels?«
»Nein, in einem Airbus der TAP.«
»Wohin fliegst du?«
»Ich lande in ein paar Minuten in Lissabon.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dein Handy. Es kann die Flugzeugelektronik durcheinanderbringen. Das müsstest du eigentlich besser wissen als ich.«
»Bullshit. Im Notfall bringe ich die lahme Ente mit meinem kleinen Finger auf die Piste. So ’n Gerät ist vielleicht für Rentner ein Problem, aber nicht für einen Topgun.«
»Du bist Rentner, Tiny. Wie viele Jahre eigentlich schon?«
»Ich will dir mal was sagen, wenn …«
»Vergiss es. Nimm das nächste Flugzeug nach Hamburg. Bevor du etwas unternimmst, müssen wir reden.«
»Willst du mir etwa Vorschriften machen?«
»Wir sollten uns vorher abstimmen. Das ist ein wohlgemeinter Ratschlag.«
»Okay«, sagte Tiny besänftigt. »Ich melde mich, sobald ich kann.«
»Aber privat. Hast du meine Nummer?«
»Nein.«
Jung diktierte ihm seine Handynummer.
»Hast du auch einen Festnetzanschluss?«, fragte Tiny.
»Ja. Verrate ich aber nicht.«
»Warum? Hast du Angst vor deiner Alten? Sie ist misstrauisch und zickig. Ich erinnere mich sehr gut an sie.«
»Du redest Blech, mein Guter. Ich will nicht, dass du mit ihr redest. Hast du verstanden? Es genügt, wenn ich da drinhänge. Ist das klar?«
»Ja, ja. Alles klar, Herr Oberkriminaler. Aber mit Versteckspielen fängt die Scheiße erst richtig an. Lass dir das …«
»Ich mach jetzt Schluss, Tiny«, würgte Jung ihn ab. »Tschüss. Pass auf dich auf.«
»Na gut. Ebenfalls Arschloch. Ate logo. Bis bald.«
Jung legte verärgert den Hörer auf und wandte sich wieder dem Fenster zu. Der Ausblick auf den Hafen und das dahinterliegende Ostufer besänftigte ihn nur kurz. Er spürte deutlich, wie schlechte Laune ihn erfasste und sein Gemüt verdüsterte. Nichts kam ihm ungelegener als dieser unterbelichtete Expilot. Das Jahr ist ohnehin schon schrecklich genug, stöhnte er. Und jetzt auch noch der!
*
Mit dem Wetter hatte der Schlamassel begonnen. Schon seit Monaten war es deprimierend. April, April, der macht, was er will. Dieses Jahr hatte er gewollt, dass die Sonne wochenlang vom Himmel schien und die Menschen morgens kurzärmelig zur Arbeit gingen. Von da ab hatten Wolken, Regen und Wind das Wetter in Schleswig-Holstein bestimmt. Und es war kalt geworden. Sogar für Nordfriesen, die an schlechtes Wetter gewöhnt waren. Für sie gehörten Regenjacke und Pullover zum Sommer wie Touristen und Autoschlangen.
Jetzt war Ende September. Die Sonne stand tief, aber sie war zu sehen, obwohl eine dünne Wolkenschicht ihre Strahlen in einen fahlen Lichtschleier verwandelte. Die Temperaturen sanken nachts auf einstellige Werte, bei Sonnenaufgang bildete sich Bodennebel. Ein annehmbarer Frühherbsttag.
Drüben am Ostufer lagen die Segelboote an ihren Leinen wie gezähmte Wildtiere. Still, apathisch, leblos. Das Saisonende nahte. Bald würden die ersten von ihnen aus dem Wasser gehoben und ins Winterlager geschafft werden. Er hatte sich an den Jahresrhythmus in der Marina gewöhnt. Er liebte die Beständigkeit. Würde sie ewig dauern? Man konnte nie wissen, was als Nächstes kam. Zum Beispiel eine Versetzung. Damit musste er als Beamter immer rechnen. Unter normalen Umständen war es nicht zu verhindern, dass er in eine andere Stadt oder sogar aufs platte Land versetzt werden konnte. Heute, nächsten Monat oder nächstes Jahr. Vor ihm war das schon vielen Kollegen passiert. Nicht, dass ihn das übermäßig beunruhigt hätte. Aber den Blick über seine Stadt, den würde er vermissen. Das wusste er schon jetzt.
*
Überhaupt bereitete ihm sein Beruf in letzter Zeit Schwierigkeiten. Er fühlte sich leer und orientierungslos. Das hatte dazu geführt, dass sein Privatleben langsam, aber sicher aus den Fugen geriet. Er war zu Hause ausgezogen. Der Entschluss war über ihn gekommen wie ein Unfall. Svenja hatte während seiner Abwesenheit die bodentiefen Fenster im Wohnzimmer umarbeiten lassen. Sie brauche Fensterbänke für ihre Blumen, für den indischen Glückselefanten und den Buddha, den ihr Maike zum Geburtstag geschenkt hatte. Auf seinen Vorwurf, warum sie vorher nicht mit ihm darüber geredet habe, hatte sie beleidigt erwidert, dass er ja nie zuhöre. Vor dem Zubettgehen bemerkte sie über die Schulter: »Du riechst, Tomi.« Es klang so, als hätte sie ihm »Du stinkst« an den Kopf geworfen.
Ihre Bemerkungen hatten ihn tief getroffen. In erster Linie, weil sie nicht stimmten. Svenja musste andere Beweggründe haben. Hatte sie einen heimlichen Liebhaber, der ihr größere Aufmerksamkeit schenkte und besser roch? Er hatte sich gefragt, wonach Svenja eigentlich selbst roch, und festgestellt, dass sie, solange er sie kannte, immer nach ihren Parfüms, ihren Salben und Lotionen gerochen hatte. Auch an diesem Abend. Svenja natur, im Biozustand sozusagen, hatte er noch nie zu riechen bekommen. Wenn es nicht schon längst zu spät ist, dann wird es höchste Zeit, hatte er gedacht.
Am nächsten Morgen war er früh aufgestanden, hatte seinen Koffer gepackt und war gegangen. Ohne Lärm, ohne Streit, einfach so, als geschähe, was schon lange in der Luft gehangen hatte, und gegen das anzugehen, völlig sinnlos gewesen wäre. Seine Kinder wussten nichts davon. Sie waren weit weg und studierten in Städten im Süden und Osten der Republik. Für sein Empfinden lebten sie in einer Welt, die sich von seiner unterschied wie Grönland von den kleinen Antillen. Er würde es ihnen irgendwann erklären müssen. Er fürchtete sich davor.
Tomas Jung war in einer Studenten-WG am Willy-Brandt-Platz untergekommen, gut 100 Schritte von der Kriminalinspektion entfernt. Er hatte zufällig erfahren, dass in dem alten, roten Backsteinhaus ein Zimmer frei war. Die Bereitschaftspolizei hatte einen Tipp bekommen und in dem Haus eine Drogenrazzia durchgeführt. Die Studenten waren auf die Wache gebracht und verhört worden. Ihnen war nichts anzulasten gewesen.
Die jungen Leute hatten ihn überrascht. Dass er Polizist war, schien sie nicht zu stören. Sein Alter auch nicht. Beides wurde niemals erwähnt. Jung war ihnen willkommen als neuer Mitbewohner mit ausreichend Geld, ohne Marotten, ruhig und unauffällig.
Sie waren zu viert. Ein Pärchen, ein Computerfreak und er. Das Pärchen, Inka und Sven, waren in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Sie studierten Pädagogik und Medienwissenschaft. Es gab oft Streit, mitunter auch regelrechten Krieg. Ihrer Zuneigung schien das aber keinen Abbruch zu tun.
Der Älteste von den dreien war ein Nerd. Er hieß Nils. Ein munteres, quirliges Kerlchen, der mit einem Hochleistungs-Laptop verheiratet war. Die Ehe war glücklich, das sah man dem Typen an. Seine Angeheiratete war unterhaltsam, geduldig, amüsant, gefügig, spannend, belesen, oft überraschend, immer genügsam und nur manchmal lästig. Aber damit konnte er offensichtlich sehr gut leben. Viel wichtiger war, dass sie ihn nie ermahnte, zum Friseur gehen zu müssen, dass sein Hemd in die Wäsche gehörte und er dringend eine Dusche brauchte. Von ihr kamen keine überflüssigen Kommentare, keine Sticheleien, dass es in seinem Zimmer muffelte, dass dringend sauber gemacht werden musste oder dass die Müllabfuhr dran war. Wen störte das überhaupt? Die absolute Krönung war, dass seine Braut wenig Kosten verursachte. Ein Teil der anfallenden Verpflichtungen waren im Mietpreis inbegriffen.
Tomas Jung mochte seine Mitbewohner. Sie ließen ihn in Ruhe. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart nie gedrängt, Konversation machen, nett sein oder Hilfe leisten zu müssen. Sie lebten ihr Leben und er das seine.
Wenn Tomas Jung überhaupt etwas an ihnen auszusetzen hatte, dann waren es die Zustände in Bad und Küche. Er goss sich hin und wieder einen Tee auf, brühte sich einen Kaffee oder stellte Joghurt und Obst in den Kühlschrank. Darüber hinaus beanspruchte er die Küche nicht. Deswegen war es ihm egal, wie es da aussah. Sein Ordnungssinn litt zwar, aber es fiel ihm nicht schwer, über das Chaos hinwegzusehen.
Anders im Bad. Seine Toilettenartikel verwahrte er in seinem Zimmer und trug sie jedes Mal ins Bad und wieder zurück. Er hatte sofort einen Toilettenreiniger, einen Abzieher für die Dusche und ein Mikrofasertuch angeschafft. Auch reinigte er die Abflüsse regelmäßig. Anfangs hatten ihn dabei Ekelgefühle befallen. Inzwischen fand er das ganz in Ordnung, sozusagen wie einen nützlichen Beitrag zum Gedeihen einer blühenden Wohngemeinschaft. Seine Mitbewohner verloren kein Wort darüber, sabotierten seine Neuerungen aber auch nicht. Eines Tages registrierte er, dass sich noch jemand nützlich gemacht hatte. Er empfand einen stillen Triumph. Für ihn war es ein wichtiger Sieg, den er ein paar Schritte weiter, im Restaurant im alten Speicher, allein mit sich selbst gefeiert hatte. Hier gab es die besten Steaks in Flensburg und einen Rotwein aus Apulien, der ihn jedes Mal ins Schwärmen brachte. Er verströmte die Glut und die Kraft des tiefen Südens. Wenn er Wein über seine Zunge gleiten ließ, verlor er sich gerne in Fantasien über Weinanbau. Winzer, das wäre auch etwas für ihn gewesen, träumte er dann. Rebstöcke faszinierten ihn. Die Pflanzen waren wirklich einzigartig. Jahr für Jahr holten sie Geschmack und Kraft aus einem armseligen Boden, der seit Jahrhunderten der erbarmungslosen Sonne des Mezzogiorno ausgesetzt gewesen war und längst hätte am Ende sein müssen.
*
Tomas Jung bewohnte ein karges Zimmer. Zwölf Quadratmeter auf Holzdielen, ein Tisch, ein Lehnstuhl, ein Bett, ein Schrank. Es erinnerte ihn fatal an das Zimmer, in dem er seine Jugend verbracht hatte. Nur hatte es da noch ein paar Bilder, Bücher und ein Radio gegeben. Hier nicht. Ein Provisorium. Mehr sollte es nicht sein. Seine Verletzlichkeit hatte ihn hierhergetrieben, nicht die Absicht, sich von Svenja zu trennen. Der Gedanke daran war ihm so fern wie der, sich einen Arm abzuhacken.
Insgeheim verfluchte er seine Feinfühligkeit. Sie machte Probleme. Ihm gefiel das nicht, obwohl er sich über die Jahre angewöhnt hatte, sie als ein seltenes Geschenk zu betrachten. Sie brachte ihm auch Vorteile. Gerade in seinem Beruf.
Er war Leiter des S-Kommissariats bei der Bezirkskriminalinspektion Flensburg, dem Dezernat für unaufgeklärte Kapitalverbrechen. Der Blick aus seinem Zimmer ging in den Hinterhof, nicht nach vorne, auf den Willy-Brandt-Platz und den Hafen. Der Hinterhof passt viel besser zu mir, hatte er gleich beim ersten Mal gedacht. Die Aussicht ins Dahinter war seine Sache, nicht der Glanz, mit dem sich die Menschen ins beste Licht zu setzen bemühten. Die allgegenwärtige Sucht nach Glamour und Glanz war für Jung Ausdruck eines Mangels, eines verzweifelten Bettelns um Aufmerksamkeit, die vielleicht irgendwann zuvor hätte gestillt werden können, aber nie gestillt worden war und die in Zukunft auch nie gestillt werden würde. No chance. Absolutely no chance. So sah Tomas Jung das.