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Regina Raaf

Meerjungfrau im Rollmopsglas

Teil 1

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Bereits von Regina Raaf erschienen

Impressum neobooks

Kapitel 1

Begegnung im Zug

Kim sah Bäume und Felder in grünbraunen Streifen am Fenster vorbeiziehen. Noch eine gute Stunde bis der Zug Berlin Hauptbahnhof erreichen würde. Sie hob das Taschenbuch und wollte eigentlich noch ein paar Seiten lesen, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Sie fragte sich, was sie erwarten würde – wie ihre Zukunft in der Großstadt aussah.

»Hallo«, sagte ein junger Mann der an der letzten Station zugestiegen war, nun ihr Abteil betrat und seinen Koffer im Staufach platzierte. Kim schreckte aus ihren Gedanken hoch, lächelte dann rasch und erwiderte: »Hi.« Der junge Mann sah nett aus. Dunkles Haar, schlanke Gestalt, außerdem hatte er ein sehr attraktives Gesicht. Kim versuchte, ihn nicht zu auffällig zu mustern. Sie schätzte, dass er ein paar Jahre älter als sie selbst war – vielleicht sogar schon Anfang Zwanzig. Er war immer noch mit seinem Koffer beschäftigt, warf ihr aber einen freundlichen Blick zu. Schöne grüne Augen hatte er, wie Kim feststellte. Sie selbst hatte blaue, von denen einige ihrer Freundinnen behaupteten, jeder Typ würde sich deshalb sofort in sie verlieben. Kim hielt das für eine maßlose Übertreibung, auch wenn sie zugeben musste, dass ihre Augen ihr an sich selbst am besten gefielen. Nachdem der junge Mann sich ihr gegenüber gesetzt hatte, bemühte er sich, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Was liest du denn da?«

Kim konnte gar nicht antworten – seine Augen waren wirklich der Hammer! Sie hob das Buch von ihrem Schoß, damit er das Cover sehen konnte. Er las den Titel laut: »Männer morden leicht gemacht«. Eine Pause entstand. »Ah«, sagte er dann knapp, runzelte die Stirn, zog sein Handy aus der Tasche und tippte darauf herum - damit war die Konversation auch schon wieder beendet.

Kim biss sich auf die Lippe. Der Typ war echt süß und der angenehme Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase. Dumm nur, dass der Krimi so einen dämlichen Titel hatte! Kein Wunder, dass er jetzt dachte, sie wäre eine Männerhasserin ... Irgendwie passierte ihr so etwas ständig: Kaum wurde sie von jemandem angesprochen, der sympathisch wirkte, verbockte sie es innerhalb kürzester Zeit durch irgendetwas Unbedachtes. Meist durch unpassende Antworten, weil ihr vor lauter Aufregung nichts Sinnvolles einfiel. Diesmal eben durch einen provokanten Buchtitel, der nicht gerade geeignet war, um nett zu wirken. Irgendwas war halt immer … Manchmal kam es ihr so vor, als hätte sie auf diese Art beinahe schon jeden jungen Mann aus ihrem kleinen Heimatdorf vergrault. Ein Glück, dass es in Berlin so einen Haufen Männer gab, dass sie in Zukunft problemlos gleich ein ganzes Dutzend am Tag vertreiben könnte, ohne dass es ins Gewicht fiel. Und vielleicht war ja sogar irgendwann mal einer darunter, der nicht so schnell aufgab, wenn sie wie üblich ins berühmte Fettnäpfchen trat. Zumindest diesen einen Vorteil hatte also der Umstand, dass sie von ihrem beschaulichen Wohnort in der Eifel nun gezwungenermaßen in die Hauptstadt zog. Obwohl Kim das eigentlich als überflüssig ansah. Immerhin war sie im vergangenen Jahr auch irgendwie klargekommen. Sie hatte in dieser Zeit bei Oma Gisela gewohnt, weil sie mit ihren gerade erst sechzehn Jahren nicht alleine in der Wohnung sein sollte. Oma Gisela und sie hatten sich dann gegenseitig unterstützt und Kim war sich sicher, dass sie – unter den gegebenen Umständen – inzwischen auch alleine zurechtkommen würde. Die vergangene Zeit war alles andere als leicht gewesen, vor allem, da sie und Oma Gisela gewusst hatten, dass Kims Mutter nicht mehr aus dem Krankenhaus zurückkehren würde. Die Diagnose war ein Schock gewesen und sie hatten begreifen müssen, dass es keinen Grund zur Hoffnung mehr gab. Anfangs hatte sich Kim geweigert das einzusehen, aber dann war es zu offensichtlich geworden, um die Tatsache zu ignorieren. Die letzten Wochen hatte Kims Mutter im Hospiz verbracht, bevor die heimtückische Krebserkrankung sie endlich aus ihren grausamen Krallen entlassen hatte. Immer wieder hatte Oma Gisela gesagt, dass es furchtbar ungerecht wäre, eine ihrer vier Töchter vor sich sterben sehen zu müssen. Und da Kims Mutter das Nesthäkchen gewesen war, schien das Schicksal sogar noch grausamer zugeschlagen zu haben.

Bei der Beerdigung hatte Oma Gisela ihre anderen Töchter ins Gebet genommen, sich um Kim zu kümmern, da auch sie langsam mit ihren Kräften am Ende wäre. Und tatsächlich hatte es vor zwei Wochen den nächsten Todesfall gegeben ... Ein weiteres Mal waren die drei Schwestern angereist – diesmal, um ihre Mutter zu beerdigen. Und obwohl Kim inzwischen siebzehn war, hatten sie darauf bestanden, ihr Wort zu halten und dafür gesorgt, dass sie zu ihnen nach Berlin zog. Kim wusste wirklich nicht, was sie davon halten sollte. Hätten die Tanten ihr Einverständnis gegeben, hätte sie sicher auch alleine in der Wohnung der Großmutter bleiben können. Aber das hatten ihre Tanten rigoros abgelehnt und ihr klargemacht, dass ein Umzug unumgänglich war. Kim fühlte sich entwurzelt und schrecklich allein. Sie konnte nur hoffen, dass sich das bald legen würde, denn das Gefühl war furchtbar! Im Moment konnte sie sich gar nicht vorstellen, wie ihr Leben weitergehen sollte. Die zehnte Klasse hatte sie beendet und ihre Tanten hatten ihr versprochen, dass sie erst mal Zeit haben würde, um sich bei ihnen einzuleben und dann zu überlegen, was sie als nächstes tun wollte. Sie hatten sie vorsorglich am Gymnasium angemeldet; Kims Abschlusszeugnis war gut genug, um das Abitur zu machen. Oder eine Ausbildung, wenn sie sich für diesen Weg entschied. Sogar für ein Auslandspraktikum waren ihre Tanten offen, wenn Kim nur erst einmal zu ihnen käme, um endlich etwas Ruhe zu finden. Außerdem hatten sie ihr eingehend erläutert, dass sie in der Großstadt viel mehr Chancen hatte, ihre zukünftigen Pläne zu verwirklichen, als in dem Kaff, das ihre Tanten bereits vor einer halben Ewigkeit verlassen hatten. Aber genau dieses Kaff war eben bis jetzt Kims Heimat gewesen – ihr Universum. All die Menschen, die sie dort kannte, würden nun weiter ihr gewohntes Leben leben, während Kim hier saß und einer Zukunft entgegen fuhr, die so verschwommen war wie die Landschaft, die immer noch in rasendem Tempo am Fenster vorbei flog.


Kim schlug ihr Buch zu und legte es neben sich auf den Sitz als sie merkte, dass sie sich auf keinen einzigen Satz mehr konzentrieren konnte. Erst wusste sie gar nicht woran das lag, bis ihr bewusst wurde, dass ihr Gegenüber schuld an der Ablenkung war. Warum roch der Typ auch so unglaublich gut? Das war unfair! Konnte der keine Rücksicht auf junge Frauen nehmen, die darauf reagierten, obwohl er ihnen die kalte Schulter zeigte? Kim seufzte leise und erhaschte einen Blick auf sein Handydisplay. Ah, er twitterte wohl, wenn sie das richtig gesehen hatte. Kim hatte auch einen Account bei dem Kurznachrichtendienst, aber der war schon seit längerer Zeit verwaist ... Sie hatte wenig Lust verspürt, ihre Timeline mit Todesfällen innerhalb der eigenen Familie zu »unterhalten«. Klar, sie hätte das natürlich tun können, und wäre dabei bestimmt auch auf Menschen gestoßen, die Anteil an ihrem Leid genommen hätten, aber nein, das war ihr dann doch zu privat erschienen, um es im Netz mit fremden Menschen zu teilen. Und Apropos privat: Nun legte der Typ ihr gegenüber eine Hand übers Display und sah sie an.

»Sorry«, murmelte Kim und spürte wie sie rot wurde. Auch das noch! Er brummte nur etwas, aber er schien nicht ernsthaft böse zu sein. Kim versuchte von nun an ihren Blick aus dem Fenster zu richten. Dummerweise konnte sie jedoch spüren, dass er sie musterte. Klar, vermutlich dachte er nun sie hätte versucht, seinen Nutzernamen zu entziffern, um ihm Todesdrohungen twittern zu können. In Zeiten wie diesen stalkte man sein Opfer schließlich anständig, bevor man es um die Ecke brachte ... Zumindest hatte das einer der weiblichen Charaktere in der Krimi-Anthologie so gemacht, die sie gerade las. Okay, dafür hatte die Protagonistin nicht Twitter benutzt, sondern Facebook. Aber machte das irgendeinen Unterschied? Kim hatte die Geschichte noch nicht zu Ende gelesen, aber irgendwie kam sie sich plötzlich dumm vor, überhaupt etwas über durchtriebene Frauen zu lesen, die irgendwelche Männer abmurksten – vor allem, da die meisten der Geschichten auch noch völlig übertrieben lustig rüberkommen sollten. Das Thema war aber eigentlich nicht lustig – nein, der Tod war sogar alles andere als amüsant! Auch wenn die Autorinnen sich Mühe gegeben hatten, die Mordopfer nachträglich mit allerlei Fehlern zu versehen – aber ermordete man zum Beispiel wirklich den eigenen Ehemann, nur weil er fremdgegangen war? Dann gäbe es wohl nichts anderes mehr als Mord und Totschlag. Der Krimi war wohl doch eher ein Fehlkauf gewesen, auch wenn die Empfehlung in der Zeitung vielversprechend geklungen hatte. Kim entschied, das Buch bei ihrer Ankunft in Berlin noch am Bahnhof in den Müll zu werfen. Vielleicht war so ein E-Book-Reader doch besser, denn dann konnte man schlechten Lesestoff ganz einfach löschen, ohne böse Blicke zu ernten, weil man ein Buch fortwarf. Aber Kim mochte das Gefühl der Seiten aus Papier zischen ihren Fingern. Ihre Mutter hatte auch gerne gelesen und Kim hatte diese Leidenschaft ebenfalls übernommen. Sie waren Stammkundinnen in der kleinen Buchhandlung im Nachbarort gewesen. Gemeinsam hatten sie oft ganze Abende nebeneinander lesend auf der Couch verbracht. Vor allem im Winter, wenn alles eingeschneit gewesen war, hatten sie es sich gemütlich gemacht – mit einer Kanne Tee und einigen Knabbereien auf dem Tisch. Kim hatte zu dieser Zeit meist noch Jugendromane gelesen, doch immer häufiger hatte sie auch Interesse am Lesestoff ihrer Mutter entwickelt. Krimis standen inzwischen ganz oben auf ihrer Leseliste – nur, dass darin immer Menschen sterben mussten, nervte sie inzwischen gewaltig. Sie wusste, dass sie überreagierte – das würde sich schon wieder geben, wenn sie erst etwas zur Ruhe gekommen war und ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief. Kim begriff, dass sie sich mehr Zeit geben musste. Sie hatte schwere Schicksalsschläge hinter sich, wie man es auszudrücken pflegte. Aber alle in ihrem Umfeld waren sich sicher gewesen, dass sie als junger Mensch schon bald wieder Freude am Leben finden würde …

Nun, das würde sich Kims Meinung nach erst noch zeigen müssen.

Der junge Mann ihr gegenüber betrachtete sie immer noch. Zumindest hatte er den Kopf nicht mehr gesenkt, das konnte Kim aus den Augenwinkeln erkennen. Oder sah er vielleicht einfach nur aus dem Fenster, genau so wie sie? Als Kim vorgab, in ihrer Tasche zu kramen, die auf dem Boden stand, blickte er jedenfalls schnell wieder aufs Display seines Handys. Ihr eigenes hatte vor einem Monat den Geist aufgegeben und Kim war durch den bevorstehenden Umzug noch nicht dazu gekommen, sich ein neues zu besorgen. Das würde sie möglichst schnell nachholen. Sie nahm den MP3 Player aus ihrer Tasche. Ein bisschen Musik hören und in Träumen versinken - das war es, was sie die letzten Monate gerettet hatte, und es würde bestimmt auch jetzt klappen. In weniger als einer Stunde würden ihre Tanten sie am Bahnhof abholen. Ob sie wirklich alle drei kämen? Immerhin wohnten sie zusammen. Kim konnte kaum glauben, dass da in der Wohnung für sie auch noch Platz sein sollte. Sie konnte sich nicht mal daran erinnern, wann sie zuletzt in Berlin gewesen war. Das musste schon Ewigkeiten her sein, und sie war noch ein halbes Baby gewesen. Immer wieder hatte ihre Mutter vorgehabt, mal mit ihr hinzufahren und die Tanten zu besuchen, aber es hatte sich irgendwie immer wieder zerschlagen – und Kim hatte nichts vermisst. Wenn ihre Mutter von den Tanten gesprochen hatte, war es immer so gewesen, als müsse sie sich selbst zu einem Besuch bei ihnen überreden. Und dabei lag es vermutlich nicht einmal an ihren Schwestern selbst. Es war eher so, als würde ihr die große Stadt Angst einjagen. Kim hatte es gespürt und sie nie gedrängt. Vielleicht hatte ihre Mutter aber doch auch einfach nur wenig Lust gehabt, sich von den älteren Schwestern etwas sagen zu lassen. Und das vermutlich nicht nur, weil sie die Jüngste von ihnen gewesen war, sondern auch, weil sie letztendlich die meiste Verantwortung übernommen hatte. Sie war immerhin diejenige gewesen, die sich um ihre Mutter gekümmert hatte und dafür als einzige im Heimatort geblieben war. Kims Mutter hatte – zum Unverständnis ihrer Schwestern – das Landleben immer vorgezogen. Kim war damit ebenfalls glücklich gewesen. Es gab so viele schöne Erinnerungen: der Nebel über den Feldern, die geheimnisvollen Wälder, vergnügliche Abkühlungen bei sommerlicher Hitze im nahe gelegenen Bach … Kim hatte all das geliebt und geglaubt, diese Dinge gehörten auch zu ihrer Zukunft. Zuletzt würde nun aber doch alles anders kommen und Kim wusste nicht recht, ob sie es als Ironie des Schicksals ansehen sollte, direkt drei neue Ersatz-Mütter auf einen Schlag zu bekommen. Immerhin war jede von ihnen schon weit jenseits der Fünfzig. Die Älteste sogar Dreiundsechzig. Das war ja steinalt! Zumindest gegen Kims Mutter, die zweiundvierzig Jahre alt geworden war. Kim wusste, dass sie ihren Tanten Unrecht tat, denn so alt waren sie nun wirklich noch nicht. Und ihre Vornamen hatten sie so abgekürzt, dass es nicht ganz so peinlich klang. Darüber war Kim wirklich froh, denn wie hätte sich das angehört, wenn sie ihrer Freundin Denise hätte erzählen müssen, dass sie zu ihren Tanten Dorothee, Lieselotte und Elsbeth zog. Da klangen Doro, Lotta und Elli schon viel cooler. Trotzdem hatte sie viel Mitleid von ihrer Freundin und den ehemaligen Klassenkameraden geerntet. Andererseits waren die aber auch vor Neid fast geplatzt, weil Kim in Berlin leben würde – vor allem Denise, die seit dieser Neuigkeit nicht mehr wie sonst im Mittelpunkt gestanden hatte. Berlin war plötzlich das Gesprächsthema Nummer eins unter den Klassenkameraden gewesen. Denn dort gab es schließlich so gut wie nichts, was es nicht gab: Abenteuer, Partys, Diskotheken, Konzerte, Kultur und jede Menge Politik – auf die Kim allerdings weniger wild war. Aber klar, Berlin war einfach saucool, wie Denise schließlich zugegeben hatte. Und Kim würde Zeit haben, sich dort erst mal in Ruhe umzusehen. Der Gedanke, dass sie das viel lieber mit ihrer Mutter getan hätte, schmerzte sie jedoch. Kim merkte, dass sie wohl unbewusst einen Seufzer von sich gegeben hatte, denn plötzlich sah der junge Mann ihr besorgt in die Augen. »Alles in Ordnung?«

Sie zog die Kopfhörer aus und erwiderte: »Nein, eigentlich nicht.«

»Wo liegt denn das Problem?« Er sah sie abwartend an. Kim verfluchte sich selbst. Sie hatte es schon wieder getan: einfach drauflos geredet, ohne zu überlegen. Kein Wunder, dass er sich jetzt genötigt fühlte, sich noch näher nach ihrem Befinden zu erkundigen. Was jetzt? Sollte sie einem Wildfremden etwa was vorheulen? Warum hatte sie nicht einfach gesagt, dass nichts wäre? Ein einfaches »Alles okay« wäre doch wirklich rasch gelogen gewesen. Und das machten doch schließlich alle so …

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