Was bildet ihr uns ein?

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Was bildet ihr uns ein?

Eine Generation fordert die Bildungsrevolution




Bettina Malter / Ali Hotait (Hg.)

Was bildet ihr uns ein?

Eine Generation fordert die Bildungsrevolution


Weitere Informationen zum Buch auf:

www.wasbildetihrunsein.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-061-6

Illustrationen: Eva Schönfeld, www.evaschoenfeld.com

Korrektorat: Frank Petrasch, Armin Weber

Grafisches Gesamtkonzept, Satz und Layout: Stefan Berndt – www.fototypo.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2012

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net


Inhalt

Vorwort

Wolfgang Gründinger

Einleitung

Bettina Malter und Ali Hotait

Fehlstart des Hürdenlaufs

Kommt Zeit, kommt Kind – warum sich frühkindliche Bildung wandelt

Maria B. Jung und Daniela Militzer

Von der Förderschule behindert – Ein Plädoyer für die Vielfalt

Laura Hoffmann

Wenn der Migrationshintergrund zum Vordergrund wird

Özlem Ipiv, Elisabeth Leuthardt und Susanne Julia Czaja

„Ich bin ein Kind deutscher Institutionen.“

Oktay Ay

Motivieren, bis das Vorbild kommt

Bettina Malter, Susanne Julia Czaja, Tobias Stephan und Anne Hoffmann

Vorgezeichnete Laufbahnen

Früh und folgenreich sortiert: die Aufteilung der Kinder nach der Grundschulzeit

Felix Peter und Stefanie Dieckmann

„Ich werd’ die Hauptschule nicht mehr los!“

Ali Hotait

„Lehrer müssen aufrichten statt abrichten.“

Josef Ipfelkofer und Bettina Malter

Aus drei mach zwei – die Schulreform in Berlin

Stephanie Niehoffund Ernst Engert

Eine Schule für alle – Zeit für einen Neuanfang

Andreas Kroneder

Schwedens Schulsystem: Kein Musterland?

Johannes Möhler

Revolution statt Reförmchen: Deutschland braucht ein neues Schulsystem 113

Jan Starmans

Im Hürdenmarathon

Der vorbestimmte Weg: Auf Ausbildung getrimmt

Andreas Kroneder und Ali Hotait

Ins Aus gebildet – das deutsche Berufsbildungssystem

Christine Ante und Bettina Malter

„Ich bin Frau und kann Mathe.“

Nele Haas

„Ich habe ein illegales Abitur.“

Anonym

Zwischen zwei Welten – Herausforderungen für Studierende der „ersten Generation“ 150

Katja Urbatsch

„Ich kämpfte mich durch’s Abendabitur, um an der Uni zu scheitern.“

Stella Tauber

Ohne Eintrittskarte zur Universität

Dorothee Riese

Die Hürdenelite

Geistige Ertüchtigung mit Nebenwirkungen

Christa Roth und Nina Petrow

„Die Droge Leistung hat mich krank gemacht.“

Anonym

Deutschlands Master of Desaster

Kader Karabulut

Doktoranden zweiter Klasse

Sebastian Kempkens

Der stille Begleiter – wie der Habitus den Berufseinstieg behindert

Susanne Julia Czaja

Staffellauf statt Hürdenlauf

Ungleiche Kämpfe – die öffentlichen Debatten um die richtige Bildung

Susanne Brehm und Christopher Hempel

Sehr geehrte Hoffnungstäter

Bettina Malter

Vorwort
von Wolfgang Gründinger


„Betreten auf eigene Gefahr“ steht auf Schildern überall auf dem Campus der Uni Regensburg – schwarz auf weiß. Würden die Studierenden die Warnung ernst nehmen, dürften sie keinen Fuß mehr auf den Campus setzen. Die Philosophische Fakultät ist mit Bauzäunen umstellt, zum Schutz der Passanten vor herausbrechenden Gesteinsbrocken. Beinahe wäre selbst der Rektor von solch einem Brocken erschlagen worden, der sich aus der Betonfassade löste und neben ihm auf den Bauzaun krachte. „Das war ganz schön knapp“, erinnert sich der Rektor, der noch mit dem Leben davon kam. Jahre später ist das Gebäude immer noch marode: „Für eine Sanierung fehlt uns das Geld.“

Einmal kam Papst Benedikt höchstpersönlich zu Besuch an diese Uni. Er amtierte dort als Honorarprofessor für Dogmengeschichte und darauf ist die Uni mächtig stolz. Deshalb wollte man in besonders gutem Glanz erstrahlen und plötzlich wurde doch investiert: Das Verwaltungsgebäude wurde grau gestrichen, und der Weg von der Eingangstür bis zum Audimax wurde schön gefliest. Der „Papstweg“ fällt ins Auge. Denn das Gros der Böden in der Uni besteht nicht aus glänzenden Fliesen, sondern aus unansehnlichen Pflastersteinen – wohlgemerkt: Pflastersteine zieren nicht etwa nur das Campusgelände, sondern auch die Gänge in den Hochschulgebäuden. Die grauen Betonwände haben noch nie einen Strich Farbe gesehen. Manche Flure können bei starkem Regen nicht mehr trockenen Fußes durchquert werden, weil die Bausubstanz löchrig ist und das Regenwasser durchtropft. Selbst einige Regale der Bibliotheken müssen zum Schutz vor Regenwasser mit Planen abgedeckt werden.

Die deutschen Hochschulen sollen weltweit in der ersten Liga spielen, doch gleichzeitig sparen die Politiker die Bildung kaputt. Auch das unbeugsame Bayern lebt wortwörtlich von der Substanz. Von „Bayerns größter Bruchbude“ spricht die Süddeutsche Zeitung mit Blick auf die Uni Regensburg. Die Lehre ist sicherlich hochwertiger als der äußere Anschein der Gebäude, in denen sie stattfindet. Aber auch in den Lehr- und Studienbedingungen ließe sich vieles verbessern.

Das Knausern bei den Bildungsinvestitionen verschiebt gewaltige Lasten in die Zukunft. In einem Land, dessen wichtigster Rohstoff bekanntlich seine Köpfe sind, leidet die junge Generation unter sich verschlechternden Studienbedingungen. Alle Exzellenz-Initiativen verkommen zum bloßen Ablenkungsmanöver, wenn sonst allerorten an der Zukunft gespart wird, anstatt für die Zukunft zu sparen. So mag vielleicht die schwarze Null im Staatshaushalt näher rücken, doch die wirkliche Belastung nachrückender Generationen wächst umso schneller.

 

Über die Weihnachtszeit muss die Uni Regensburg – wie inzwischen auch andere Unis im ganzen Land – ihren Betrieb dichtmachen, um Heizkosten zu sparen. Würde man die Unis energetisch sanieren, könnten die Heizkosten hingegen dauerhaft um mindestens ein Drittel gesenkt werden. Doch selbst in Zeiten, in denen sich die Kanzlerin vor schmelzenden Eisbergen fotografieren lässt, sind für diese Investition in Nachhaltigkeit keine Mittel übrig.

Die chronisch unterfinanzierten Hochschulen wurden seit den EU-Beschlüssen von Bologna 1999 von den Plänen der Bildungsreformer getrieben. Die Ideen waren gut, doch die Umsetzung im Bologna-Prozess missglückte gründlich: zu viele Kinderkrankheiten, die früh diagnostiziert waren, deren Behandlung aber immer wieder verschoben wurde – zum Schaden der Studierenden.

Die Umstellung der alten Magister und Diplome auf das neue System aus Bachelor und Master klappte nur an wenigen Unis nicht nach dem Motto „Verdichten, verschulen, umbenennen“. Enge Stundenpläne und Prüfungswut produzierten immensen Zeit- und Leistungsdruck. Sie raubten Freiräume, über den Tellerrand des eigenen Studienfaches nachzudenken, sich Nachhilfe zu nehmen, sich erst einmal im Uni-Leben zurechtzufinden. Vor allem für Studierende aus sozial schwächeren Elternhäusern wurde das Uni-Leben noch schwieriger. Denn sie haben weniger Zeit, sich durch Nebenjobs über Wasser zu halten.

Erst recht verhindert der Leistungsstress politisches Engagement. Seit Bologna brechen den NGOs und zivilgesellschaftlichen Initiativen die längerfristig engagierten Studenten weg, weil die ihre Zeit in der Bibliothek verbringen statt beim Planungstreffen der Nachhaltigkeitsgruppe. Selbst etablierte studentische Organisationen, die bislang fest im Sattel saßen, leiden unter Nachwuchsproblemen, z. B. AIESEC, ELSA oder die Amnesty-Hochschulgruppen. Die Zeitverdichtung im Bildungssystem ruiniert freiwilliges Engagement. Für Sich-Ausprobieren und Weltverbessern bleibt in einem effizienten Studium keine Zeit. Wo früher noch mühelos Streikwochen eingelegt werden konnten, ohne die Abschlussnote zu gefährden, zählt heute von Anfang an jede Note. Gnadenlos.

Man muss sich fragen, ob die Ideologie des „immer schneller“ wirklich Sinn ergibt. Einfach mal in Vorlesungen reinschnuppern, die nicht für die Note zählen? Dazu ist kaum Luft. Weil viele Pflichtveranstaltungen nur unregelmäßig angeboten werden, ist die genormte Regelstudienzeit für Studierende, die nebenher arbeiten müssen, Kinder haben oder sich gesellschaftlich engagieren, nicht zu schaffen.

Statt Reflexion zu üben, werden vorgefertigte Rezepte auswendig gelernt, für deren Infragestellen keine Zeit bleibt. Studenten werden mit Wissenshäppchen abgespeist und vollgestopft. Es gilt das Prinzip: Pauken statt Wissenschaft. Prüfungen sind schön und gut, aber wenn nicht mehr gedacht, sondern nur noch geschluckt wird, haben die Hochschulen ihren Auftrag verfehlt. Blindlings schraubten die Bologna-Reformer die Arbeitsbelastung hoch, und vergaßen Studienqualität und Studierbarkeit.

Auch an den Schulen ging die Bologna-Denke des „immer schneller“ nicht vorbei. Kürzere Schulzeiten sind nicht des Teufels – aber wenn das Gymnasium von 13 auf zwölf Jahre verkürzt wird, muss damit eine grundlegende Entschlackung des Lehrplans einhergehen und nicht Konzeptlosigkeit herrschen. In Bayern schafft jeder dritte Schüler das Turbo-Abitur nur mit Nachhilfe. Die Arbeitszeit eines Schülers beträgt dort mehr als vierzig Stunden pro Woche – wohlgemerkt in einem Halbtagsschul-System. Die Nachhilfeindustrie wächst rasant. Wer das Schulversagen nicht durch privat bezahlte Paukstunden kompensieren kann, fliegt raus. Eine Kürzung der Schulzeit ohne bessere Curricula und bessere Betreuung verbaut nicht nur jede Chancengleichheit, sondern verändert auch das Bild von der Schule, die mehr und mehr zu einem (schlecht gemanagten) Produktionsstandort für den Arbeitsmarkt wird, statt ein Ort der Entfaltung und Entwicklung zu sein. Schule wird begriffen als Wettlauf um Prüfungsnoten und -scheine, nicht als Freiraum zum Ausprobieren und zur Selbstverwirklichung. Non scholae, sed vitae? Fehlanzeige! Kürzer ist nicht gleich besser.

Nichts entscheidet hierzulande so stark über die Chancen eines jungen Menschen wie die Gnade oder Ungnade seiner Geburt. Formal ist der Bildungszugang für jeden gleich – doch Kindern aus sozial schwachen Elternhäusern fällt der Aufstieg dreimal schwärer. Sie werden zu Hause nicht genug gefördert, weil Geld fehlt und der Lebensstil der Eltern nicht immer die beste Unterstützung ist. Das Versagen der Eltern wird von der Politik noch verschärft: Bereits nach der 4. Klasse werden die Kinder nach Leistung auf die verschiedenen Schultypen aufgeteilt. Das ist viel zu früh, um Begabungen auch nur einigermaßen erkennen zu können. Regelmäßig belegen OECD-Studien außerdem, dass Kinder aus Akademikerfamilien von ihren Grundschullehrern deutlich öfter eine Empfehlung für das Gymnasium ausgestellt bekommen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung. In den Köpfen der bewertenden Lehrerinnen und Lehrer sitzt das Bild im Kopf: Akademikerkinder müssen Akademiker werden. Außerdem wollen sie sich Ärger mit den Eltern ersparen, die gar keine Alternative für ihren Nachwuchs sehen als die Universität. Anders als Arbeiterfamilien, für die Hochschulbildung immer noch exotisch ist und der Junge lieber eine bodenständige Arbeit in der Fabrik oder der Werkstatt ergreifen sollte.

Besonders dramatisch: 8 Prozent verlassen die Schule ohne jeden Abschluss. Sie haben kaum eine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Ohne Bildung sind Armutskarrieren und soziale Spaltung vorprogrammiert. Hier muss die Politik handeln, bevor eine sozial abgehängte Unterschicht entsteht. Dafür müssen Eltern, Kitas und Kindergerten, Schulen und Jugendämter so früh wie möglich zusammenarbeiten.

Chancengleichheit darf nicht nur auf dem Papier stehen. Schon wegen ihrer unterschiedlichen finanziellen und soziokulturellen Startbedingungen sind die Chancen ungleich verteilt. Das Bildungssystem darf diese Ungerechtigkeit nicht noch verschlimmern. Zugangshürden zur Bildung gehören deshalb abgebaut und nicht verteidigt. Studiengebühren schrecken besonders bildungsferne Schichten noch stärker vom Studium ab. Sie machen ein ohnehin schwer durchdringbares Bildungssystem noch undurchdringlicher. Wenn wir wissen, dass Bildung nach wie vor stark von der sozialen und finanziellen Lage der Eltern abhängt, dann braucht es eine wesentlich breitere und bessere Studienfinanzierung als heute, anstatt mit einer Campus-Maut den Weg zur Hochschule zu versperren und selbst in den Schulen mit Büchergeld und immer mehr Gebühren die Bildungsverantwortung der Gesellschaft auf die Familien abzuwälzen.

Stattdessen muss Bildung früher beginnen, um Benachteiligungen auszugleichen. Qualifizierte Kinderbetreuung für die Kleinen ist entscheidend: Bereits im jungen Alter müssen Kinder nachholen können, was ihre Eltern versäumt haben. Dazu gehört sicherlich kein Englischunterricht für Vierjährige, aber jedes Kind muss beispielsweise die deutsche Sprache sprechen können und Gleichaltrige aus anderen sozialen Schichten kennenlernen. Das ist nicht überall selbstverständlich – leider.

Der Grundsatz der freien Bildung darf daher nicht auf die Hochschulen verengt werden: Erst recht muss der Kindergartenplatz mittelfristig gebührenfrei werden, weil sich schließlich im frühkindlichen Alter die Zukunft des Kindes entscheidet. Geld wäre genug da – nur der politische Wille fehlt.

Der Studierenden-Survey der Uni Konstanz, der seit 1982 das Lebensgefühl der Studenten in Deutschland erfasst, registriert einen nüchternen Pragmatismus der jungen Generation. So war die Aussicht auf einen sicheren Job noch vor 20 Jahren nur für ein Drittel der Studenten wichtig für die Studienwahl, heute sind es dagegen schon zwei Drittel. Auch Studenten einer „brotlosen“ Kunst, wie der geisteswissenschaftlichen Fächer, nehmen oft ein solides Wirtschafts- oder Technikfach mit in ihren Studienplan auf, um sich für den Arbeitsmarkt zu rüsten. Zugleich sind mehr Studenten bereit, für den Job umzuziehen oder lange Fahrtzeiten in Kauf zu nehmen.

Die Studenten von heute wollen zügig ihren Abschluss machen und arbeiten intensiver für die Uni als zu den Zeiten der 68er, als sich ein verlorenes Streiksemester noch als kleiner Verlust im Vergleich zur unmittelbar bevorstehenden Weltrevolution darstellen ließ. Trotz gesellschaftlichem Idealismus zieht das Kalkül kalter Kosten-Nutzen-Rechnungen der effizienten Selbstoptimierung zu passgenauem Firmenfutter in die Lebensplanung ein. Es ist ein Zynismus unserer Zeit, dass wir Jungen die Maxime der Flexibilität, die der amerikanische Soziologe Richard Sennett in Der flexible Mensch als zentrale Kategorie des modernen Kapitalismus identifiziert, dermaßen perfekt erfüllen, dass wir uns damit selbst ein Bein stellen, weil wir bereitwillig auch noch so schlechte Arbeitsbedingungen akzeptieren.

Für einige hochqualifizierte Akademiker eröffnet die Erosion der alten Industriegesellschaft durchaus mehr Freiheit zur Selbstverwirklichung: weniger Abhängigkeit und Monotonie, raus aus der Festung der lebenslangen 40-Stunden-Festanstellung. Holm Friebe und Sascha Lobo feiern in ihrem Manifest Wir nennen es Arbeit diese digitale Bohème, die dank dem Internet als Lebens- und Einkommensader glücklich werden möchte und kann. Diese Wissensarbeiter bevölkern mit ihren MacBooks die urbanen Szenecafés und springen von einem Kultur- und Medienprojekt zum nächsten. Sie bestimmen selbst, wann der Wecker klingelt und welche Aufträge sie erledigen wollen – Hauptsache, sie können davon die Miete ihrer Altbauwohnung und den täglichen Café Latte bestreiten. Wie erfüllend diese neue Freiheit sein kann, ist an dem dynamischen Tatendrang zu erkennen, wie er in den Epizentren der Netzarbeiter, wie dem Betahaus in Berlin-Kreuzberg, in der Luft liegt. Arbeit und Freizeit verschwimmen, denn man tut gerne, was man tut. So manche dieser neuen Freiberufler machen den Verlust an Sicherheit und Einkommen wett durch einen Zugewinn an Autonomie und Motivation. Manche träumen daher gar von einem „positiven Prekariat“, das eigentlich ganz glücklich ist, nicht mehr in den Fesseln der Industriegesellschaft gefangen zu sein.

Für eine privilegierte Schicht von ein paar Programmierern, Werbetextern und anderen Kopfarbeitern mag dieser Traum von Freiheit im Job in Erfüllung gehen. Für die meisten zerfliegt dieser Traum aber derart schnell in Trümmer, dass sie ihn gar nicht erst zu träumen wagen. Das Gros der atypischen Beschäftigungsverhältnisse kann leider keinesfalls als Befreiung von den Zwängen der Industriegesellschaft interpretiert werden. Wenn die ersehnte Selbstbestimmung in fragwürdiger Selbstausbeutung endet und die Ausschreibungen an Kreativarbeit mit jeder kleinen Konjunkturdelle einen dramatischen Einbruch erleiden, erkennt auch die Laptop-Elite: Es war nicht alles schlecht in der alten Arbeitsgesellschaft.

Die meisten Jüngeren sehnen sich nicht nach dem Dasein als flexibler Wanderarbeiter, der von Projekt zu Projekt, von Job zu Job und von Stadt zu Stadt schweift, sondern bevorzugen einen sicheren Job, auf den sie sich auch noch in zwei Jahren verlassen können. Das schöne Leben jenseits der Festanstellung funktioniert selbst für die kreative und unternehmerische Elite nur, wenn ein intakter Sozialstaat das Risiko des Scheiterns absichert und eine menschenwürdige Existenz für alle bewahrt. Doch ebendieser Sozialstaat, der einen auffängt, wenn es mit der ökonomischen Selbstbefreiung doch nicht klappt, befindet sich im Prozess der stückweisen Demontage. Der Traum vom positiven Prekariat, das aus dem Gefängnis der alten Industriegesellschaft ausbricht, ist ausgeträumt, wenn Leistungsbereitschaft in (Selbst-)Ausbeutung abgleitet und auf Leistung keine Gegenleistung folgt.

Wir sind in eine Zeit hineingeboren, in der uns beigebracht wurde, dass wir uns um uns selbst kümmern müssen. Verlass sei nur noch auf uns selbst. Sogar die Prosperität einer Firma versagt als Garant für den eigenen Arbeitsplatz, denn solange sich in einem anderen Land mehr Profit machen lässt, schwebt das Damoklesschwert der Produktionsverlagerung über nahezu jedem Unternehmen. Vom Sozialstaat wissen wir erst recht nichts mehr zu erwarten. Nicht jammern, sondern anpacken, hieß die Losung, auf die wir in der Ära der Macher eingeschworen wurden. In seiner „Aufbruchrede“ zur Agenda 2010 sprach Kanzler Schröder ganze achtzehn Mal von (Eigen-)Verantwortung, neunzehn Mal von (Wahl-)Freiheit. Die Worthülsen vom freien Bürger dienten aber nur als Legitimationsfassade für fortschreitende Entsolidarisierung. „Weniger Staat“ und „mehr Eigenverantwortung“ heißt, dass jeder auf sich selbst angewiesen ist und sich auf andere nicht mehr verlassen kann – schon gar nicht auf den Staat. Wer Pech hat oder nicht das Kind reicher Eltern ist, der fällt eben raus.

 

Im Sommer 2009 herrschte Aufruhr an den deutschen Hochschulen. Mehr als 230.000 Studenten, Schüler und Azubis gingen zum Bildungsstreik auf die Straße. Sie demonstrierten für die Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen, die soziale Öffnung der Bildungschancen, die Demokratisierung der Bildungsinstitutionen und mehr Geld für Bildung. „Reiche Eltern für alle“ lautet die häufigste Parole auf den Plakaten und Stoff bahnen, doch die Losungen sind vielfältig: „Mehr Lehrer!“, „Mitbestimmung statt Verschulung“, „Nieder mit dem Kapitalismus“, „Massenfächer schaffen Schmalspurhirne!“ oder „Dumm fickt gut“. Als bei der Demo in Berlin an einer Hauswand ein Transparent mit dem Aufruf nach „Krawall und Remmidemmi“ (nach einer Deichkind-Songzeile) entrollt wird, gibt es Jubel und Applaus, wehrend die Studenten lautstark skandieren: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!“

So abwechslungsreich die Plakataufschriften sind, so verschieden sind die Motive, wegen derer die Jungen auf die Straße gehen. Es ist eine basisdemokratische Bewegung, organisiert von einem Bündnis aus über 230 lokalen Studenten- und Schülerinitiativen. Eine Bewegung, die keinen Anführer hat, keinen neuen Rudi Dutschke, geeint nur durch ihr gemeinsames Nein zum Status quo des Bildungssystems. Bei der Kundgebung vor dem Roten Rathaus in Berlin bekommt keiner der Redner, sondern der DJ den meisten Applaus – weil Musik das einzige verbindende Element ist, was die vielen Individuen eint, die keine Leitfigur haben.

Als kollektive Zukunftsskepsis und permanenter Leistungsdruck die Studierenden auf die Straße trieben, reagierte die Politik paralysiert. CDU-Forschungsministerin Annette Schavan fiel nichts Besseres ein, als die Proteste als „gestrig“ abzukanzeln, und bezeichnete die Bologna-Reform als „alternativlos“. Erst als ein Experte nach dem anderen bescheinigte, dass die Studenten recht haben, ruderte sie zurück, schob den schwarzen Peter aber den Bundesländern zu. Ansonsten spielten die Politiker die knausrige Tante, die man flüchtig kennt, die einem einen feuchten Kuss auf die Backe drückt, aber keinen Cent Taschengeld zusteckt.

Zunächst schien es, als ob die Studenten mit Ritualen in Form eines symbolischen Bildungsgipfels, mit dem demonstrativen Geschacher um Zuständigkeiten und der fadenscheinigen Wiederholung alter Versprechen abgefertigt würden. Außer Spesen nix gewesen?

Das Protestjahr 2009 zwang schließlich zur Kurskorrektur. Jeder Zeitungsleser in Deutschland weiß seither, dass die wohlgemeinte Bologna-Reform in einem Schlamassel geendet ist. Denn die krassen Fehlentwicklungen im deutschen Bildungssystem – das karge Bildungsbudget, die extrem hohe soziale Selektion, das sagenhafte Scheitern der Bologna-Reform – sind bestens erforscht und bekannt. Nur die Politik kümmerte das bis dato wenig. Das Thema Bildung rückte unversehens nach vorn auf der politischen Agenda. Kaum ein Politiker traute sich, die bisherige Bildungspolitik zu verteidigen, so als sei die Reform vom Himmel gefallen. Die Politiker bekamen es mit der Angst zu tun. Denn sie verstanden, dass man mit schlechter Bildungspolitik Wahlen verliert. Selbst Ministerin Schavan kam letztlich nicht umhin, „handwerkliche Fehler“ beim Bologna-Prozess einzugestehen.

Die Studenten wurden so ernst genommen wie lange nicht mehr, auf viele ihrer Forderungen wurde eingegangen. Eine Reform des Bologna-Prozesses wurde verabredet; in Hessen und im Saarland schaffte die CDU die Studiengebühren nach empfindlichen Wahlniederlagen wieder ab; in Hamburg wurden sie reduziert. Die Studenten haben auf der Straße eine bessere Politik erzwungen.

Freilich kann man die Ansicht vertreten, die Veränderungen gingen zu langsam oder seien zu zaghaft. Zugegeben: Stellenweise ist die tatsächliche Beschlusslage noch mau. Die wirklich fundierte Weichenstellung steht noch an: Weder gegen die soziale Selektion noch gegen die chronische Unterfinanzierung der Bildung wurde etwas unternommen und auch die „Reform der Reform“ von Bologna steht erst am Anfang.

Aber eine Demokratie braucht Zeit, wenn sie sich beraten und nicht halbgare Gesetzesprojekte übers Knie brechen will. Die Konsequenz kann schließlich auch nicht sein, Bologna rückgängig zu machen und auf halbem Wege auszusteigen – in der Pre-Bologna-Ära vor 1999 war schließlich auch nicht alles schön und gut. Nun muss es darum gehen, die Kinderkrankheiten der Reform zu kurieren und den Prozess in ein „positives Bologna“ zu wenden. Ein Pakt Bologna II muss auf den Weg gebracht werden. Vielleicht braucht es erst noch mehr „gestrige“ Proteste, um eine gestrige Hochschulpolitik fit für morgen zu machen.

Wer gute Bildungspolitik denken und machen will, muss mit denjenigen reden, deren Zukunft von einer guten Bildungspolitik abhängt: den Schülern und Studierenden. Dieses Buch ist ein Buch von jungen Menschen, die Schule und Hochschule aus eigenem Erleben kennen und nicht nur als Beobachter darüber reden. Es ist ein Buch von jungen Menschen, die vom heutigen Bildungssystem unmittelbar betroffen sind, es satt haben, noch länger vertröstet zu werden. Sie wollen keine Pragmatiker sein, denen schrittweise Reförmchen genug sind oder die den Weg des geringsten Widerstands gehen. Sie empören sich darüber, was falsch läuft. Und sie geben Anstöße, wie es besser gehen kann.

Dieses Buch analysiert, diskutiert, reflektiert. Es ist eine scharfe Bestandsaufnahme unseres Bildungssystems, es gibt Impulse für ein neues Bildungsverständnis, für neue Wege, für eine neue Art und Weise des Lehrens und des Lernens und vor allem: Es ist ein intellektuelles Vergnügen. Dieses Buch ist Gedankenfutter für die neue Jugendbewegung, die für mehr Demokratie und Gerechtigkeit streitet. Ich wünsche mir, dass die Erkenntnisse in diesem Band die Debatte anfeuern, die Bewegung beflügeln und die Politik auf Trab halten.