Unterrichtswelten – Dialoge im Deutschunterricht

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

II.4

Alle Schüler und Schülerinnen, die bereit dazu sind, tragen ihren Text selbst vor der Klasse vor oder lassen ihn von jemandem vorlesen.

Sehr gern können sie dafür nach vorn kommen. Ermutigen Sie die Klasse, nach dem Vortrag zu applaudieren, und zwar auch dann, wenn ihnen der Text inhaltlich nicht besonders gefallen hat. Erläutern Sie der Klasse dazu das Folgende:

Ziel des Vortrags ist nicht, Gefallen zu erzeugen oder eine unter Umständen hervorragende Leistung zu präsentieren.

Ziel ist es, den Mut und das Selbstvertrauen zu haben, geschützt-öffentlich zu einer eigenständig verfassten literarisch-kreativen Arbeit zu stehen.

Unterrichtseinheit II
I. Literaturarbeit
I.1

Zum (Wieder-)Einstieg lesen Sie das Prosagedicht aus Block I noch einmal vor oder lassen es vorlesen.

I.2

Besprechen Sie mit den Schülern und Schülerinnen, inwiefern dieser Text für sie etwas von einem Erzähltext (Prosa) und inwiefern er etwas von einem Gedicht (Lyrik) hat und erläutern Sie anschließend am Beispiel des eben gelesenen Textes den Begriff Prosagedicht.

Arbeiten Sie dabei insbesondere heraus, dass ein Prosagedicht eine „dritte Form“ ist, die Charakteristika der beiden „traditionellen Bereiche“ in sich vereint und damit formal etwas Neues erschafft, einen „dritten Ort“ eröffnet, die Eindeutigkeit der Kategorien in Frage stellt oder einfach darauf hinweist, dass diese Eindeutigkeit immer etwas Künstliches, etwas Gesetztes ist, das auch anders festgelegt sein könnte, etc.

Lassen Sie das bis hierhin Besprochene zunächst einfach so stehen und gehen über zum nächsten Punkt. Keine Sorge: die losen Enden kommen am Ende wieder zusammen.

I.3

Falls Sie selbst kein Farsi/Persisch können, klären Sie, ob jemand in der Klasse die Sprache beherrscht und (Achtung: das ist nicht immer vorauszusetzen!) sie auch lesen kann.

Aufgabe für den/die vortragende/n Schüler/Schülerin

Sollte das der Fall sein, fragen Sie den Schüler/die Schülerin, ob er/sie bereit wäre, der Klasse das Gedicht Parandeh mordani ast1 vorzutragen. Falls ja, geben Sie ihm/ihr eine Kopie und bitten Sie ihn/sie zum Vortrag vor die Klasse zu treten.

Hinweis

Applaus ist nach einem solchen Auftritt immer erwünscht, aber nicht auf Bestellung. Es ist schön, wenn er kommt. Wenn er nicht kommt, sorgen Sie als Lehrkraft für ausreichend Wertschätzung.

Aufgabe für die Zuhörer und Zuhörerinnen

Bitten Sie die restlichen Schüler und Schülerinnen, sich ganz bewusst auf den Klang, den Rhythmus und die Melodie des Gehörten zu konzentrieren.

I.4

Lesen Sie anschließend die Übersetzung des Textes Der Vogel ist sterblich1 vor.

Verteilen sie dazu beide Fassungen (die persische und die deutsche) an die Schüler und Schülerinnen.

I.5.

Sprechen Sie kurz darüber, wovon dieses Gedicht handelt

 Liebeskummer

 Einsamkeit

 Quintessenz in den letzten zwei Zeilen: Es ist die Erfahrung selbst, die kostbar ist und uns niemals genommen werden kann. Die gelebte Verbindung (in der Liebe, der Freundschaft, der Familie etc.) kann vorübergehen.

 usw.

I.6

Bitten Sie nun die Schüler und Schülerinnen, erneut in Kleingruppen nach Verbindungslinien zwischen dem Gedicht von Farrokhsād und dem Prosagedicht zu suchen, zum Beispiel:

 thematisch

 Trauer, Abschied, Verlust

 formal

 rechtsbündiger Satz der beiden Originalfassungen

 semantisch a)die aus dem persischen Original im deutschen Titel zitierte Zeile Behalte den Flug im Gedächtnis

 semantisch b)die Umdeutung des Vogelflugs aus dem persischen Original in einen Flugzeugflug im deutschen Original

I.7

Erarbeiten Sie mit den Schülern und Schülerinnen, was sich aus diesen intertextuellen Bezügen ableiten lässt:

 Inwieweit weisen Konnotationen aus dem persischen Gedicht in den Sentenzen des Prosagedichts in eine bestimmte Richtung?

 Was spiegelt die Quintessenz aus dem persischen Gedicht (behalte den [Vogel-] Flug im Gedächtnis) durch das Zitat im Prosagedicht wider?

 Gibt es durch dieses Zitat Bedeutungsdopplungen? Falls ja, welche?

Tragen Sie die Ergebnisse an der Tafel zusammen und diskutieren Sie mit der Klasse die intertextuellen Verweise des Prosagedichts auf der inhaltlichen wie der formalen Ebene und arbeiten Sie die damit angesprochenen Konnotationsräume heraus, zum Beispiel:

 Der rechtsbündige Satz des in linksbündig notierten, deutschen Wörtern verfassten Textes verweist auf die Rechtsbündigkeit der persischen Schrift, damit auf den persischen, den iranischen und sogar den arabischen Kulturraum und damit auf das Geburtsland und die Vatersprache der Autorin des Textes. Es entsteht eine Repräsentanz dieses Kulturraums innerhalb des deutschsprachigen Gedichts.Das Prosagedicht eröffnet demnach einen Raum oder stellt einen Ort dar, in dem die beiden Sprachräume und die ihren Schriften zugrunde liegenden Konzepte nicht mehr voneinander zu trennen, sondern in eins gefallen sind.

 Die Punkte anstelle von Fragezeichen am Ende der Fragesätze könnten auf einer formalen Ebene darauf hindeuten, dass es diesen Fragen gar nicht um Antworten geht, dass es dem Ich-Erzähler/der Ich-Erzählerin (dem lyrischen Ich) vielmehr darum gehen könnte, diese Fragen als Ausdruck eines Erlebens „in die Welt zu stellen“, Zeugnis abzulegen über dieses Erleben, als darum, Antworten auf sie zu finden.

 Angesichts der Thematik des Textes, ließe sich zumindest vermuten, dass die durchgehende Kleinschreibung im vorliegenden Prosagedicht möglicherweise den speziellen geistigen und emotionalen Zustand des Ich-Erzählers/der Ich-Erzählerin (des lyrischen Ichs) markieren soll. Er/sie scheint sich im Zustand einer schmerzhaften und traurigen Selbstbefragung zu befinden, scheint in einem emotionalen Befinden gefangen, in dem Fragen nicht aus Erkenntnisinteresse gestellt und rein assoziativ aneinandergereiht werden. Er/sie scheint sich gedanklich an einem sowohl beängstigenden wie irrealen „Ort“ zu befinden oder einen solchen zu befragen. Einen Ort, an dem die gewöhnlichen Regeln außer Kraft gesetzt sind. Möglicherweise spiegelt sich das hier in der durchgehenden Kleinschreibung.

Hinweis

Je nach Leistungsstärke und/oder Interessenslage der Gruppe, bietet dieser Punkt einen guten Anlass dafür, mit den Schülern und Schülerinnen den literaturgeschichtlichen Hintergrund der Kleinschreibung in der deutschsprachigen Lyrik und Prosa zu besprechen.

Historisch zum Beispiel bei:

Jacob Grimm, Stefan George, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl oder Peter Paul Zahl.

Zeitgenössisch zum Beispiel bei:

Uljana Wolf (2013), Daniela Seel (2011), Yevgeniy Breyger (2016), Monika Rinck (2005), José F. A. Oliver (2005), Ulf Stolterfoth, Sudabeh Mohafez, Max Czolleck und vielen mehr.

 Das Farrokhsād-Zitat verweist auf eine der wichtigsten dichterischen Stimmen des 20. Jahrhunderts in der persischen Sprache, auf eine feministische, politisch denkende und experimentelle Dichterin zudem, die eine enge Verbindung zu Deutschland hatte und einige Jahre in Deutschland lebte. Es ist somit eine Hommage sowohl an die Dichterin, als auch an die literarischen, ethischen und politischen Inhalte, für die sie stand.1

Hinweis

Je nach Klassenstufe, können Sie die Schüler und Schülerinnen zur literarischen Arbeit Forough Farrokhsāds, aber auch zu ihrem Bezug zu Deutschland recherchieren und vielleicht ein Referat halten lassen.

 Die Engführung des Liebeskummer-Topos aus dem persischsprachigen Gedicht mit dem Topos der Migration im deutschsprachigen Prosagedicht verweist sowohl auf Liebe als auch Kummer im Zusammenhang mit dem im Text verhandelten Flug von einem Land ins andere.

 Die Eröffnung eines „dritten Raums“ in der Verwendung der Form des Prosagedichts, erschafft auch in diesem Kontext einen „dritten Raum“. Er hat eine Engführung des deutschen und des persisch/iranischen Bezugsrahmen zur Folge.

 usw.

I.8

Stellen Sie schließlich die Frage nach dem Berg: Klärt das Prosagedicht in irgendeiner Weise auf, was es mit dem Berg auf sich hat, den der Ich-Erzähler/die Ich-Erzählerin (das lyrische Ich) möglicherweise „in Wahrheit“ doch nicht sehen konnte?

 Er tut es nicht. Arbeiten Sie das heraus und lassen es vorerst so stehen. Wir kommen auch hierauf noch zurück. Teilen Sie das den Schülern und Schülerinnen mit.

I.9

Fragen Sie ab, wer in der Klasse welche Sprachen beherrscht. Sollten Schüler oder Schülerinnen anwesend sein, die andere außer der deutschen Sprache auch schriftlich beherrschen, lassen sie diese einen einfachen Satz in dieser Sprache an die Tafel schreiben. Verwenden Sie dafür freie Sätze oder gern auch eine Sentenz aus entweder dem Gedicht von Farrokhsād oder dem Prosagedicht, zum Beispiel:

 

 „Niemand wird mich der Sonne vorstellen.“

 „ob die sonne schien.“

Sammeln Sie im Anschluss gemeinsam weitere Sprachen, die anders als linksbündig notiert werden oder weitere Charakteristika aufweisen, die sie von der Notation der deutschen Schrift unterscheiden:

 Mandarin, Koreanisch, Japanisch werden meist von oben nach unten geschrieben, wobei die Spalten von rechts nach links angeordnet sind.

 Hebräisch, Arabisch, Persisch (semitische Schriften) werden von rechts nach links geschrieben (waagerechte linksläufige Schriften).

 Tigrinya (auch eine semitische Schrift) wird waagerecht rechtsläufig, also von links nach rechts geschrieben.

 Auf dem Lateinischen beruhende Schriften (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch etc.) werden meist von links nach rechts geschrieben (waagerechte rechtsläufige Schriften).1

II – Schreibarbeit

Hinweis

Die folgende Aufgabe lässt sich besser realisieren, wenn Sie mit der Klasse an Rechnern arbeiten können.

II.1

Fordern Sie die Schüler und Schülerinnen auf, aus den beiden, ihnen vorliegenden Gedichten insgesamt drei Wörter (Reizwörter) auszuwählen.

II.2

Fordern Sie die Schüler und Schülerinnen auf, die ausgewählten Wörter in ein Prosagedicht einzuarbeiten, das einen wie auch immer gearteten, thematischen Bezug zu einem Land aufweist, in dem eine waagerecht linksläufige Schrift verwendet wird und dieses Gedicht rechtsbündig zu verfassen.

Weisen Sie darauf hin, dass die Schüler und Schülerinnen jederzeit von der Vorlage des Prosagedichts abweichen und zum Beispiel auch Reime oder sinnvolle Umbrüche verwenden können (allerdings nicht müssen!).

Geben Sie der Klasse – je nach Leistungsstand – zwischen 20 und 30 Minuten Zeit für diese Aufgabe.

II.3

Lesung mit freiwilligen Beiträgern und Beiträgerinnen.

II.4

Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen am Ende dieses Blockes die Fragen und Themenkomplexe rekapitulieren, die Sie bis hierher besprochen und geklärt haben.

Falls Sie eine Klassenarbeit oder Tests durchführen müssen, lassen sich diese Punkte sehr gut dafür verwenden, bewerten Sie aber nicht die Ergebnisse der Texte, die die Schüler und Schülerinnen verfasst haben:

 Wofür könnte Rechtsbündigkeit in einem deutschsprachigen Prosagedicht Verwendung finden? (Fallen den Schülern und Schülerinnen noch weitere mögliche Gründe für eine solche Verwendung ein, oder anders: Was könnte Rechtsbündigkeit in der deutschen Schriftsprache noch repräsentieren und wie ließe sich das kontextuell verdeutlichen?)

 Inwieweit ist die durchgehende Kleinschreibung ein Stilmittel in der deutschsprachigen Literatur? Welche bereits verstorbenen Autoren oder Autorinnen haben sie manchmal verwendet und warum? Welche zeitgenössischen, lebenden Autoren und Autorinnen verwenden sie manchmal und warum?

 Welche weniger offensichtlichen Gründe kann es für eine von der offensichtlichen Logik abweichende Verwendung von Satzzeichen in einem literarischen Text geben? Und an welchen kontextuellen Verfahren in einem Text lässt sich das verdeutlichen?

 Was ist ein Prosagedicht?

Unterrichtseinheit III

Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen zu Beginn dieses dritten Blockes noch einmal rekapitulieren, welche Fragen bis hierher besprochen und geklärt, welche aber auch noch offen sind. Im diesem dritten und letzten Block bringen wir eine zusätzliche Ebene der Intertextualität ins Spiel und außerdem alle losen Enden zusammen. Teilen Sie das Ihren Schülern und Schülerinnen gern mit, wenn es losgeht.

Sie werden bald feststellen, dass eigentlich nur noch eine Frage, nämlich die nach dem Berg, offen ist.

I. Literaturarbeit
I.1

Schreiben Sie den „Berg-Satz“ aus dem Prosagedicht an die Tafel

ob ich den berg in wahrheit überhaupt sehen konnte.

und lassen sie die Schüler in Gruppenarbeit herausfinden, was uns diese neun Worte tatsächlich sagen. Geben Sie den Gruppen nicht mehr als 10 Minuten Zeit dafür und tragen Sie die Ergebnisse anschließend im Plenum an der Tafel zusammen. Das Ergebnis wird sehr wahrscheinlich ziemlich eindeutig ausfallen:

Es scheint, als ob die Stimme einst behauptet oder geglaubt habe, diesen Berg gesehen zu haben, als ob sie sich aber nun frage, ob das überhaupt (!) stimmt. Ob sie sich nicht geirrt habe. Oder sogar, ob sie nicht eine Lügnerin gewesen sein könnte. Eine Erfinderin, Er-Dichterin eines Umstands, eines Ereignisses, das so nie stattgefunden hat, das aber gleichwohl vielleicht so hätte stattfinden können und möglicherweise sogar wirklich so stattgefunden hat. Wir wissen es nicht. Sie scheint es selbst nicht (mehr?) zu wissen.

Was hat es mit diesem Berg bloß auf sich?

Das Gedicht verrät es uns nicht. Vielleicht aber tut es ein anderer Text derselben Autorin.

I.2

Je nachdem wie Sie gewöhnlich in der Klasse mit der Lektüre etwas längerer Texte verfahren, lesen Sie Sediment1 vor oder lassen Sie die Schüler und Schülerinnen den Text eigenständig lesen.

I.3

Klären Sie unbekannte Worte, möglicherweise und je nach Klassenzusammensetzung zum Beispiel:

 Sediment

 Tränenpalast

 Spree

 schmiedeeisern

 Brecht-Theater

 Teheran

 Betäubungsmittel

 Altstadtkern

 trockenwohnen

 Petroleumofen

 inhalieren

 usw.

II. Schreibarbeit
II.1
Schreibübung 1

Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen eine maximal einseitige Zusammenfassung der Gegenwartshandlung des gelesenen Textes schreiben. Geben Sie dafür nicht mehr als 20 Minuten Zeit. Es soll nur die Haupthandlung wiedergegeben werden. Sie ist überaus schlicht:

Die Ich-Erzählerin steht in Berlin auf der Weidendammer Brücke. Von dort aus sieht sie einen Berg namens Damâwand auf der Spree. Angesichts dieser Erscheinung, Einbildung, Halluzination, Fantasie schweifen ihre Gedanken ab und folgen einer Reihe von Erinnerungen. Am Ende des Textes lenkt der Anblick von Zirkusleuten und eines Esels ihre Gedanken wieder in die Gegenwart.

II.2

Tragen Sie die Ergebnisse an der Tafel zusammen beziehungsweise lassen sie Freiwillige vorlesen.

II.3.
Schreibübung 2

Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen einen freien Text darüber schreiben, was der Berg in der Erzählung „tut“ (zum Beispiel: „er kommt und geht“) und was er bewirkt (zum Beispiel „er evoziert in Berlin Bilder, die offensichtlich nicht nach Berlin, sondern nach Teheran gehören). Sie können dafür Wendungen aus dem Text verwenden, sollen sie dann aber mit Anführungszeichen als Zitate markieren.

II.4

Tragen Sie die Ergebnisse an der Tafel zusammen beziehungsweise lassen Sie Freiwillige vorlesen.

II.5

Fragen Sie die Schüler und Schülerinnen, ob dieser Text ihrer Meinung nach eine Korrespondenz zu der im Prosagedicht aufgeworfenen Überlegung aufweist, die Ausgangspunkt dieses Arbeitsblocks war:

Was hat es mit dem Berg auf sich, den der Ich-Erzähler/die Ich-Erzählerin (das lyrische Ich) des Prosagedichts vielleicht gesehen oder aber vielleicht auch nicht gesehen hat.

Bitten Sie die Schüler und Schülerinnen, die Stelle im Text zu suchen, an der der Damâwand von der Ich-Erzählerin tatsächlich gesehen wird, und bitten Sie sie anschließend, zu beschreiben, was der ganze, sehr kurze Absatz, in dem er auftaucht, für sie bedeutet. Welche Situation beschreibt er? Welche Gefühle evoziert er? Welche Bilder und Metaphern verwendet er, um diese Gefühle darzustellen?

II.6

Bitten Sie die Schüler und Schülerinnen zur nächsten Stunde einen Text mitzubringen, den sie selbst mögen. Es kann ein Roman sein, aber auch ein Gedicht, ein Comic, ein Songtext, ganz egal. Es darf auch ein Text sein, den sie zu irgendeiner früheren Gelegenheit einmal selbst verfasst haben.

II.7

Zum Abschluss dieses Blocks bitten Sie Ihre Schüler und Schülerinnen ein Prosagedicht zu verfassen, das ein Zitat aus oder einen Hinweis auf ihren mitgebrachten Text enthält, ohne dass dieser Zusammenhang textimmanent offengelegt wird.

Originaltexte

behalte den flug im gedächtnis 1

ob schnee lag. ob uniformierte patrouillierten. ob

es morgen war oder abend. ob viele taschentücher

aufgebraucht wurden. ob ich müde war. ob über-

haupt jemand an der absperrung stand. ob die luft

anders roch als sonst. ob die grenzer am flughafen

nett waren oder bedrohlich. ob wir gefrühstückt

hatten an diesem tag. ob ich ein buch im handgepäck

hatte. ob ich mich von irgendjemandem verabschie-

det habe. ob die sonne schien. ob ich angst hatte. ob

ich einen fensterplatz oder einen am gang hatte. ob

ich den berg in wahrheit überhaupt sehen konnte.

ob die geschwister quängelig waren. ob wir abends

irgendjemandem bescheid gegeben haben. ob ich

verstand, warum die frau ständig von heimat sprach.

ob ich ahnte, dass der mann nicht ahnte, dass es für

immer war. ob ich vorher noch einmal durch den

garten gegangen bin. ob jemand die tür hinter uns

schloss. ob ich mich noch einmal umgedreht habe.

Der Vogel ist sterblich 2

Mein Herz ist betrübt

Mein Herz ist betrübt

Zum Söller gehe ich und ziehe meine Finger

über die gedehnte Haut der Nacht

Die Lichter der Verbindung sind dunkel

Die Lichter der Verbindung sind dunkel

Niemand wird mich zum Fest der Sperlinge führen

Niemand wird mich der Sonne vorstellen

Behalte den Flug im Gedächtnis

der Vogel ist sterblich

von Forrough Farrokhsād

Sediment 3

Er ist wieder da. In all seiner Pracht: groß und schimmernd und unwiderstehlich. Er ist wieder da und hat mich überrascht, wie immer. Er meldet sich nie an. Er kommt und geht, wie es ihm passt.

Heute hat er mich auf der Weidendammer Brücke eingeholt. Hinter mir rauscht der Feierabendverkehr die Friedrichstraße entlang. Neben mir lehnt das Fahrrad am schmiedeeisernen Geländer. Zwischen dem Tränenpalast und dem alten Brecht-Theater sehe ich in die untergehende Sonne. Sie spiegelt sich in der Spree.

Dort, auf dem Wasser, steht er. Groß, still und unbezwingbar. Der Damâwand. Der Berg. Die Krone Teherans. Er steht auf dem Wasser, wächst aus ihm heraus zu seinen fast sechstausend Metern Höhe, breitet sich rechts und links über die Ufer der Spree, legt sich auf Straßen und Häuser, und sein weißbedecktes Haupt leuchtet strahlender als die Berliner Abendsonne.

Meine Kehle ist rau. Ich kenne das schon. Erst kommt die Atemnot, dann der Kloß im Hals. Ich weiß, dass es nachlässt, wenn ich ruhig bleibe und nicht an dem zweifle, was ich sehe. Ich habe schon alles mögliche versucht. Einfache Dinge, wie Umdrehen oder Wegfahren. Aufwendigere, wie die Einnahme unterschiedlichster Betäubungsmittel. Aber es nützt nichts. Ist er einmal da, der Damâwand, dann hat er seinen Grund dafür. Dann lässt er sich nicht vertreiben, dann bleibt er, wo er ist und solange er will. Ohnehin ist das Ansinnen albern. Einen Berg zu vertreiben. Den Berg der Berge verscheuchen, verjagen zu wollen, kindisch.

 

Also atme ich gründlich aus, warte den Bruchteil einer Sekunde, hole dann wieder Luft und betrachte das überwältigende Felsmassiv, das so unerwartet in meinem kleinen, zerklüfteten Berlin aufgetaucht ist.

Die Stille des Damâwand ist bis hier unten zu spüren, und der braunblaue Schimmer seiner faltigen, rissig-rauen Flanken legt sich auf die Mitte meiner alt gewordenen, neuen Heimat. Das Dorf an seinem Fuß döst in der Abendsonne, obwohl ich weiß, dass es in Wahrheit nicht mehr existiert. Die Stadt hat es sich einverleibt in den Jahren, die vergangen sind. Möglicherweise ist es zum Altstadtkern eines neuen Bezirks geworden. Wahrscheinlicher ist, dass es dem Erdboden gleichgemacht wurde und verschwunden ist. Nicht aber seine Bewohner, die arm sind und einflusslos. Ja, es wird eher so sein. Das Dorf wird vielgeschossigen Neubauten aus billigem Beton Platz gemacht haben, die trockengewohnt werden, wie vor der Jahrhundertwende die Gründerzeithäuser Berlins. Trockengewohnt von denen, die dort vorher in Lehmhütten und schmalen, an den Fels geschmiegten Häusern aus selbstgebrannten Ziegeln lebten.

Wie Musik brandet das Hupkonzert des Teheraner Verkehrs an meine Ohren. Der Schiffbauerdamm ist über und über behängt mit bunten Lichtern. Es wird ein Feiertag sein. Und mir läuft das Wasser im Munde zusammen, als ich die Männer neben ihren kleinen Petroleumöfen entdecke, die am Straßenrand hockend Labu verkaufen, in Salzwasser gekochte rote Beete.

An den Hängen des Damâwand im Norden Teherans plätschert die Spree unter meinen Füßen, und eine der Punks, die vor dem Tränenpalast ihr Lager aufgeschlagen haben, will Zigaretten schnorren.

Dass ich ihr keine geben kann, sage ich, weil ich nicht mehr rauche. Sie glaubt mir nicht und besteht auf die Übergabe mindestens eines Exemplars. Ich frage, ob sie den Berg sieht. Eine alte Sau sähe sie nur, gibt sie zur Antwort, pfeift nach ihrem Hund und geht.

Ich wende mich wieder zum Höchsten der Hohen. Rauchen wär gar keine so schlechte Idee. Ich würde tief inhalieren und dann einen langen, grauen Silberstreifen in die Luft schicken. In die Luft vor mir, vor meinem Gesicht. Einen Streifen silbrigen Rauchs, der meine Sicht vernebeln und meinen Anblick verstecken würde: verstecken vor dem Berg. Natürlich nur für Sekunden, für Bruchteile von Sekunden. Ohnehin wäre das Ansinnen albern. Mich vor dem Berg zu verbergen, vor dem Berg der Berge, mich wegmachen, ihm ausweichen, entwischen zu wollen.

Abwesend taste ich in meiner Jackentasche nach einer vergessenen Packung Zigaretten, aber es ist zu lange her, dass ich das Rauchen aufgegeben habe. Ich entsinne mich noch gut an den Moment:

Wir saßen auf den Stufen eines kleinen Ladens, der leer stand, wie die meisten Wohnungen in dem alten baufälligen Haus. Wir, das waren Mira und ich. Sie rauchte nach Pfeife riechende, filterlose Zigaretten und brachte Geschichten mit. Ich war zuständig für ein Sixpack Billigbier und einen Stapel alter Zeitungen gegen die Kälte von unten. Damals war ich schon auf eine leichte Sorte umgestiegen und handelte mir dafür jeden Abend Miras Spott ein.

Von Ende März bis Anfang Oktober saßen wir bis weit nach Mitternacht auf dem Treppchen, tranken jede drei Bier und verloren uns in dem, was Mira erzählte. Es waren Träume für die Zukunft oder Geschichten aus der Vergangenheit. Eines aber war ihnen gemeinsam: Sie spielten immer in Berlin, in Miras Berlin, einer Stadt, die ich nicht kannte und deren Straßen gesäumt waren von Gefängnissen, Heimen und Asylen. Ihre wichtigsten Bewohner waren arme Huren, reiche Huren, Kinder und Hunde. Sie war angefüllt mit Politik, massenweise Politik. Von unten, darauf legte Mira wert.

Über mein Berlin sprachen wir nicht. Es interessierte sie nicht, und ich konnte das verstehen, denn mein Berlin war ein verwischtes. Eines, das nicht richtig zu sehen war, sich stets entzog und irgendwie nebelhaft blieb. Es war mir ähnlich: eigenbrötlerisch, ein wenig verloren, hässlich, widersprüchlich und vernarbt.

An einem dieser Abende voller Geschichten waren wir unterwegs in der Strafvollzugsanstalt Söthstraße, wo Frauen mit gebeugtem Rücken hölzerne Wäscheklammern fertigten. Mira erzählte von einer leidenschaftlichen Liebe, die hier ihren Lauf genommen hatte, nur um einige Jahre später, allerdings in Italien, ebenso dramatisch zu enden, wie sie begonnen hatte. Völlig in die Bilder versunken, die Mira vor uns in die kalte Berliner Luft zeichnete, drückte ich meine siebenunddreißigste Zigarette des Abends mehrmals auf den Boden und bekam, als ich den Stummel schließlich fallen ließ, plötzlich keine Luft mehr.

Ich japste und machte quietschende, ächzende Geräusche, dachte panisch, dass das Leben nicht so urplötzlich, so unerwartet und auf so gemeine Weise zu Ende gehen könne, und hörte durch das anschwellende Rauschen in meinen Ohren eine Stimme, die immer wieder energisch sagte:

„Ausatmen! Du musst ausatmen!“

Es war Mira, die diesen Befehl ein ums andere Mal wiederholte und mir gleichzeitig die Arme hochriss, weit über den Kopf – im Mundwinkel eine Kippe. Seitdem rauche ich nicht mehr.

Einmal habe ich Mira vom Damâwand erzählt. Da stand er gerade bei uns im Hinterhof. Ich überlegte kurz, gab mir einen Ruck und fragte sie, ob sie ihn sähe.

„Wen?“ wollte sie wissen.

„Den Berg“, sagte ich leise. „Da vorn.“

Wir saßen auf dem Fensterbrett unserer Bruchbude, vierter Stock Altbau, und blickten nach unten. Es war Spätsommer oder Frühherbst. Goldene Reste von Sonnenstrahlen, die über dem Hof hingen, ein paar langgezogene Spinnweben, an unsichtbaren Enden befestigt, die scheinbar im Nichts vor uns aufgespannt waren, und ein Geruch, der all der Stadt um uns zum Trotz, voll Erde war.

Der Damâwand stand genau vor uns. Um seinen schneebedeckten Gipfel zu sehen, musste ich den Kopf weit in den Nacken legen. Ich freute mich über seine Nähe und dachte an meinen Vater, wie er mir bei einer Gebirgsfahrt geologische Formationen erklärte. Er erzählte von Tieren, die hier vor Hunderttausenden von Jahren gelebt hatten. Unter dem Wasser gelebt hatten, denn wir bewegten uns auf Sedimentgestein. Auf dem durch gigantische Kräfte an die Erdoberfläche gedrückten Boden eines uralten Ozeans. Ammoniten, Trilobiten, Tiere der Vorzeit mit akademischen Namen, tief vergraben ins Gestein.

„Nee. Seh ich nich’, dein’ Berg“, sagte Mira nach einem Blick in den Hof.

Ich habe ihr dann von ihm erzählt. Wie er damals im Flugzeug erschien und ich fürchtete, die Maschine könne das Gewicht nicht tragen. Wir Passagiere, die Stewardessen, die Sitze und die kleinen, ovalen Fenster schimmerten genauso durch den Damâwand, wie es jetzt der Efeu und die Vorderhausfassade taten, während unter uns, still und unbeachtet, mein Teheran verschwand.

Ich habe Mira auch erzählt, wie der Berg dann in Berlin in der Schule auftauchte. Im Sportunterricht bei Herrn Kachler und beim Putzen in Frau Malikowskis Wohnung. Eigentlich immer wieder irgendwo. „Und, na ja, jetzt ist er im Hof. Diesmal schon ziemlich lang’. Ich glaub’, fast zwei Wochen.“

Mira schwieg. Dann schwang sie die Beine über das Fensterbrett, holte sich eine Dose Bier aus unserer neuesten Anschaffung, dem Kühlschrank, der unser ganzer Stolz war, weil er nichts gekostet hatte und jederzeit kühles Pils garantierte, und setzte sich wieder neben mich. Ein Zischen flitzte durch die Küche, als sie mit geübtem Druck die Aluminiumlasche versenkte. Wie jedes Bier, trank Mira auch dieses genießerisch in Ruhe und voller Anerkennung. Schließlich betrachtete sie eine Weile lang aufmerksam den Hinterhof.

„Seh’ ihn noch immer nich’, dein’ Berg“, sagte sie und schlenkerte mit den Beinen.

Ich nickte, und wir schwiegen wieder. Nach einer Weile zeigte Mira auf die Silhouette von Herrn Börne, die sich gegenüber auf der Milchglasscheibe seiner Küche abzeichnete. Er hatte sie dort eingebaut, weil er wusste, dass Mira und ich, wenn wir nicht unten auf dem Treppchen saßen, hier oben herumlungerten und in seine Küche schauten. Die aber zierte neuerdings eine Kastendusche. Offenbar gingen Herrn Börne die dadurch entstandenen Aussichten zu weit, und so hatte er mit Hilfe der undurchsichtigen Scheibe unseren optischen Radius auf ein annehmbares Maß zurückgeschraubt. Mira zeigte mit der Dose auf Herrn Börnes durchscheinenden Glasschatten, sagte, dass der sie an Max erinnere, und begann damit eine neue Geschichte.

Herrn Börnes Schatten vor Augen, gebe ich die Suche nach Zigaretten auf und ziehe die Hand aus der Tasche. Neben mir scharrt etwas auf dem Pflaster. Bei meinem Fahrrad steht ein Esel.

So weit ist der Berg noch nie gegangen. Konzentriert atme ich aus und ein und aus und bemerke erleichtert, dass der kleine Junge, der auf dem Tier sitzt, blond und außerdem in Begleitung eines bunt gekleideten, gut genährten Herrn ist, den eine vielzipflige, glöckchenbekränzte Mütze schmückt. Er schwenkt ein klapperndes Töpfchen mit Münzen hin und her. Das Trio sammelt Spenden für einen Zirkus, der in Schöneberg gastiert. Ich brauche mein Geld selber, schüttle den Kopf und finde, dass das Kind dringend ins Bett muss. Die Überlegung beschert dem unbekannten Mann einen vorwurfsvollen Blick, den er nicht versteht. Der Esel schnaubt leise, und ich könnte wetten, dass er mich angrinst, als er so zu mir hochblickt. In Gedanken sage ich zum ihm, dass ich auch endlich nach Hause muss.

You have finished the free preview. Would you like to read more?