Theologie im Kontext des Ersten Weltkrieges

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Theologie im Kontext des Ersten Weltkrieges
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Lea Herberg

Sebastian Holzbrecher

Herausgeber

Theologie im Kontext

des Ersten Weltkriegs

erfurter theologische schriften

im Auftrag

der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt

herausgegeben

von Josef Römelt und Josef Pilvousek

band 49


Lea Herberg

Sebastian Holzbrecher

Herausgeber

Theologie im Kontext des Ersten Weltkriegs

Aufbrüche und Gefährdungen

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag, Würzburg

ISBN

978-3-429-03950-9 (Print)

978-3-429-04858-7 (PDF)

978-3-429-06277-4 (ePub)

www.echter-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

DIE KATHOLIKEN UND DER ERSTE WELTKRIEG.

Legitimationen – Argumente – Rechtfertigungen

Dominik Burkard

1914 UND 1917/18. EVANGELISCHE KIRCHE UND THEOLO-GIE IM ERSTEN WELTKRIEG.

Zwischen Rausch und Realität

Peter Cornehl

ERSTER WELTKRIEG UND ORTHODOXE THEOLOGIE.

Renaissance und Neuorientierung im Pariser Exil

Sebastian Rimestad

KRIEG GEGEN DIE GLAUBENSBRÜDER.

Die Nationalisierung der Religion im Spiegel der Theologie

Thomas Ruster

HINGABE UND HELDENTUM.

Liturgische Frömmigkeit und der Erste Weltkrieg bei Odo Casel

Lea Herberg

DER GROSSE KRIEG UND DIE VON LÉON G. DEHON

GEGRÜNDETE KONGREGATION DER

HERZ-JESU-PRIESTER

David Neuhold

KIRCHE AUS DER KRISE.

Die Ekklesiologie Karl Adams als prekäres Modernisierungsphänomen

Christian Stoll

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort der Herausgeber

Der Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die christliche Theologie und ihrem Anteil an der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ widmete sich das Theologische Forschungskolleg der Universität Erfurt im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung 2014 anlässlich des Kriegsbeginns vor 100 Jahren. Selbstvergewisserung, Integrationswille und die Auseinandersetzung wie auch Zugehörigkeit zu einer sich modernisierenden Gesellschaft prägen zahlreiche herausragende Beiträge der Zwischenkriegszeit zur Theologie des 20. Jahrhunderts. In welchem Zusammenhang stehen sie mit dem Ersten Weltkrieg? Wie trugen Theologien und Kirchen zu den kulturellen, die entstehende Demokratie belastenden Begleiterscheinungen des Krieges bei?

Die ersten drei Beiträge des Tagungsbandes eröffnen ein Panorama auf die katholische, evangelische und orthodoxe Theologie im Ersten Weltkrieg. Vier weitere Aufsätze fokussieren darauf, wie sich der Erste Weltkrieg in der katholischen Theologie niederschlug und welche Prämissen die überwiegende Rechtfertigung, ja religiöse Stilisierung des Krieges bedingten. Dabei wird deutlich, wie nah der weiterführende Ertrag einer theologischen Selbstvergewisserung angesichts der Erschütterungen durch den Zusammenbruch der Monarchie und durch den Weltkrieg einerseits und die ideologische Gefährdung der Theologie andererseits bei einander liegen.

Dominik Burkard fragt nach der Haltung der deutschen Katholiken zum Ersten Weltkrieg. Er fokussiert vor allem auf Faktoren katholischer Kriegsbejahung und kann so innerhalb des Katholizismus eine Pluralität von Haltungen zum Ersten Weltkrieg darstellen. – Peter Cornehl nimmt die Zäsur 1917 in ihrer Bedeutung für die evangelische Kirche und Theologie in den Blick. Eine Gruppe aus dem liberalen Lager und aus dem Kreis der Religiösen Sozialisten reagierte auf die im Kriegsverlauf inzwischen eingetretene Ernüchterung durch Einsatz für einen „Verständigungsfrieden“, u.a. in den verbreiteten und für das liberale Spektrum meinungsbildenden Zeitschriften Die Christliche Welt sowie Evangelische Freiheit. – Sebastian Rimestad wendet sich den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die orthodoxe Theologie zu. Hier hatte die Abdankung des Zaren theologische Reformströmungen zunächst ermutigt, bis die russische Revolution schon bald zahlreiche Intellektuelle in die Diaspora trieb. In Paris kam es zur Wiederbelebung einer freien orthodoxen theologischen Tradition, deren verschiedene Facetten Rimestad beleuchtet. – Thomas Ruster fragt, wie die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils über den sensus fidei der Gesamtheit der Gläubigen (LG 12) angesichts des historischen Bestands zu verstehen ist, dass die katholische Kirche Deutschlands sich im Ersten Weltkrieg nicht gegen die Logik des Krieges behauptet hat. Vielmehr hat sie sich, so Ruster in systemtheoretischer Analyse, dem nationalen und militärischen System untergeordnet und war so nicht mehr als Kirche Jesu Christi zu erkennen. Ausgehend von Quellenmaterial aus den Zeitschriften Hochland und Stimmen der Zeit stellt Ruster dar, wie das Zweistockwerks-Modell von Natur und Gnade die theologische Rechtfertigung des Kriegs bedingte und eine fundamentale Kritik am Weltkrieg verunmöglichte. – Lea Herberg zeigt in ihrem Beitrag, wie der Benediktiner Odo Casel den vom Ersten Weltkrieg geprägten Geschlechterdiskurs der Zeit mit seiner Vorstellung einer erneuerten liturgischen Frömmigkeit verband. Mit einem heldischen Männerwie auch Christusbild und einem von Opferbereitschaft geprägten Frauenwie auch Marienbild konstruierte Casel ein Modell von vermeintlich vollkommener Gemeinschaft, welches er mit einer erneuerten Ekklesiologie und einer typologischen Mariologie verknüpfte. Am Beispiel Casels lassen sich die Interdependenz zwischen der Theologie der Liturgischen Bewegung und außertheologischem Denken der Zwischenkriegszeit sowie die Notwendigkeit einer kontextuellen Perspektive auf die Liturgiewissenschaft im frühen 20. Jahrhundert erweisen. – Die Kriegswahrnehmung des französischen Priesters Léon G. Dehon und der von ihm gegründeten Herz-Jesu-Kongregation untersucht David Neuhold auf Basis von dessen „Täglichen Notizen“ aus dem Krieg. Wie viele Katholiken gehen Dehon und andere Mitglieder der Herz-Jesu-Kongregation von einer theologischen Deutung des Krieges als Strafe, Buße und Sühneleistung aus und stehen zugleich unter Druck, den Vorwürfen der patriotischen Illoyalität zu entgehen. Neuhold bezieht die kulturhistorische Frage nach der Wahrnehmung des Krieges hier auf eine übernationale Gemeinschaft, deren Mitglieder auf verschiedenen Seiten am Kriegsgeschehen beteiligt sind, und fragt zugleich nach den Auswirkungen des Krieges auf die Entwicklung der Kongregation. – Christian Stoll wendet sich den Umbrüchen der Zwischenkriegszeit in der katholischen Dogmatik zu und lenkt vom Beispiel Karl Adams aus den Blick auf die Motivlagen der theologischen Erneuerung. Die kritische Würdigung der Ekklesiologie Karl Adams als „prekäres Modernisierungsphänomen“ will zum Aufweis von Ambivalenzen und Gefahren im katholischen Modernisierungsprozess der Zwischenkriegszeit beitragen.

Wir danken den Herausgebern der Erfurter Theologischen Schriften Prof. Dr. Josef Römelt und Prof. Dr. Josef Pilvousek für die Aufnahme in die Reihe. Für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen danken wir herzlich dem Bistum Erfurt, dem Katholischen Militärbischofsamt für die Deutsche Bundeswehr sowie der Pax-Bank Erfurt.


Lea Herberg und Sebastian HolzbrecherErfurt im Januar 2016

DIE KATHOLIKEN UND DER ERSTE WELTKRIEG.

Legitimationen – Argumente – Rechtfertigungen

Dominik Burkard

Die Bilder von begeistert in den Ersten Weltkrieg ziehenden Soldaten sind uns aus Schul- und Geschichtsbüchern vertraut. In unserem Gedächtnis haben sie sich zu jener merkwürdigen Gewissheit verfestigt, die Ankündigung des Krieges habe 1914 zu einer Euphorisierung der deutschen Gesellschaft – natürlich nicht nur der deutschen, aber auch und gerade der deutschen Gesellschaft – geführt, zu einer patriotischen Trunkenheit, einem patriotischen Taumel, vielleicht gar zu einem „nationalistischen Suff“, dem „man“ sich nicht entziehen konnte, und zwar quer durch alle Bevölkerungsschichten und gesellschaftlichen Milieus hindurch.

Auch wenn das „Augusterlebnis“ inzwischen durchaus differenzierter gesehen wird1, bleibt die Frage nach dem „Warum“, auf so provozierende Art gestellt in dem Klassiker Im Westen nichts Neues mit jenem absurden Dialog, den die Soldaten in einer Verschnaufpause während ihres Heimaturlaubs führen, und der nur aporetische Antworten gibt, die Lösung also schuldig bleibt.

Im Folgenden geht es nicht um die Vorgeschichte und die historischen Koordinaten, innerhalb derer sich dieser Krieg vollzog, und die uns – vielleicht nicht verstehen, aber nachvollziehen lassen, warum es zu diesem Krieg kam, obwohl es dazu nicht hätte kommen müssen. Ich möchte den Blick stattdessen stärker fokussieren. Die Perspektive, der Blick wird enger – und damit ein Detail (vielleicht) größer. Ich frage nach der Haltung der Katholiken in diesem und zu diesem Krieg2.

 

1. Vorüberlegungen

Zunächst einige Vorüberlegungen. Der Katholizismus war, so jedenfalls die seit etlichen Jahrzehnten vorherrschende Sicht, von der allgemeinen Kriegsstimmung, mit der wir uns beschäftigt haben, nicht ausgeschlossen. Das „Augusterlebnis“ ergriff die Katholiken ebenso wie die anderen Deutschen3. Dafür lassen sich tatsächlich viele Belege anführen. Ob man nun auf die zahllosen patriotischen Feiern sieht, die landauf, landab – auch in geschlossen katholischen Gebieten – initiiert und zelebriert wurden4, oder ob man in die öffentlichen Stellungnahmen, Hirtenbriefe und Kriegspredigten5 hineinliest: Überall treten einem ähnliche Bilder, ähnliche Reaktionen, auch ähnliche Begrifflichkeiten und Worthülsen entgegen6.

Ob diese nun bereits das Produkt einer allgemeinen, auch medialen und öffentlichkeitssteuernden „geistigen Mobilmachung“ waren, ob die genuine Eruption eines (mehr oder weniger stabilen) mentalen Bewusstseins7, oder ob nur Ausdruck eines spontanen Empfindens, sei einmal dahingestellt. An der Tatsache selbst ist kaum zu rütteln. Selbst in den Ausbildungsstätten des Klerus, in den Priesterseminaren, wurden derart patriotische Reden (wie etwa durch den „Pauker“, mit dem „Im Westen nichts Neues“ beginnt) gehalten, wurden entsprechende Lieder gesungen, wurde – von geistlichen Vorgesetzten – zum freiwilligen Dienst an der Waffe aufgerufen8. Tausende von Theologiestudenten wurden eingezogen, von ihnen meldeten sich tatsächlich etwa 500 freiwillig zum Kriegsdienst (insgesamt waren es wohl bedeutend mehr, die aber zurückgewiesen wurden). Sie übten ihr Kriegshandwerk aus – ob mit innerer Verve, wer weiß es, jedenfalls durchaus mit Erfolg. Bis 1916 waren immerhin ca. 150 Theologiestudenten zu Offizieren befördert worden9. Also: von mentalen oder gar religiösen Vorbehalten der Katholiken gegen den Krieg ist wenig bis nichts sichtbar.

Auch die Katholiken ließen sich – so hat schon 1971 Karl Hammer resümierend festgestellt – im Sommer und Herbst 1914 „in einen Taumel des Nationalismus fallen“, der „dem der übrigen Deutschen in nichts nachstand“10. Der Unterschied habe, so es ihn denn überhaupt gab, allenfalls in der Nuance gelegen.

Wäre es tatsächlich so einfach, könnte man unser Thema getrost ad acta legen. Stattdessen aber enthält der mir zugedachte Vortrag ja implizit bereits eine vorgefasste These, die freilich zu hinterfragen ist. Die These nämlich, die Katholiken hätten in ihrem Verhältnis zum Krieg eben doch eine Sonderrolle eingenommen, seien mit den übrigen Deutschen also nicht in einen Topf zu werfen.

Für eine derartige Ausgangsthese sind nun doch sehr konträre Beweggründe denkbar. Vereinfachend gesagt: Der These von der andersgearteten Haltung der Katholiken in der Kriegsfrage könnte eine kritische, vielleicht gar eine katholikenfeindliche Einstellung zugrunde liegen, ähnlich jener, wie sie nach dem Weltkrieg laut wurde, eine Art „Dolchstoßlegende“ also, der Vorwurf, die Haltung der Katholiken im Ersten Weltkrieg sei nicht aufrichtig und echt, im Grunde nicht national gewesen. Der exponierte Zentrumspolitiker und Katholik Matthias Erzberger (1875–1921) wurde aufgrund (auch) dieser Anklage, nämlich Deutschland verraten zu haben, Opfer einer medialen Kampagne und eines damit motivierten Attentats11. Der Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit und des Vaterlandsverrats wurde nicht erst nach dem Krieg, sondern bereits in diesem vielfach erhoben und mit angeblichen Beweisen oder Indizien untermauert12.

Für die Ausgangsthese von der Andersartigkeit der katholischen Haltung zum Krieg ist aber auch eine apologetische Motivation denkbar. Etwa nach dem Muster: Im Katholizismus sei die Kriegsbegeisterung aus inneren, religiösen und weltanschaulichen Gründen weitaus verhaltener gewesen als in anderen gesellschaftlichen Gruppen. Der Nationalismus und Militarismus, aus denen sich der Weltkrieg speiste, sei nicht die eigene Überzeugung, sondern (und zwar schon längst vor 1914) die „Religion“ der anderen gewesen, Ausdruck einer germanisierten Gottesvorstellung liberaler Protestanten à la Adolph Harnack (1851– 1930), und säkularisierter Gesellschaftsschichten. Den Katholiken habe nur eine sekundäre, gewissermaßen akzidentielle „Verpflichtung der Nation gegenüber“ geeignet. Das ist eine Position, die – wenn ich das recht sehe – von der jüngeren Forschung stärker in den Vordergrund gehoben wird. Tatsächlich wird man allerdings fragen müssen, wer mit „den Katholiken“ denn überhaupt gemeint ist. Der Episkopat13, die Zentrumspartei als politischer Arm der Kirche14, die katholischen Vereine und Verbände, katholische Intellektuelle15, der Klerus, die Gläubigen, nicht zuletzt der Hl. Stuhl? – Sie alle sind keineswegs als Einheitskatholizismus homogener Überzeugungen anzusehen. Im Blick gerade auf den Hl. Stuhl und die anhaltenden Friedensinitiativen Benedikts XV. (1914–1922) wäre das näher aufzuzeigen16.

Bereits diese ersten Vorüberlegungen dürften andeuten, dass wir es mit einem durchaus komplexen Thema zu tun haben. Und dass die naheliegende Antwort: Die deutschen Katholiken hätten sich im Krieg einfach wie alle Deutschen verhalten, weder links noch rechts zu befriedigen scheint.

Bei der – zunächst einmal rein hypothetischen – Suche nach Motiven der Katholiken nach Motiven für den Krieg scheinen mir folgende denkbar:

1. Ein instinktives, naturalistisches, vielleicht auch naturrechtlich hinterlegtes, verteidigungspolitisches Motiv: Nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit der Verteidigung, im Falle der Deutschen einer „Vorwärtsverteidigung“ angesichts einer – vielleicht weniger tatsächlich als doch „gefühlt“ – zunehmenden Aggressivität von außen; es gab offenbar ein psychologisches „Eingekreist-Sein“.

2. Damit eng verbunden ist ein Motiv, das man vielleicht als außenpolitisches bezeichnen könnte: Die Verteidigung des Landes gegen revolutionäre, die bestehende Ordnung gefährdende und Angst machende Aggressionen panslavistischer Art.

3. Ein nationalpolitisches, vielleicht auch nationalistisches Motiv, das seinen eigentlichen Grund in einer sehr weitgehenden oder gar totalen Identifikation mit der Nation hat, die Nation also in der Wertehierarchie weit oben eingruppiert, also gewissermaßen zur „Religion“ erhebt, die unbedingten Einsatz verlangt.

Diese drei bisher genannten Motive sind – dies möchte ich festhalten – keine konfessionsspezifischen Motive, möglicherweise aber Motive, zu denen die verschiedenen Konfessionen durchaus unterschiedliche Affinitäten entwickeln konnten.

Daneben scheinen mir aber zumindest noch zwei weitere Motive nicht nur denkbar, sondern auch belastbar, die einen klaren katholizismusspezifischen Bezug aufweisen. Da wäre zum einen

4. ein allgemeines, innen- und kulturpolitisches Motiv: Die Katholiken konnten, nach dem Ende der deutschen Kulturkämpfe der 1870er und 1880er Jahre, zufrieden sein mit dem nach der Jahrhundertwende erreichten Status quo. Sie waren, nach einem langen, steinigen Weg, im freilich noch immer protestantisch dominierten Kaiserreich „angekommen“. Diese nach vielen Jahrzehnten endlich vollzogene nationale Integration sollte nicht gefährdet werden, um dem alten Vorwurf, Katholiken seien keine wahren Deutschen, keine neue Nahrung zu geben17. Im Gegenteil, man hegte angesichts der „Blutopfer“ berechtigte Hoffnungen bzw. Ansprüche auf Gewährung vollständiger Parität18. – Und schließlich

5. ein Motiv, das ich als ein religionspolitisches bezeichnen möchte: Gemeint ist der klare, nicht nur bekenntnismäßige sondern auch getätigte Schulterschluss des protestantisch dominierten Deutschland mit dem katholischen Österreich. Seit dem 19. Jahrhundert gehörte die Wiedervereinigung mit Österreich, und damit die Überwindung des kleindeutsch-protestantischen Deutschen Reiches, zu den Visionen und Hoffnungen der deutschen Katholiken. Dieses Ziel schien nach wie vor erstrebenswert19. Den katholischen Österreichern zu Hilfe zu kommen und eine mentale Allianz zwischen Österreich und Deutschland zu schmieden, musste im Interesse des Katholizismus liegen.

Neben den möglichen Motiven der Katholiken für eine Bejahung des Krieges gibt es jedoch auch mögliche Motive der Ablehnung:

1. Ein entweder generell ethisch, vielleicht aber auch religiös-christlich begründetes Motiv ist eine dezidiert pazifistische Grundeinstellung. Dazu ist zu sagen, dass die Ausbildung eines solchen Bewusstseins in den Jahren vor 1914 alles andere als eine Selbstverständlichkeit war20, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich von der christlichen und auch katholischen Staatslehre her keineswegs nahelegte, vielmehr völlig quer dazu stand. Es war eine Position, die sich der einzelne vielleicht mühsam aneignen konnte, die aber nicht im Mainstream der Zeit und auch nicht im Verkündigungs- und Bekenntnismainstream des Katholizismus lag, obwohl Pius X. (1903–1914) die internationalen Friedensgesellschaften gefördert hatte21.

2. Ein Motiv, das man vielleicht als konfessionspolitisch oder gar religiös bezeichnen könnte, das dann aber nur für einen Teil des 1914 ausbrechenden Krieges Geltung beanspruchen dürfte, wäre die Maxime, katholische Glaubensbrüder (wie sie auf belgischer und französischer Seite standen) nicht mit kriegerischen Mitteln zu bekämpfen, und das hieß: Glaubensbrüder nicht zu töten. Aus der Perspektive eines – wie es für den deutschen Katholizismus ja absolut zutrifft – lange eingeübten mentalen Ultramontanismus, der gerade sehr pointiert die nationalen Grenzen überschritt und nicht nur die Religion, sondern die Konfessionszugehörigkeit zum höchsten Maß aller Dinge machte, war dies keineswegs eine abwegige sondern eine durchaus evidente Position.

Eine letzte Überlegung: Muss nicht davon ausgegangen werden, dass die Haltung der Katholiken (wie auch anderer Sozialmilieus) zum Krieg, und damit auch die Motivationen, einem Wandel unterworfen waren? Je nach Lage und Stand des Krieges, je nach kollektiver oder individueller Erfahrung, dürften sich Modifikationen oder gar „Wenden“ ergeben haben22. Ich meine damit nicht nur, dass Kriegsglück oder Kriegspech die Stimmung der Akteure und der Erleidenden beeinflussten, dass es etwa im Sieg eine größere Bereitschaft zum Krieg gab, während sich in depressiven Kriegsphasen durchaus kritischdistanzierte Haltungen ausbildeten. Es war sicher auch nicht dasselbe, ob man gegen den Balkan oder Russland, oder gegen die belgischen Nachbarn kämpfte. Frankreich war ohnedies noch einmal ein Sonderfall: Da gab es die (mal traumatischen, mal freudigen) Erinnerungen an vergangene Kriege (nicht nur 1871, sondern auch 1618–1648 und Napoleon), da war das Bewusstsein, gegen Katholiken vorzugehen, aber gegen Katholiken eines Staates, der sich spätestens im zurückliegenden Jahrzehnt von der Religion verabschiedet und einen durchaus kirchenfeindlichen Laizismus ausgebildet hatte.

2. Ungünstige Voraussetzungen? Der lange Weg der Katholiken ins Reich

Ich beginne meinen zweiten Gedankenschritt mit einem zeitgenössischen Zitat:

„Die Frage, wie sich der Deutsche Kaiser als oberstes Organ des Reiches zum Problem des Verhältnisses der verschiedenen Konfessionen im paritätischen Staate tatsächlich gestellt hat, betrifft nicht so sehr den Schöpfer des Reiches, Kaiser Wilhelm I., als vielmehr dessen zweiten Nachfolger. […] Der gegenwärtig regierende deutsche Kaiser ist für seine Person ein gläubiger Protestant. Tief durchdrungen von dem Glauben an einen persönlichen Gott, voller Bekenntnisfreude zu Christus, betrachtet er seine Herrscheraufgabe als ein ihm von Gott anvertrautes Amt und Gut, für dessen gerechte Verwahrung er dereinst Rechenschaft abzulegen habe. […] Aus diesem Glauben schöpft der Kaiser das Bewusstsein seiner Pflicht und zugleich mit der Überzeugung die Mission, die er auf Erden zu erfüllen hat, das demütige Vertrauen auf Gottes Vorsehung. Das Wort Gottes ist ihm dabei ein untrüglicher Leitstern. […] Aus seinen zahlreichen Ansprachen an die Truppen des Landheeres und der Marine sei hier nur ein Ausspruch Wilhelms II. angeführt: ‚Ebenso wie die Krone ohne Altar und Kruzifix nichts ist, ebenso ist das Heer ohne die christliche Religion nichts‘ (12. November 1896). Dieses offene Bekenntnis des Kaisers hat im christlichen deutschen Volke jederzeit freudigen und begeisterten Widerhall gefunden. Wiederholt haben auch die geistlichen Oberhirten des katholischen Volksteils dem Kaiser wärmsten Dank dafür ausgesprochen. […] In seiner Stellung als König von Preußen, dessen Kernlande schon im Zeitalter der Reformation zum protestantischen Glauben übertraten, betrachtet der Kaiser sich wohl im besondern als Schirmherrn der evangelischen Kirche und als Hüter der Glaubensgüter der Reformation. […] Es hat den Kaiser [aber] nicht gehindert, bei zahlreichen Anlässen seiner toleranten, achtungsvollen und aufrichtig friedfertigen Gesinnung gegen seine katholischen Untertanen in bestimmter Weise Ausdruck zu verleihen“23.

 

Kaiser Wilhelm II. – durch seine religiöse Glaubwürdigkeit und Toleranz die zentrale Autorität – weil Integrationsfigur aller Deutschen? Tatsächlich dürfte diese Einschätzung des katholischen Journalisten und Schriftstellers Karl Hoeber (1867–1942) mitten im Ersten Weltkrieg einer der wichtigsten Faktoren gewesen sein, die es auch den Katholiken 1914 leicht machten, ihm in jenen Krieg zu folgen, der zum Ersten Weltkrieg werden sollte. Zwar wurde der Kaiser schon zu Beginn des Krieges politisch zur Randfigur degradiert. Aber propagandistisch stand er noch lange im Vordergrund. Und es erstaunt nicht, dass von katholischer Seite auch ausdrücklich auf Wilhelm II. rekurriert wurde, etwa, wenn der Jesuit Bernhard Duhr (1852–1930) in einer Predigt über den „echten Soldatengeist“ ausführte:

„Unser Kaiser will fromme Soldaten: Im Jahre 1910 sagte er in weihevoller Stunde zu seinen jungen Gardisten: ‚Vergeßt euren Gott nicht, denn durch den Segen des Allerhöchsten wird euch der Dienst leicht und lernt ihr schwere Stunden überstehen. Scheut euch auch des Gebetes nicht, das einst eure Mutter euch gelehrt hat, denn ich will Soldaten haben, die ihr Vaterunser beten’“24.

Zweifellos war der Kaiser als Integrationsfigur wichtig, gerade für die Katholiken, die aus ihrer geschichtlichen Erfahrung mit dem preußischen Militarismus eigentlich nichts anfangen konnten.

Dass die Katholiken sich 1914 so geschmeidig mit dem Krieg arrangierten, war, zumal angesichts der zurückliegenden jüngeren Geschichte, alles andere als selbstverständlich. Hatten sie doch einen vom Protestantismus deutlich verschiedenen Weg durch das 19. Jahrhundert zurückgelegt, auch eine durchaus grundlegend differierende Ansicht über „Religion“ und „Nation“ adaptiert.

Nur zur Erinnerung: Der erste große „Bruch“ der deutschen Katholiken mit der „Nation“ hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts stattgefunden: Der Untergang der kirchlichen Territorialherrschaften, die „Enteignung“ der Kirche, ihre politische und gesellschaftliche Marginalisierung, im Übrigen auch der Verlust religiöser Heimat durch eine veränderte Landkarte und eine übergestülpte Religionspolitik, machten die Katholiken in den damals entstehenden deutschen Flächenstaaten fast vollständig protestantischer Prägung zu Bürgern zweiter Klasse. Die jahrzehntelangen Emanzipationsbemühungen, das Ringen um kirchliche Freiheit und bürgerliche Gleichstellung, erlebten trotz mancher Erfolge herbe Rückschläge.

Der deutsche „Bruderkrieg“ mit dem Sieg Preußens, das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund und die Reichsgründung von 1871 zementierten die inferiore Stellung der deutschen Katholiken. Im evangelisch geprägten preußisch-deutschen Reich stellten die Katholiken nur ein gutes Drittel der Bevölkerung und waren also schon zahlenmäßig in der Minderheit. Dazu kam ihr materielles Zurückbleiben. Auch im Hinblick auf soziale und berufliche Aufstiegschancen konnte von einer konfessionellen Gleichheit keine Rede sein. Es bestanden gesellschaftliche Barrieren und Regulative, die Katholiken bewusst etwa vom höheren Militärdienst sowie vom Staatsdienst fernhielten. Das infolge der Säkularisation entstandene katholische Bildungsdefizit25 verhinderte außerdem ein Eindringen in die akademischen Berufe26.

Dazu kamen innere Faktoren, die den Katholizismus ins Ghetto führten: Zum einen die antimoderne Ausrichtung der Kirche während des langen Pontifikats Pius‘ IX (1846–1878). Bereits der Syllabus von 1864 wurde als „Fehdehandschuh an den modernen Staat und die moderne Gesellschaft“ gedeutet. Vollends desavouierte das 1. Vatikanische Konzil die Katholiken in den Augen protestantischer, liberaler und sozialistischer Kreise. Hier sprach man von einer offenen Kriegserklärung des Papstes an den neuzeitlichen Staat, die es Katholiken schwer, wenn nicht sogar unmöglich mache, in einer Demokratie oder parlamentarischen Monarchie als loyale Staatsbürger zu leben. Die Katholiken standen in den Augen der protestantischen Bevölkerungsmehrheit unter dem Kommando einer ausländischen Macht, sie waren „national unzuverlässig“.

Ihre Krönung fand diese Entwicklung in den kurz darauf fast flächendeckend ausbrechenden „Kulturkämpfen“, die die Gegensätze zwischen Staat und Kirche bewusst verschärften. Mithin lässt sich darin ein gesamteuropäischer Weltanschauungskampf sehen, in dem sich die modernen Nationalstaaten und der restaurative Katholizismus – beide mit absolutistischem Anspruch – gegenüberstanden. Eine spezifische Ausprägung erhielt der Kulturkampf in Preußen. Er wurde hier zur Auseinandersetzung zwischen dem Kulturprotestantismus (als ethische Grundlage Preußen-Deutschlands) im Sinne eines „weltlichen“ Christentums und einer sich als societas perfecta verstehenden katholischen Kirche.

Gleichwohl erlebte der Katholizismus in diesen Kulturkämpfen, die die Kirche mitunter an den Rand des Abgrunds brachten27, eine ungeahnte Stärkung. Bismarck scheiterte. Erst nachdem er die Fehler seiner Kulturkampfpolitik eingesehen hatte und in Leo XIII. (1878–1903) ein moderater Papst mit politischem Weitblick an die Spitze der Kirche getreten war, konnte der schrittweise Abbau der Kulturkampfgesetzgebung erfolgen.

Die in der Not neu gewonnene innere Stärke des Katholizismus machte den Weg frei für das Heraustreten der Katholiken aus dem Ghetto, ihre Integration ins Kaiserreich und ihre Identifikation mit dem neuen Deutschland28. Die Kranzniederlegung der Zentrumspartei am Grabe 1898 war ein äußeres Zeichen der Bejahung des Reichsgründers und seines Reiches. Kaiser Wilhelm II. bekundete im selben Jahr den Katholiken sein Wohlwollen, als er anlässlich seiner Palästinafahrt dem Deutschen Verein vom Heiligen Lande das Grundstück der Dormitio zur freien Nutznießung überließ29. Wiederholt besuchte der Kaiser die Benediktinerklöster von Maria Laach, Beuron und Monte Cassino. Die Steyler Mission in Südchina stellte er unter das Protektorat des Reiches. Und 1907 betonte er: „Wie Ich keinen Unterschied mache zwischen alten und neuen Landesteilen, so mache Ich auch keinen Unterschied zwischen Untertanen katholischer und protestantischer Konfession. Stehen sie doch beide auf dem Boden des Christentums, und beide sind bestrebt, treue Bürger und gehorsame Untertanen zu sein. Meinem landesväterlichen Herzen stehen alle Meine Landeskinder gleich nahe“30.

So mehrten sich im intellektuellen Katholizismus die Stimmen, die einen stärkeren Anschluss an die Zeit, einen „zeitgemäßen“ Katholizismus forderten. Wie ein Fanal wirkten in dieser Hinsicht die Bücher Der Katholicismus als Princip des Fortschritts (1897) des Würz burger Theologen Herman Schell oder Katholisches Christentum und moderne Kultur (1906) des früheren Würzburger Kirchenhistorikers Albert Ehrhard (1862–1940). Doch wurden diese Regungen innerhalb der Kirche durch den intransigenten Pius X. und dessen Entourage niedergerungen. Der „Antimodernismus“31 der Jahre nach 1907 wurde zum Desaster, weil er die Kirche innerlich spaltete, nach außen hin aber schwächte. Wieder wurden die Katholiken demonstrativ ans römische Gängelband genommen, in Deutschland aber als antimodern und gesellschaftsfeindlich wahrgenommen, und so in die Defensive gedrängt. Damit war am Vorabend des Ersten Weltkriegs plötzlich das alte „Kulturkampftrauma“, das Gefühl der Minderwertigkeit – trotz zunehmend gelingender Integration ins kleindeutsche Reich – wieder sehr präsent32.

Es ist verständlich, dass vor diesem Hintergrund die Reaktion der deutschen Katholiken auf den Ausbruch des Krieges nur eine positive, vielleicht sogar eine überzogen positive sein konnte. Der Zeitpunkt schien gekommen, die eigene politische Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen, zu zeigen, dass alles böse Gerede von gestern – die nationale Unzuverlässigkeit der Katholiken, ihre mangelhafte Identifikation mit dem Deutschen Reich – Lüge war. Jetzt schien die Chance greifbar nahe, nicht mehr „Bürger zweiter Klasse“ zu bleiben, sondern die Vollbürgerschaft zu erlangen. Des Kaisers Zusage beim Kriegsausbruch, dass die Reichsleitung von nun an „keine Parteien“ mehr kenne, sondern nur noch Deutsche, nährte denn auch diese Hoffnung und führte bei der Zentrumspartei zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen33.