Standardsprache zwischen Norm und Praxis

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Deutsch in Ostbelgien – ostbelgisches Deutsch?

Robert Möller

1 Einleitung

2 Deutsch in Ostbelgien

3 Die Position des Deutschen in Belgien heute

4 „Das“ ostbelgische Deutsch – Besonderheiten des Deutschen in Ostbelgien

5 Loyalität gegenüber den belgischen Varianten

6 Zur Bewertung der ostbelgischen Varianten

7 Zusammenfassung

8 Literatur

1. Einleitung

Deutsch ist in Belgien die Sprache einer kleinen Minderheit, die Zahl der Sprecher in dem offiziell deutschsprachigen Landesteil liegt bei ca. 70000,1 das sind ca. 0,6 % der belgischen Bevölkerung. Aufgrund der in den vergangenen Jahrzehnten ständig gewachsenen Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist das Deutsche als Sprache der informellen wie formellen Kommunikation hier jedoch nicht im Geringsten gefährdet. Für die Identität der heutigen Ostbelgier spielen sowohl die deutsche Sprache als auch die belgische Nationalität eine wichtige Rolle, die meisten identifizieren sich klar mit einer durch beides zusammen definierten Heimat.2 Differenzierter zu betrachten ist jedoch die Frage, wie weit das belgische (Standard-)Deutsch sich durch die knapp hundertjährige politische Trennung des Gebiets von Deutschland zu einem besonderen ostbelgischen (Standard-)Deutsch entwickelt hat.

Ammon (1995: 96, s.a. Ammon et al. 2004: XXXI) stuft Belgien als „Halbzentrum“ ein, „halb“ wegen des Fehlens einer eigenen Kodifizierung, „Zentrum“ wegen der nationalen Eigenständigkeit. Will man nun nicht automatisch bei nationaler Eigenständigkeit (im Fall Ostbelgiens nicht im Sinn einer Eigenständigkeit des ganzen Gebiets, sondern einer Unabhängigkeit von anderen deutschsprachigen Ländern) immer von einem eigenen sprachlichen Zentrum ausgehen, ist zu prüfen, ob hier tatsächlich vorgefunden werden kann, was durch nationale Eigenständigkeit unzweifelhaft begünstigt wird: die Entwicklung einer spezifischen Varietät, etwa infolge eines vorwiegend im nationalen Rahmen stattfindenden Ausgleichs bei Neuerungen, einer Orientierung an nationalen Medien und Institutionen, einer bestimmten Sprachpolitik, einem an politischen Grenzen orientierten Umriss des „eigenen“ Sprachraums auf der mental map der Sprecher und entsprechender (Nicht-)Bereitschaft zur Übernahme von Neuem, einer spezifischen Sprachkontaktsituation o.ä. In den letzten Jahren sind jedenfalls Bemühungen um eine Bestandsaufnahme der eigenen Varianten und – in begrenztem Rahmen – auch Ansätze zu einer offiziellen Anerkennung spezifisch belgischer Ausdrücke zu beobachten.

2. Deutsch in Ostbelgien
2.1. Das deutschsprachige Gebiet

Das offiziell deutschsprachige Gebiet in Belgien (Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, oft abgekürzt als DG, häufig auch als Ostbelgien bezeichnet) bildet einen in der Mitte unterbrochenen Streifen im Osten des Landes, zwischen dem französischsprachigen Teil und Deutschland, der im Norden an die Niederlande grenzt und im Süden an Luxemburg. 90 % der Bewohner der Deutschsprachigen Gemeinschaft bezeichnen Deutsch als ihre Erstsprache (weitere 7 % Französisch), insofern handelt es sich um eine sprachlich weitgehend homogene Region (polis+sinus 2011: 13). Die meisten Bewohner sind jedoch mindestens zweisprachig, mit Französisch als Zweitsprache. 57 % der von polis+sinus Befragten charakterisierten die Deutschsprachige Gemeinschaft als eine mehrsprachige Region (polis+sinus 2011: 18f). In den letzten Jahrzehnten haben sich vor allem wegen der niedrigeren Immobilienpreise auch zahlreiche Deutsche hier angesiedelt. Nach der Umfrage von 2011 machten sie 18 % der DG-Bevölkerung aus, im Nordteil wegen der Nähe zu Aachen sogar 28 % (polis+sinus 2011: 1). Größter Ort der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist Eupen (ca. 19000 Einwohner), dort ist der Sitz der Regierung und des Parlaments der DG, des Rundfunks, der Tageszeitung und der Autonomen Hochschule der DG. Allerdings ist nicht das ganze Gebiet gleichermaßen auf Eupen als nächstgelegenes Zentrum hin orientiert, sondern nur die Nordhälfte, das „Eupener Land“. Die Südhälfte, von Ostbelgiern meistens als „Eifel“ bezeichnet, mit dem eigenen Zentrum St. Vith (knapp 10000 Einwohner), ist in verschiedener Hinsicht davon abgetrennt, in erster Linie verkehrstechnisch durch das fast unbesiedelte, jahrhundertelang unwegsame Hochmoorgebiet des Hohen Venns. Das Hohe Venn markiert aber auch einen historischen Gegensatz: Hier war die Grenze zwischen dem limburgischen und dem luxemburgischen Territorium, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das heutige Ostbelgien politisch teilte. Etwa hier verlaufen auch mehrere Isoglossen, die die nördlichen Dialekte deutlich von den südlichen unterscheiden – der Dialekt von Eupen ist südniederfränkisch, der von St. Vith moselfränkisch. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Teilen besteht schließlich nach wie vor darin, dass der Süden in erster Linie landwirtschaftlich und v.a. forstwirtschaftlich geprägt ist und abgelegen von den großen Verkehrsachsen, während der Norden stärker besiedelt und urbanisiert und stellenweise industrialisiert ist und von der Durchgangsstrecke Köln-Aachen-Brüssel/Paris durchquert wird.

Diese Zweiteilung der Deutschsprachigen Gemeinschaft reflektieren schon die genannten unterschiedlichen Fremd- und Eigenbezeichnungen („Eupener Land“ vs. „Eifel“), sie ist auch sprachlich deutlich wahrzunehmen (s.u.) und in spottenden bzw. distanzierenden Äußerungen und Stereotypen greifbar. Riehl (2001: 42) weist sogar auf zwei verschiedene Jugendkulturen hin, die sich geographisch verteilen: „eine ländlich orientierte, deutschsprachige Jugendkultur, die vor allem in der Eifel gepflegt wird, und eine städtisch-moderne, französischsprachige Jugendkultur“.

Die offizielle Deutschsprachige Gemeinschaft umfasst eigentlich nicht das gesamte belgische Gebiet, in dem germanische Dialekte gesprochen werden/wurden, die traditionell vom Gemeindeutschen als Schrift- und Kultursprache überdacht wurden: Dieses Gebiet reicht an mehreren Stellen noch weiter nach Westen (und Süden). Diese westlicheren Teile gehören jedoch schon seit der Staatsgründung 1830 zu Belgien (daher auch als „Altbelgien“ bezeichnet) und nicht erst, wie das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft („Neubelgien“), seit 1920. Da der Abbau der Dialekte auch in Altbelgien heute weit fortgeschritten ist und das Deutsche als überdachende Standardsprache hier eindeutig vom Französischen abgelöst worden ist, hängt es von der Perspektive ab, wie weit hier überhaupt noch von einer deutschsprachigen Minderheit die Rede sein kann1 – Deutsch als Standardsprache hat hier heute eigentlich nur noch eine etwas bevorzugte Position im Fremdsprachenunterricht. Diese Entwicklung hat mit der Praxis der belgischen Sprachen- und insbesondere Schulsprachenpolitik seit dem 19. Jahrhundert zu tun (vgl. z.B. Henkes 2012, Pabst 1979). Hintergrund dafür sind u.a. wiederum die geringe Sprecherzahl und auch die Diskussion um die Zuordnung der südniederfränkischen Ortsdialekte im Norden zum Deutschen oder zum Niederländischen (vgl. z.B. Henkes 2012: 6). Wesentlich hinzu kommt aber noch die politische bzw. patriotische Aufladung der Entscheidung zwischen Deutsch und Französisch vor allem durch den Ersten Weltkrieg, die eine bewusste Hinwendung der altbelgischen Bevölkerung zum Französischen mit sich brachte (während Neubelgien im Ersten Weltkrieg ja noch zum Deutschen Reich gehörte). Im Zweiten Weltkrieg kam es infolge der Annexion von Neubelgien und Teilen Altbelgiens durch Deutschland im altbelgischen Gebiet zu einer zweiten „romanisation patriotique“, die auch nach Kriegsende andauerte; nach dem Krieg wandten sich auch die Neubelgier teilweise bewusst dem Französischen zu (s. Pabst 1979: 30, Darquennes 2013: 345f.).

Ein besonderer Fall ist das altbelgische Gebiet um Arel/Arlon, das im Osten nicht an Deutschland, sondern an Luxemburg grenzt: Im Zuge des Ausbaus des Luxemburgischen zur Standardsprache ordnen die Dialektsprecher dieses Gebiets ihren Dialekt zunehmend dem Luxemburgischen zu (s. Darquennes 2013: 358 Anm. 4). Auch hier geht die Dialektkenntnis deutlich zurück, v.a. aus wirtschaftlichen Gründen gibt es aber ein neues Interesse am Erwerb des Luxemburgischen (ebd.: 358f.).

2.2. Geschichtliche Entwicklung

Das heutige Ostbelgien war nur von 1815 bis 1919 Teil eines (fast) rein deutschsprachigen Staats (zum Folgenden s. z.B. Pabst 1979); dass es jedoch heute eine eindeutig deutschsprachige Minderheit in Belgien gibt, geht vor allem auf diese Zeit zurück – zugespitzt: die Deutschsprachigkeit auf die Zugehörigkeit zu Preußen ab 1815 und die Minderheiten-Rolle auf die Abtrennung von Deutschland 1920. Vor der Angliederung an Frankreich 1794–1815 gehörte der Norden, das Eupener Land, zum Herzogtum Limburg, der Süden zum Herzogtum Luxemburg. Gesprochen wurden die jeweiligen Dialekte, als Schriftsprache wurde, nach der Ablösung der regionalen Schreibsprachen, im 17./18. Jh. im Eupener Land vorwiegend das Niederländische verwendet und nur im Süden die neuhochdeutsche Schriftsprache, daneben spielte in beiden Regionen auch das Französische eine Rolle. Auch im Norden war allerdings das (Hoch-)Deutsche Kirchen- und Schulsprache. Unter der französischen Herrschaft 1794–1815 wurde das gesamte Gebiet des heutigen Ostbelgien Teil des neuen Départements Ourthe, in dem als Verwaltungs- und Gerichtssprache nur noch Französisch anerkannt war (s. Ködel 2014: 162). Als Sprache in Kirche und Schule behielt das Neuhochdeutsche gleichwohl seine Position. Die endgültige Durchsetzung des Deutschen folgte dann auf die Angliederung (ungefähr) des Gebiets der heutigen DG an Preußen, im Wiener Kongress 1815. Hier kommt auch zum Tragen, dass die gut 100jährige Zugehörigkeit zu Preußen und dem Deutschen Reich, mit Deutsch als einziger Amts- und Unterrichtssprache, gleichzeitig die Phase war, in der infolge der zunehmenden Durchsetzung der Schulpflicht (1825 in der preußischen Rheinprovinz eingeführt) immer mehr Menschen die überregional einheitliche Schriftsprache beherrschten und diese auch zunehmend gesprochen wurde. So gehörte „Eupen-Malmedy“ dann – abgesehen von den immer schon französisch- bzw. wallonischsprachigen Ortschaften im Kreis Malmedy – ganz eindeutig zum deutschsprachigen Gebiet, als die beiden Kreise 1920 Belgien zugesprochen wurden. Die deutsche Sprache wurde dabei für die neuen Kantone zumindest theoretisch als gleichberechtigte Amtssprache neben dem Französischen anerkannt und blieb im Prinzip Schulsprache in der Primarschule; der Sekundarschul-Unterricht hingegen war französisch. Dieser Zustand wurde auch nach dem 2. Weltkrieg wieder hergestellt, das heißt: „die Unterrichtssprachenpolitik wurde zum Instrument der ‚Reassimilierung‘ der deutschsprachigen Belgier“ (Darquennes 2013: 356), bis zu den gesetzlichen Neuerungen ab den 1960er Jahren.

 

3. Die Position des Deutschen in Belgien heute

Die heutige Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft hat sich schrittweise ab den 1960er Jahren entwickelt (s. genauer Brüll 2010). Sie hat mit der gewachsenen Rücksicht auf Sprachminderheiten in Europa zu tun, ist aber eigentlich nicht so sehr die Folge einer emanzipatorischen Bewegung der Ostbelgier, sondern eher ein Nebenprodukt des flämisch-wallonischen Konflikts: Bei der Föderalisierung Belgiens, die vor allem auf dessen Lösung abzielte, sind „die institutionellen Kompromisse […] relativ großzügig, dafür allerdings ziemlich undifferenziert auf die Deutschsprachige Gemeinschaft übertragen worden. Dies hat den Deutschsprachigen ein herausragendes Autonomiestatut und damit auch gelegentlich den Titel ‚bestgeschützte Minderheit Europas‘ beschert“ (Thomas 2010: 84, vgl. a. Minke 2010: 3, Brüll 2010: 45).

Das mehrsprachige Belgien wurde im Zuge mehrerer Staatsreformen ab den 1960er Jahren nach dem Territorialitätsprinzip in mehrere im Prinzip einsprachige Sprachgebiete aufgeteilt, ein französisches, ein niederländisches, ein deutsches und daneben das zweisprachige Brüsseler Gebiet.1 Dies bedeutet, dass die jeweilige Sprache im entsprechenden Landesteil Amtssprache ist und in Verwaltung, Justiz und Schulwesen allein zu verwenden ist. Für eine festgelegte Reihe von Gemeinden sind allerdings in Schulwesen und Administration sprachliche Sonderrechte („Fazilitäten“/„Spracherleichterungen“) zugunsten von Minderheiten vorgesehen, die eine der anderen beiden Sprachen sprechen; dazu gehören alle Gemeinden der Deutschsprachigen Gemeinschaft, wo hierdurch „de facto Französisch zweite Amtssprache ist“ (Kern 1999: 214); gewisse Rechte werden im Schulwesen auch Niederländischsprachigen zugestanden. Umgekehrt gelten in einigen französischsprachigen Gemeinden Sonderrechte für die deutschsprachigen Bewohner.

Auf nationaler Ebene ist das Deutsche im Prinzip gleichrangige dritte Landessprache (vgl. Nelde 1987: 10). So ist der deutsche Text der Verfassung genauso verbindlich wie der französische und der niederländische (Henkes 2012: 16). Die Bewohner der DG haben das Recht, auf Deutsch mit der föderalen Verwaltung zu kommunizieren (und ebenso mit derjenigen der wallonischen Region), auch Gerichtssprache ist für sie Deutsch, jedenfalls in erster Instanz im Gerichtsbezirk Eupen, und auch bei Berufungsverfahren vor den höheren und den obersten Gerichten außerhalb der DG muss bei Bedarf das Deutsche zugelassen werden (s. genauer Henkes 2012 und Sommadossi 2013). Es gibt allerdings Klagen über eine unzureichende Beachtung der sprachengesetzlichen Regelungen in der Praxis (s. De Fijter 2012, Henkes 2012: 40), neben gelegentlichem Unwillen steht dahinter meist Mangel an finanziellen Mitteln und sprachkompetenten Personen. In jüngerer Zeit wird insbesondere kritisch konstatiert, dass Internetseiten zwar in englischer, aber nicht in deutscher Version zugänglich sind (De Fijter 2012: 69). Proteste gegen unzureichende Berücksichtigung des Deutschen durch Privatunternehmen verkennen allerdings oft, dass für diese keine entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen existierten, dass also z.B. Geschäftsbedingungen nicht auf Deutsch veröffentlicht werden müssen (Henkes 2012: 41).

Infolge der Reformen ist der Föderalstaat heute in doppelter Weise (ohne Hierarchie)2 untergliedert: Es gibt einerseits drei „Gemeinschaften“ (vormals „Kulturgemeinschaften“), in deren Kompetenz Kultur, Bildung und Teile der Sozialpolitik liegen: die Flämische Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft.3 Andererseits gibt es drei „Regionen“, die vor allem für die wirtschaftlichen und umweltbezogenen Belange zuständig sind: die (überwiegend frankophone) Wallonische Region, die (niederländischsprachige) Flämische Region und die (zweisprachige) Brüsseler Region.4 Für das deutschsprachige Gebiet gilt also eine Asymmetrie: Auf der Ebene der Gemeinschaften steht es gleichberechtigt neben den beiden anderen Gemeinschaften, wie diese hat es eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament, auf der Ebene der Regionen jedoch nicht, da ist es Teil der Wallonie. Bestrebungen, dies zu ändern und – wie das niederländischsprachige Flandern – auch eine eigene Region zu bilden, haben sich bisher nicht durchsetzen können (vgl. z.B. Thomas 2010: 84f., Reiter 2015, polis+sinus 2011: 68).

Entscheidend für die Position der deutschen Sprache ist aber vor allem die eigenständige Regelung der Sprachenpolitik und des Unterrichtswesens (s. dazu Dries 2010), die seit den 1980er Jahren in der Kompetenz der DG liegt (seit 1989 eigene Lehrpläne), seit dieser Zeit verfügt die DG auch über eine Autonome Hochschule. Diese bietet allerdings nur die Ausbildung zum/zur Kindergärtner/in und Primarschullehrer/in sowie zum/zur Krankenpfleger/in an. Das bedeutet unter anderem, dass die in der DG tätigen Sekundarschullehrer sowohl die fachliche als auch die (theoretische) fachdidaktische Ausbildung normalerweise an einer der wallonischen Universitäten auf Französisch absolviert haben und die deutschen Fachterminologien außerhalb des Studiums oder erst in der Praxis erwerben müssen, sofern sie nicht überhaupt auf Französisch unterrichten (s.u.). Für das Fach Deutsch bedeutet es überdies, dass die fachdidaktische Vorbereitung sich weitgehend nicht auf die Anforderungen des muttersprachlichen Deutschunterrichts in der DG richtet (dessen Inhalte sich nach den Lehrplänen wenig von denen des Deutschunterrichts in deutschen Bundesländern unterscheiden), sondern auf die Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache.

Immerhin ist für die Anstellung von Lehrern in der DG seit 2004 der Nachweis guter Deutschkenntnisse (mindestens Niveau B2 des Europäischen Referenzrahmens) obligatorisch. Gleichzeitig hat im Unterrichtswesen der DG jedoch der Erwerb des Französischen einen sehr hohen Stellenwert, er beginnt schon in der Vorschule und entspricht vom vorgesehenen Zeitumfang her in der Primar- und Sekundarschule fast oder ganz dem Deutschunterricht. In der Sekundarschule kann außerdem bis zu 50 % (oder sogar mehr) des Sachunterrichts in Französisch erteilt werden.5 Die gesetzlichen Regelungen der DG hinsichtlich der Sprachen im Schulwesen weisen also immer auf ein doppeltes Ziel hin: Konsolidierung des Deutschen als Erstsprache bei gleichzeitiger massiver Förderung von Französisch als Fremdsprache.

Neben dem Schulunterricht stützen auch die eigenen Medien das Deutsche in Ostbelgien. Es gibt eine viel gelesene deutschsprachige Tageszeitung, das 1927 gegründete Grenz-Echo mit einer Auflage von derzeit 11500 Exemplaren, und einen eigenen Sender (Belgischer Rundfunk – BRF) mit zwei Radiokanälen und einem kleinen Fernsehprogramm, das auf Nachrichten konzentriert ist (das bundesdeutsche Fernsehen spielt daneben auch eine wichtige Rolle – die finanziell motivierte Entfernung der öffentlich-rechtlichen Programme aus Deutschland aus dem belgischen Kabelnetz 2013 führte zu starken Protesten. An ihre Stelle traten aber bundesdeutsche Privatsender).

In naturgemäß bescheidenem Rahmen hat auch die ostbelgische Literatur seit den 1970er Jahren einen Aufschwung erlebt (vgl. Combüchen 2008: 57, Beck 2010). Die Lebendigkeit des Deutschen in Ostbelgien steht also völlig außer Frage. Im Folgenden ist nun näher zu betrachten, wie weit es sich dabei – nach fast 100 Jahren staatlicher Trennung von Deutschland – um ein bestimmtes ostbelgisches Deutsch handelt.

4. „Das“ ostbelgische Deutsch – Besonderheiten des Deutschen in Ostbelgien

Das Deutsche in Ostbelgien ist in den letzten 50 Jahren Gegenstand verschiedener Darstellungen und Untersuchungen gewesen (u.a. Magenau 1964, Nelde 1987, Nelde & Darquennes 2002, Heinen & Kremer 1986 u.ö., Kern 1999, Hladky 1999, Riehl 2001, Strothkämper 2012). Im Folgenden wird auf diese zurückgegriffen, besonders auf die extensivste jüngere Sammlung, die von Heinen & Kremer (2011 und 2015), die auf den Internetseiten der DG zu einer „Regionalsprachendatenbank der DG“ ausgeweitet worden ist. Die meisten der genannten Arbeiten beziehen sich auf den Wortschatz, z.B. bei Heinen & Kremer (1986) finden sich jedoch auch Hinweise auf „typische“ grammatische Varianten. Die Frage der Einstufung der belgischen Varianten als standardsprachlich oder nicht wird im Folgenden zunächst etwas zurückgestellt, weil die Basis dafür gerade bei einer kleinen Zahl von Sprechern und Texten noch unsicherer ist als sonst (zu den Schwierigkeiten vgl. a. Ammon 1995: 82).

4.1. Dialektbasierte Charakteristika
4.1.1. Dialektaler Hintergrund

Die dialektalen Ausgangsbedingungen (s. dazu genauer Cajot & Beckers 1979 und Cajot 1989) begünstigen die Entwicklung einer spezifisch belgischen Varietät des Deutschen nicht: Das kleine Gebiet der deutschsprachigen Minderheit ist kein geschlossener Dialektraum, sondern ein Übergangsgebiet, dessen Pole sich sehr deutlich voneinander unterscheiden, dagegen kaum von den anschließenden deutschen, niederländischen und luxemburgischen Dialekten abheben. Mehrere wichtige Isoglossen durchschneiden Ostbelgien: Die Benrather Linie (2. Lautverschiebung: maken vs. machen etc.), die traditionelle Grenzlinie zwischen niederländischen/niederdeutschen und hochdeutschen Dialekten, trennt Eupen und sein nordwestliches Umland (südniederfränkische Dialekte wie im angrenzenden niederländischen Limburg) von den östlicheren Orten in Richtung Aachen sowie vom Süden der DG. Eine weitere Lautverschiebungsgrenze (dorp vs. dorf) sowie auch die Grenze zwischen Dialekten mit und ohne Diphthongierung von westgermanisch ī und ū (iis vs. eis) durchschneidet das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft knapp südlich des Hohen Venns. Nach der älteren, mit grenzmarkierenden Isoglossen arbeitenden Dialekteinteilung „zerfällt“ das ostbelgische Gebiet also in einen vorwiegend moselfränkischen Süden, der zum selben Dialektraum gehört wie das Luxemburgische und das deutsche Moselgebiet, einen kleineren Ausläufer des ripuarischen Dialektraums in der Mitte und ein Teilgebiet des Südniederfränkischen (ohne klare Grenze zu den niederländisch-limburgischen Dialekten und denen des deutschen Niederrheins) im Norden. Auch wenn eine solche auf einzelne Isoglossen fixierte Zerteilung dem Charakter von Übergangsgebieten nicht gerecht wird, lässt sie erkennen, dass hier kaum davon ausgegangen werden kann, dass die dialektale Grundlage dem ostbelgischen Deutsch einen bestimmten, einheitlichen Charakter verleiht. Die Nord-Süd-Teilung ist in den Dialekten auch auf lexikalischem Gebiet sehr deutlich (vgl. z.B. die Wortkarten des „Kleinen Dialektatlas von Ostbelgien und den angrenzenden Gebieten in Deutschland“, Möller & Weber (2014) – hier ist der häufigste großräumige Gegensatz der zwischen Eupener Land und Eifel, in über der Hälfte dieser Fälle stimmt das Wort in der Eifel dabei mit dem bundesdeutschen Standardwort überein).

Dazu kommt noch, dass der Rückgang des Dialektgebrauchs sehr unterschiedlich ist: Im größten Teil des Eupener Lands, wo zum einen der Dialekt weiter von Standard entfernt ist und zum anderen die Urbanisierung weiter fortgeschritten ist als im Süden, ist Dialektkompetenz schon nur noch selten anzutreffen, in den Dörfern der Eifel ist der Dialekt dagegen auch unter jungen Leuten häufig noch Alltagssprache. Auch hierin ist die Ähnlichkeit zwischen der jeweiligen ostbelgischen und der angrenzenden Region in Deutschland größer als die zwischen dem Norden und dem Süden von Ostbelgien (vgl. Weber 2009).