Standardsprache zwischen Norm und Praxis

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4.1.2. Regionale Lexik

Die als „ostbelgisch“ angesehene (nichtdialektale) Lexik spiegelt diese Situation wider. Bei den lexikalischen Varianten, die bei Heinen & Kremer (2011) (bzw. in der Regionalsprachendatenbank) als charakteristisch für die „besondere Regionalsprache“ Ostbelgiens (ebd. S. 5) aufgeführt sind, spielen indigene Varianten zwar zunächst einmal quantitativ eine erheblich größere Rolle als der französische Kontakteinfluss.1 Eine Teilauswertung dieser Sammlung (Alphabetstrecke A-F, 362 Lemmata) ergibt einen Anteil von nur gut 15 % Lehnwörtern und knapp 2 % Lehnübersetzungen. Die übrigen sind jedoch in der großen Mehrzahl keine spezifisch belgischen Varianten,2 sondern zu über 85 % auch für das deutsche Rheinland belegt, auch in deutlicher Entfernung zu Ostbelgien, im zentralen Rheinland, im Ruhrgebiet oder im Bergischen Land, oder noch über das Rheinland hinaus im deutschen Nordwesten.3 Bei den restlichen, auf Belgien beschränkten, gilt wiederum die Mehrheit (78 %) nach den Angaben in der „Regionalsprachedatenbank“ nicht in ganz Ostbelgien, sondern nur in einem Teilgebiet – meistens entsprechend der erwähnten Nord-Süd-Teilung. Oft ist auch beides gleichzeitig der Fall, wie z.B. bei dem „typischen“ Merkmal holen statt nehmen (auch in zahlreichen Partikelverben wie abholen ‚abnehmen‘, mitholen etc.), das oft Gegenstand von (selbst-)ironischer Metakommunikation ist: Diese Variante ist nicht nur im Süden der DG üblich, sondern auch im angrenzenden Deutschland und in Luxemburg,4 im Eupener Land dagegen ist sie ungebräuchlich.

Auch im Wortatlas der deutschen Umgangssprachen in Belgien (Nelde 1987) schließt das Kartenbild für die DG sich in fast allen Fällen nahtlos an das entsprechende Kartenbild im Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (Eichhoff 1977–2000) an, die Ausnahmen hiervon gehen auf das Französische bzw. das Wallonische zurück (kalt haben ‚frieren‘ Kt. 2, Makai ‚Quark‘, Kt. 40) zeigen auch innerhalb Ostbelgiens wieder den Nord-Süd-Kontrast (Kt. 34 ‚auf dem Eis entlangrutschen‘).

Wenn Heinen & Kremer (2011) die von ihnen gesammelten Varianten grundsätzlich als „zwischen Dialekt und Standardsprache“, also als nicht standardsprachlich, einstufen, widerspricht das zwar der Tatsache, dass eine Reihe davon unmarkiert in standardsprachlichen Texten verwendet wird und einige sogar zur offiziell festgelegten belgischen Rechts- und Verwaltungsterminologie gehören (s.u.). Jedoch weist bei vielen Lemmata die Bedeutung darauf hin, dass der Ausdruck tatsächlich eher einem familiären Register angehört. Dies betrifft besonders die nicht entlehnten Wörter. So haben gerade diese oft eine bewertende oder bewertungsrelevante Komponente oder bezeichnen – teilweise onomatopoetisch – auffällige Bewegungen, Verhaltensweisen oder Lautproduktionen oder äußerlich auffällige Personen oder Gegenstände etc. (‚schlagen‘, ‚geräuschvoll kauen‘, ‚unruhig, zappelig‘, ‚Durcheinander‘, ‚sich beim Essen oder Trinken beschmutzen‘ u.ä.). Für die aus dem Französischen entlehnten Wörter gilt dies weniger (‚LKW‘, ‚LKW-Plane‘, ‚Kugelschreiber‘, ‚Kanister‘ u.ä.).

So ist es nicht überraschend, dass – entgegen den Gewichtsverhältnissen in der Sammlung von Heinen & Kremer (2011) – in dem ostbelgischen Zeitungskorpus, das Nelde (1974) untersucht hat, zwar diverse Besonderheiten in Form von Entlehnungen aus dem Französischen auftreten, dialektbasierte Varianten dagegen kaum eine Rolle spielen, genauer: nur in der Karnevalszeit vorkommen (ebd: 249).

4.1.3. Phonologische und grammatikalische Merkmale

In der Phonologie ist es ähnlich: Die meisten (sekundären) Dialektmerkmale, die im ostbelgischen Regiolekt und regionalen Gebrauchsstandard eine Rolle spielen, sind auch in großen angrenzenden Gebieten in Deutschland und in Luxemburg verbreitet, aber umgekehrt oft nicht in ganz Ostbelgien. So ist z.B. die Koronalisierung von [ç] zu zu [ɕ] bzw. [ʃ], ein bekannter „rheinischer“ Marker und im Ripuarischen und Moselfränkischen eins der stabilsten regionalen Merkmale, zwar im Süden der DG geläufig und stereotypisiert, in Eupen dagegen nicht üblich (s. z.B. die Karte zu ig im Auslaut im Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards, Kleiner 2011ff.).1 Auch in der kurzen Aufzählung phonologischer Erscheinungen, die „sehr deutlich die Alltagssprache prägen“, bei Heinen & Kremer (2011: 5) erscheinen nur Merkmale, die die „Eifler“ oder die „Eupener“ charakterisieren, nicht aber beide.

Dementsprechend erwies sich in einem Test mit Personen aus Ostbelgien und aus dem deutschen Grenzgebiet,2 dass sie in Sprachproben (Regiolekt bis Gebrauchsstandard) in erster Linie den Nord-Süd-Unterschied identifizierten. Jedoch gelang es auch vielen von ihnen, die ostbelgischen Sprecher von den deutschen zu unterscheiden – offenbar (meistens unbewusst) vor allem anhand eines einzigen spezifischen Merkmals: der fast systematisch konsonantischen Realisierung von auslautendem /r/nach Vokal ([χ]), im Gegensatz zu der Vokalisierung auf deutscher Seite.

„Typische“ grammatische Varianten des ostbelgischen Deutschen, die auf den Dialekt zurückgehen, sind kaum anzutreffen. Die Liste ostbelgischer grammatischer „Abweichungen“ bei Heinen & Kremer (1986: 5–13) enthält jedenfalls außer Transferenzen aus dem Französischen (s. unten) vor allem großräumig bis überregional verbreitete als Non-Standard eingestufte Phänomene, teilweise Dauerbrenner der Sprachkritik: den am-Progressiv, wie oder als wie bei Komparativ, die tun-Periphrase, wo als Relativpartikel, hin statt her usw. Regionalspezifisch ist dagegen wohl die Umlautung der Konjunktiv-II-Formen von wollen (wöllte) auch außerhalb des Dialekts; der analytische Komparativ (mehr groß) ist dagegen heute weitgehend auf den Dialekt beschränkt und auch dort nicht durchgehend üblich (Theissen 2015). Kasusverwechslungen bei Wechselpräpositionen (im Haus gehen, im Griff bekommen, an jdm. denken, s. Hladky 1999: 90) spielen vor allem im Nordteil der DG eine gewisse Rolle, was auf das Substrat der dortigen Dialekte ohne Dativ-Akkusativ-Differenzierung zurückgeht (s. Feyen 1999: 110).

Insgesamt ist ein innerbelgischer Ausgleich zugunsten bestimmter regionaler (aus den Dialekten stammender) Varianten nicht erkennbar, die anzutreffenden Merkmale mit dialektalem Hintergrund spiegeln immer noch die dialektalen Raumstrukturen wider (und damit die dialektale Uneinheitlichkeit von Ostbelgien) und nicht die nationalen Grenzen. In einem pluriarealen Konzept kann Ostbelgien damit eigentlich nur einen kleinen Abschnitt des äußersten Westrands eines mittel-/nordwestdeutschen Übergangsraums darstellen.

Als nationale Besonderheit, die den Gebrauch im ganzen Gebiet verbindet und nach außen abgrenzt, erweist sich demgegenüber jedoch der französische (bzw. teilweise belgisch-französische oder wallonische) Kontakteinfluss.

4.2. Der Kontakteinfluss aus dem Französischen

Wenngleich in der Deutschsprachigen Gemeinschaft allgemein Deutsch die Verkehrssprache ist und auch Frankophone, die dort beschäftigt sind, das Deutsche soweit erlernt haben, dass sie auf Deutsch z.B. mit Kunden interagieren können, ist das Französische im Alltag in Ostbelgien omnipräsent. Werbung, Aufschriften aller Art, Hinweisschilder sind häufig zweisprachig oder auch einsprachig französisch, bei vorübergehend aufgestellten Verkehrsschildern wechseln Deutsch und Französisch offenbar frei, Produktbeschriftungen sind dreisprachig oder auch nur zweisprachig französisch-niederländisch, in Geschäften werden frankophone Kunden auf Französisch bedient. Im Berufsleben wird zumeist Zweisprachigkeit verlangt, auch bei einfachen Tätigkeiten (vgl. Riehl 2001: 40). Angesichts des eingeschränkten Angebots der Autonomen Hochschule setzt, wie schon gesagt, auch ein Hochschulstudium in Belgien gute Französisch- oder Niederländischkenntnisse voraus; die nächstgelegene belgische Universität ist die frankophone Universität Lüttich.

Dank dem Stellenwert des Französischunterrichts im Schulwesen sind bei großen Teilen der Bevölkerung die entsprechenden Kenntnisse vorhanden (s. Dries 2010: 157 u.ö, Strothkämper 2012: 29). Viele Ostbelgier haben auch frankophone Elternteile oder Lebenspartner, und die Einstellung dem Französischen gegenüber ist zumeist positiv (s.a. Riehl 2001: 40),1 wenngleich zumindest Teile der Bevölkerung heftig reagieren, wenn sie – z.B. von Seiten der Wallonischen Region – die Eigenständigkeit des deutschsprachigen Gebiets und/oder die Geltung der deutschen Sprache dort missachtet sehen.2

Angesichts der weit verbreiteten Zweisprachigkeit und der starken Präsenz des Französischen in der Gegenwart und in der Geschichte Ostbelgiens drängt sich die Frage nach Kontakteinflüssen also auf. In einer Reihe von Studien ist allerdings immer wieder festgestellt worden, dass der Lehneinfluss weniger stark ist als erwartet (s. etwa Riehl 2001: 251, Strothkämper 2012: 72). Nach der Entlehnungsskala3 von Thomason & Kaufman (1988: 74–76) entsprechen die Entlehnungen nur einer geringen Kontaktintensität („gelegentlicher Kontakt“). So ist in erster Linie eine Reihe von entlehnten Inhaltswörtern anzutreffen, vor allem Substantive, seltener (über -ier- integrierte) Verben. In der Sammlung von Heinen & Kremer (2011) erscheinen als Entlehnungen einige Sachspezifika, aber auch eine Reihe von Bezeichnungen für Gegenstände, die im bundesdeutschen Gebrauch andere, indigene, Bezeichnungen haben (Bic ‚Kugelschreiber‘, Mazout ‚Heizöl‘, Makai ‚Quark‘, Farde ‚Ordner‘, Flic ‚Polizist‘, Frigo ‚Kühlschrank‘, Bidon ‚Kanister‘, Camion ‚Lastwagen‘, Garagist ‚Autohändler; Automechaniker‘, Dalle ‚Betonträger; Steinplatte, Deckstein‘, Bulle ‚Kugel‘, Cric ‚Wagenheber‘, Bigoudi ‚Lockenwickler‘ usw.). In einigen Fällen gibt es auch kein einfaches deutsches Äquivalent, wie bei den Verben affonieren ‚in einem Zug austrinken, auf Ex trinken‘, panikieren ‚in Panik geraten‘, depannieren ‚Pannenhilfe leisten‘ oder auch bei Bol ‚tiefe Schüssel oder Tasse ohne Henkel‘.

 

Des Weiteren finden sich verschiedene Lehnbedeutungen bzw. Fälle von Übereinstimmung mit der französischen Verwendung bei Wörtern, die als Entlehnung aus dem Französischen oder Lateinischen auch in Deutschland existieren, aber in anderer Bedeutung, so z.B. Café ‚Wirtschaft, Kneipe‘, Garage ‚Autowerkstatt; Autohaus‘, Agenda ‚Terminkalender‘, Kompass ‚Zirkel‘ u.a. Auch bei indigenen Wörtern kann sich der semantische Einfluss der französischen (Teil-)Übersetzungsäquivalente zeigen, etwa im ostbelgischen Gebrauch von Wörtern wie etwas fragen ‚etwas verlangen, um etwas bitten‘, nach frz. demander, oder Akte ‚Sache, Fall, Projekt‘ nach frz. dossier, empfangen ‚Sprechstunde abhalten‘ nach frz. recevoir. In einzelnen Fällen kann auch die Veränderung grammatischer Eigenschaften von Einzellexemen beobachtet werden (vgl. Heinen & Kremer 1986, s.a. Nelde 1974: 243–247), allerdings eben nur im Hinblick auf den einzelnen Lexikoneintrag, nicht systematisch im Hinblick auf grammatische Regeln. Solche Fälle sind z.B. Reflexivität bei sich basieren auf, Nicht-Reflexivität bei intransitivem ändern – etwa Der Ablauf hat geändert, entsprechend frz. changer –, oder (seltener) an jemanden fragen, jemanden glauben. Auch Konstruktionen wie die zur Angabe des Alters (20 Jahre haben) oder des Temperaturempfindens (warm haben) zeigen französischen Einfluss. Heinen & Kremer (1986), Nelde (1974: 244) und Hladky (1999: 87) weisen ferner auf Fälle von „abweichendem“ Präpositionalgebrauch hin, die sich sehr wahrscheinlich nach französischem Vorbild richten (Angst für statt um, in der Straße, zum Kino, am Fernsehen, für sich auszuruhen), ferner auf den Gebrauch des Pronomens man für wir (wie frz. on) und auch auf „unmotivierte“ Ausklammerungen von Präpositionalphrasen, z.B. in Der Minister weist hin auf eine baldige europaweite Verbotsregelung (Hladky 1999: 92).

Die Kontakteinflüsse aus dem Französischen, vor allem die häufigeren lexikalischen Entlehnungen, erscheinen auch in standardsprachlichen Kontexten und unterscheiden das Deutsch im Norden und Süden der DG insgesamt vom angrenzenden bundesdeutschen Deutsch. Es handelt sich zwar nicht durchgehend um spezifisch belgische Varianten, sondern derselbe französische Einfluss findet sich teilweise auch im Schweizer Standarddeutsch, so bei Camion oder Garage/Garagist. Aus belgischer Perspektive werden diese Entlehnungen trotzdem als typische Belgizismen wahrgenommen, da die Kontrastfolie schon aus Gründen der Geographie das angrenzende bundesdeutsche Deutsch ist.

Cajot (1989), der die Rolle der neuen Staatsgrenzen für die Entwicklung der Lexik4 im Grenzraum zwischen Belgien, den Niederlanden, Deutschland und Luxemburg untersucht, konzentriert auf neuere Begriffe, kommt zu dem Ergebnis: „Die Abweichungen [des ostbelgischen Deutschen] gegenüber dem Binnendeutschen bestehen hauptsächlich aus fr[anzösischen] Lehnwörtern“ (ebd.: 293). Allerdings wird auch noch bei den nach 1920 aufgekommenen Begriffen in Ostbelgien meistens doch dasselbe Wort verwendet wie in Deutschland (Fernseher, Filzstift, Moped, Staubsauger, Strumpfhose, Tiefkühltruhe, Vollkaskoversicherung etc.), die Staatsgrenze erscheint also nicht als sehr trennend (anders als – auch im Dialekt – die ehemalige Staatsgrenze zwischen Alt- und Neubelgien).

Auch Hladky (1999: 99) stellt fest, dass die Besonderheiten in den von ihr untersuchten Ausgaben des Grenz-Echos von 1997 „fast ausschließlich“ auf das Französische zurückzuführen sind (vgl. a. Nelde 1974). Es ist dabei allerdings oft nicht ganz klar, ob es sich um typische (übliche) ostbelgische Varianten handelt oder um gelegentlich anzutreffende Erscheinungen, die jeweils unmittelbar auf französischen Einfluss zurückgehen und von ostbelgischen Rezipienten selbst als Fehlleistung gewertet würden.

4.2.1. Okkasionelle Einflüsse und Übersetzungen

Bei den Studien von Magenau (1964), Nelde (1974), Hladky (1999) und Strothkämper (2012), die jeweils deutschbelgische Zeitungskorpora auf Abweichungen vom bundesdeutschen Gebrauch bzw. speziell auf Transferenzen aus dem Französischen untersucht haben, reflektieren die aufgeführten Belege vielfach wohl nicht einen in Ostbelgien üblichen Gebrauch, sondern individuelle, punktuelle Kontakteinflüsse. Solche unsystematisch auftretenden, aber sich aufgrund des Systemkontrasts doch in ähnlicher Weise wiederholenden französischen Interferenzen sind im Deutschen in Belgien häufig anzutreffen. Teilweise handelt es sich dabei um Produktionen von Ostbelgiern, die das Verfassen komplexerer Texte vor allem im Studium, d.h. auf Französisch, gelernt haben, und bestimmte Strukturen des elaborierten Französischen auf das Deutsche übertragen. Dazu kommt aber noch, dass zahlreiche offizielle und kommerzielle Texte von Nicht-Muttersprachlern und/oder unter Zeitdruck aus dem Französischen oder aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt werden.1 Solche grammatikalischen Interferenzen sind z.B. die Nachstellung erweiterter adjektivischer Attribute, wie im folgenden Satz aus der offiziellen Übersetzung des Gesetzes über den Sprachengebrauch in Gerichtsangelegenheiten:

Wenn im Bereich des Appellationshofes von Lüttich kein Richter des Strafvollstreckungsgerichts oder kein Staatsanwalt, spezialisiert in Strafvollstreckungssachen, die Kenntnis der deutschen Sprache nachweist, wird ein Dolmetscher hinzugezogen.2 (Hervorhebung R.M.)

oder die Trennung des Genitivattributs vom Bezugswort durch ein vorausgehendes Präpositionalattribut (entsprechend der Position des Attributs mit de im Frz.) im Titel des „Collas-Gesetzes“ von 2007: Gesetz zur Regelung der Veröffentlichung in deutscher Sprache der Gesetze, der Königlichen Erlasse und der Ministeriellen Erlasse föderalen Ursprungs.3 (Hervorhebung R.M.)

Hierbei handelt es sich nicht um spezifische Strukturen des belgischen Deutschen, sondern um kontaktinduzierte Abweichungen von grammatischen Regularitäten, die normalerweise auch dort gelten – Abweichungen, die in der gesprochenen Sprache ostbelgischer muttersprachlicher Deutschsprecher nicht zu beobachten sind. Da solche Texte mit Interferenzen im muttersprachlichen Input deutschsprachiger Belgier quantitativ nicht ganz zu vernachlässigen sind (hinzu kommt gelegentlich der mündliche Gebrauch z.B. von Lehrern, deren Muttersprache nicht das Deutsche ist, s. Dries 2010: 157), ist das bei Ostbelgiern häufig anzutreffende Gefühl der Unsicherheit im Deutschen (besonders im Vergleich zu Sprechern und Schreibern aus Deutschland – s.u. 6.1) wohl nicht allein nur auf einen „Minderheiten“-Komplex zurückzuführen, sondern teilweise auch damit zu erklären, dass Gelesenes und Gehörtes immer wieder das erworbene Sprachwissen in Frage stellt bzw. die Abgrenzung zwischen deutschen und französischen Strukturen in der bilingualen Kompetenz der Rezipienten nicht verfestigt, sondern unsicherer macht.

Umgekehrt kann der ständige Umgang mit dem Französischen und mit französischen Transferenzen im Deutschen dann auch zu einem generellen Misstrauen gegenüber Gallizismen und Latinismen führen. So hat ein/e Internet-Benutzer/in eine Reihe von Zitaten aus dem Grenz-Echo ins Internet gestellt, um zu zeigen, dass die These, dass „belgisches Deutsch angeblich mehr und mehr von deutschem Deutsch abweicht“, sich bei näherem Hinsehen tatsächlich bestätige: „Hier sind einige Exempel von Ostbelgischem Hochdeutsch aus dem Grenz-Echo!“.4 In den meisten Fällen5 handelt es sich hier jedoch – soweit überhaupt erschlossen werden kann, welcher Ausdruck im angeführten Zitat gemeint ist – um Gallizismen und Latinismen, die auch in Deutschland völlig üblich sind, wie z.B. Kollision, Resultat, kontrovers, favorisieren, etablieren. Sicherlich spielt auch die Frequenz solcher Wörter in Texten eine Rolle (vgl. Nelde 1974: 239). Das Phänomen einer Übervorsicht bezüglich möglicher Kontakteinflüsse zeigt sich aber z.B. auch darin, dass die Ausklammerung von Präpositionalphrasen (s.o.) in Ostbelgien teilweise als grundsätzlich falsch gilt.

4.3. Terminologie in Administration, Recht und Bildungswesen

Während die bisher besprochenen Varianten von vielen Sprechern und Normautoritäten als Fehler oder zumindest als umgangssprachlich beurteilt werden, ist die Anerkennung einer eigenen deutschen Fachterminologie in Recht und Administration seit einigen Jahren gesetzlich verankert.

In Umsetzung des Dekrets zur Regelung der Rechtsterminologie in deutscher Sprache vom 19.1.2009 wurde ein Terminologieausschuss geschaffen, der für die Festlegung der deutschsprachigen belgischen Rechtsterminologie zuständig ist; diese Terminologie ist in der öffentlichen Verwaltung verbindlich1 und in Form der Datenbank Debeterm zusammen mit den französischen und niederländischen Äquivalenten im Internet zugänglich. Allerdings ist dieser Kodifikationsprozess noch im Gang (bislang 3000 Termini). Bis zur Einrichtung des Terminologieausschusses wurde nur – ohne kritische Diskussion – vom Zentralen Übersetzerdienst gesammelt, welche terminologischen Lösungen (oft ad hoc, vgl. z.B. Nelde 1974: 242) bei der Übersetzung von Gesetzestexten gewählt worden waren.2

Die Existenz einer eigenständigen belgischen Rechts- und Verwaltungsterminologie auf Deutsch erklärt sich teilweise schon aus den unterschiedlichen Systemen und entsprechenden Sachspezifika, etwa Föderalstaat (nicht dasselbe wie Bundesstaat in Deutschland und Österreich) oder Schöffe („‚Ressortleiter‘ des Gemeinderats unter Leitung des Bürgermeisters“, s. Combüchen 2008: 55f., vgl. a. weitere Beispiele bei Sommadossi 2013: 300–304).

Über den Fall von Sachspezifika hinaus gibt es jedoch noch andere Gründe für die Festlegung einer spezifisch belgischen Terminologie, nämlich zum einen die Tradition einer engen Anlehnung an das dominierende Französische und zum anderen die enge Verwandtschaft zwischen Deutsch und Niederländisch, die oft eine Orientierung am Vorbild der niederländischen Termini nahelegt (vgl. Henkes 2012: 32). Ein Beispiel wie Zivilgesetzbuch zeigt das meistens stärkere Gewicht des Französischen hierbei (Code civil – niederländisch Burgerlijk Wetboek entspräche dem deutschen Bürgerliches Gesetzbuch). Die ältere Maxime war, „dass in jedem Zweifelsfall (und manchmal auch noch darüber hinaus) zunächst auf eine belgo-belgische Lösung hin zu arbeiten sei, notfalls durch Wortschöpfungen, die dem juristischen Laien, sprich dem Rechtsuchenden, nicht unbedingt einleuchten mussten“ (Henkes 2012: 32). Henkes (ebd. Anm. 102) führt dies an einigen Beispielen vor: Prokurator des Königs (nicht Leitender Oberstaatsanwalt) oder Greffier (nicht Kanzler, Kanzleivorsteher bzw. Rechtspfleger, Gerichtsekretär oder Geschäftsstellenbeamter etc.) bzw. Chefgreffier, „in Gleichklang mit dem Französischen und dem Flämischen; dagegen wählte man jedoch Staatsanwalt (und nicht den im Nachkriegsostbelgien während der ‚Säuberung‘ sattsam bekannten Begriff ‚Substitut‘), um dem geschichtlichen und kulturellen Hintergrund der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Diese Begriffe haben sich durchgesetzt“ (ebd., Anm. 102, vgl. weitere Beispiele bei Sommadossi 2013: 300–304 und Combüchen 2008: 55f.).

Aus den aktuell geltenden Leitlinien des Terminologieausschusses geht jedoch hervor, dass bei neuen Festlegungen heute im Prinzip Konvergenz mit anderen deutschsprachigen Ländern angestrebt ist, an erster Stelle mit Deutschland. Diese Leitlinien sehen folgendes Vorgehen vor:3

Ausgangspunkt bei der Erarbeitung der deutschen Rechtsterminologie ist der bereits in der Vergangenheit vom Ausschuss festgelegte Wortschatz. Als erweiterte Grundlage wird die von der Zentralen Dienststelle für Deutsche Übersetzungen verwendete Terminologie herangezogen, die dabei einer kritischen Überprüfung unterzogen wird.

Sind die beiden im vorherigen Absatz genannten Quellen erschöpft und es müssen neue Benennungen geschaffen werden, gilt folgende Prioritätsreihenfolge als Richtlinie:

 

1. Anlehnung an die bundesdeutsche Rechtsterminologie;

2. Anlehnung an die Rechtsterminologie anderer deutschsprachiger Länder;

3. Anlehnung an die in der belgischen Rechtspraxis (Rechtsprechung am Gericht u.ä.) bereits verwendete deutsche Rechtsterminologie;

4. Bildung von Wortneuschöpfungen in Anlehnung an die französische oder niederländische Ausgangsterminologie bzw. durch Vereinnahmung existenter deutscher Terminologie, die ggf. mit einem neuen Bedeutungsinhalt belegt wird.

Die Kontinuität im belgischen Rahmen hat also, sofern eine eigene Tradition existiert, noch den Vorrang vor Konvergenz im deutschsprachigen Raum, aber bei Neubildungen steht das Bestreben nach Übereinstimmung speziell mit Deutschland explizit an erster Stelle.

Auch im Bildungswesen hat – in vergleichsweise geringerem Umfang – die Autonomie der deutschsprachigen Gemeinschaft zusammen mit Einrichtungen und Traditionen, die dem frankophonen Belgien folgen, zu einer spezifischen Terminologie geführt. Auch hier gibt es Sachspezifika wie Schulnetz (frz. réseau scolaire, Schulen in einer der koexistierenden Trägerschaften, s. Dries 2010: 150f.) oder Dispenz (Befreiung von einer Prüfung). Darüber hinaus werden im Rahmen dieser eigenen Tradition teilweise auch dann eigene, am Französischen orientierte Termini verwendet, wenn das Konzept kein belgisches Spezifikum ist, etwa bei Klassenrat für ein Gremium aus den Lehrern, die in einer Klasse unterrichten (frz. conseil de classe – bundesdeutsch Klassenkonferenz) oder Rahmenplan (bundesdeutsch Lehrplan). Umgekehrt haben Sachspezifika teilweise – in Übereinstimmung mit dem Französischen – Bezeichnungen, die in Deutschland in anderer Bedeutung verwendet werden, so bezeichnet (Klassen-)Tagebuch (frz. journal de classe) ein Heft, in dem täglich Aufgaben und Bemerkungen eingetragen werden, Studienbörse (frz. bourse d’études; ndl. studiebeurs) ein Stipendium (und nicht eine Art ‚Bildungsmesse‘) (vgl. Combüchen 2008: 56), Schulprojekt die Leitlinien, die eine Schule im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums für sich festgelegt hat (und nicht eine bestimmte, von der Schule projektartig betriebene Aktivität). Eine Besonderheit ist schließlich auch der Plural des Worts Unterricht (Unterrichte), der in Deutschland unüblich, in Ostbelgien dagegen ganz geläufig ist.

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