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Barbara Büchner:
Die Geschichte vom Knaben und dem Totenbeinchen
Einst kam ein Zauberer in ein kleines Dorf und stieg in der einzigen Herberge dort ab. Der Wirt war ein armer, aber rechtschaffener Mann, der drei hübsche Söhne hatte. Als nun der Zauberer die Knaben sah, dachte er bei sich: ›Die muss ich haben, koste es, was es wolle.‹ Es konnte aber dieser Zauberer alle Gestalten annehmen, auch die schönsten und reinsten, und er hatte die Gestalt eines hohen vornehmen Herrn angenommen. Als nun der Wirt ihm die Speisen auftrug, tat er ihm recht freundlich und sagte zuletzt: ›Eure Not rührt mich sehr, guter Mann! Da ihr nicht die nötigen Mittel habt, eure Söhne ein Handwerk lernen zu lassen, so überlasst mir doch einen von ihnen. Ich will ihn gern an Kindes statt annehmen, es soll ihm bei mir an nichts fehlen.‹ Und mit allerlei Überredungskünsten und vielen guten Worten gelang es ihm schließlich, den Wirt, der von dem Handel erst gar nicht angetan war, umzustimmen.
So zog der Zauberer mit dem Knaben fort auf sein Schloss. Dort sagte er zu dem Kind: ›Ich muss gleich wieder fort; sorge du inzwischen für mein Hab und Gut.‹ Und er gab ihm alle Schlüssel zum Hause, zugleich aber einen kleinen goldenen Schlüssel, von dem sagte er: ›Die Türe, die dieses Schlüsselchen sperrt, darfst du niemals öffnen, sonst bist du des Todes.‹ Damit ritt er fort.
Eine Weile hielt der Knabe sich an diesen Befehl, aber als der Zauberer nicht so bald zurückkam, sperrte er doch eines Tages das verbotene Türchen auf. Da war nichts dahinter als ein Zimmerchen mit einem steinernen Tisch darin, auf dem lag eine abgehauene Hand. Erschrocken schloss er die Türe wieder zu.
Nach einer Weile kam der Zauberer wieder und verlangte seine Schlüssel zurück, und sofort sperrte er auch das Pförtchen auf und rief: ›Warst du die ganze Zeit alleine, Hand?‹
›Nein‹, rief die Hand zurück, ›es war ein Knabe da, der hat mich besucht.‹
Da geriet der Zauberer in hellen Zorn. ›So also hältst du es mit meinen Befehlen! Komm nur gleich mit mir!‹, rief er. Und er führte das unglückliche Kind in ein unterirdisches Verlies, in dem Leichenteile an großen Haken aufgehängt waren. ›Hier siehst du, was auch aus dir werden wird‹, sagte er, packte den Knaben und hängte ihn an einem der Haken auf.
Danach machte er sich aufs neue auf den Weg zu dem armen Wirt und sagte zu ihm: ›Eurem Sohn gefällt es so gut bei mir, dass er gar nicht mehr zurückkehren möchte, er bittet aber, dass sein Bruder ihn besuchen darf.‹ Und wieder gelang es ihm, den Wirt zu überreden.
Da ging es dem zweiten Jungen wie dem Ersten: Er sperrte das Türchen auf, spähte hinein, und die Hand verriet ihn an ihren Herrn, sodass er ebenfalls in dem Leichenkeller gehenkt wurde.
Als nun der Zauberer auch den dritten Sohn holte, ahnte dieser, dass ihm nichts Gutes bevorstand. Er besaß aber ein Totenbeinchen, das ihm schon oft gut geraten hatte, das fragte er nun, was er tun sollte.
›Höre‹, sagte das Totenbeinchen, ›es wird dir nichts anderes übrig bleiben, als mit dem Zauberer zu gehen, denn er hat deinen Vater betört, sodass er dich mit ihm ziehen lässt. Deine Brüder sind beide tot, aber dir will ich heraushelfen, wenn du nur gehorsam tust, was ich sage.‹ Und als sie dann ins Schloss des Zauberers gekommen waren und dieser dem Knaben seinen Schlüsselbund gab, da riet ihm das Beinchen, ganz wohlgemut zu sein und sich's in dem prächtigen Schloss wohlergehen zu lassen. Dann sagte es: ›Wenn du das Türchen aufsperrst – und ich weiß, dass du das tun wirst, obgleich's dir verboten ist –, dann nimm die Hauskatze mit, aber gib ihr vorher drei Tage lang nichts zu fressen.‹
Das tat der Junge. Wie er nun die verbotene Türe aufsperrte, da sprang die hungrige Katze mit einem Satz hinein, schnappte die Hand und schlang sie hinunter. Ohne die Hand aber hatte der Zauberer seine Macht verloren. Als er zurückkehrte und das Zimmerchen leer fand, fiel er augenblicklich tot nieder, dass er dröhnend auf den Fliesenboden des Schlosses stürzte, sein Kopf vom Körper fiel und sein Blut durch den ganzen Saal spritzte.
»Gut gemacht«, sagte das Totenbeinchen. »Nun nimm das Haupt des Zauberers und wirf es ins Feuer!« Das brachte der Knabe aber nicht fertig, so sehr graute ihn vor dem abgehauenen Kopf, der ganz blau geworden war und ihn aus seinen glasigen Augen böse anzustarren schien. Von Angst und Schrecken gepackt, warf er das Haupt des Zauberers in das verfluchte Zimmer und sperrte die Türe hinter sich zu, und seit der Zeit wagte nie wieder jemand, diesen Raum zu betreten. Zuweilen hörte man, wie das Haupt darin herumrollte und -polterte, und zuweilen soll der eine oder andere gewagt haben, durchs Schlüsselloch zu spähen: Dann sah man es zumeist auf dem Kaminsims stehen, so rot und blutig wie an dem Tag, an dem es abgeschlagen worden war. Merkte es aber, dass jemand hereinguckte, so machte es Augen wie ein Käuzchen, stürzte sich sofort vom Sims und rollte blitzschnell auf die Türe zu, sodass keiner der Späher Lust hatte, noch länger das Auge ans Schlüsselloch zu halten.
Deshalb ist die Türe heutzutage auch immer verschlossen. Aber ich weiß, wo ihr den goldenen Schlüssel finden könnt.
Karl-Ulrich Burgdorf:
Frau Bertha
Und nun ist der Heinrich also gestorben. Möge Gott der HERR seiner Seele gnädig sein! Hat er sich doch arg gegen mich und wohl auch gegen andere versündigt. Angefangen hat das alles mit dem Pudel. Der ist ihm auf seinem Osterspaziergang mit dem Famulus Wagner zugelaufen, ein verlaustes schwarzes Vieh, aber irgendwie scheint’s dem Heinrich gefallen zu haben, denn er hat es mit nach Hause gebracht, wo ich grad dabei war, das Ostermahl zu richten. Da hat der Pudel dann sogleich versucht, mir den Braten vom Tisch zu stehlen, aber ich hab’s ihm tüchtig mit dem Kochlöffel gegeben, dass er ganz jämmerlich gejaulet hat. Aber das mochte der Heinrich nicht leiden, sondern hat mich gar wüst darob gescholten und gesagt, so könne man doch nicht mit einem unverständigen Tier umgehen.
Zum Glück ist das Vieh nicht lang bei uns geblieben, denn schon am nächsten Tag ist ein Mann aufgetaucht und hat es weggeholt. Das Vieh hab ich dann nimmermehr gesehen, seinen Besitzer aber umso öfter. »Der Stoffel«, sprach mein Mann – so nannte er ihn immer, den richtigen Namen hab ich nie vernommen, er wird wohl Christoph oder so ähnlich gewesen sein – »der Stoffel ist ein rechter Mann, er versteht was von der Welt.« Und er, der immer nur in seiner Studierstube über den Büchern gehockt hatte, ist dann bald ganz unter den Einfluss vom Stoffel geraten. Als erstes hat er sich ein Pferd gekauft, weil man das als Mann von Welt haben müsse, aber nicht so eine Schindmähre, nein, ein edler Rappe musste es schon sein, und ich konnte zusehen, wie ich mit dem knapperen Haushaltsgeld auskam! Und dann sind er und der Stoffel fortgeritten, habe andere Städte besucht und sich dort die Zeit vertrieben. Zuerst – das ward mir später von einer Base hinterbracht, deren Mann es selbst gesehen hatte – haben sie wohl nur in einer Kneipe, Auerbachs Keller hat sie geheißen, mit Studenten pokuliert. Mit Studenten! Ein gestandener Professor wie mein Heinrich, für den sich so etwas doch wirklich nicht geziemt! Aber das hat nicht lange gedauert, weil der Stoffel es wohl mit dem Vorführen etwelcher Taschenspielertricks ein weniges übertrieben hat, sodass es zu Hader und Streit gekommen ist. Schläge seien meinem Heinrich und dem Stoffel angedroht worden, Messer blankgezogen, und die beiden seien so gerade eben noch mit dem Leben davongekommen.
Was ein armes Frauenzimmer wie ich so gar nicht versteht, ist, daß dieses Abenteuer die Lust auf weitere und noch schlimmere beim Heinrich wohl noch angeregt hat. Der Stoffel hat ihn mit einer übel beleumundeten Person zusammengebracht, der stadtbekannten Kupplerin Marthe Schwerdtlein. Und die hatte auch gleich ein blondes Luder an der Hand, das gar zierlich die Spröde zu spielen verstand, auf dass der Heinrich nur tüchtig mit Gold und Geschmeide um sie buhlen möge, um bei ihr sein Ziel zu erreichen, welches Sie als Mann von Welt ja kennen werden. Bei uns hingegen war ab da Schmalhans Küchenmeister, denn wie soll man mit nichts die Mäuler dreier unmündiger Kinder stopfen? Den Heinrich hat das alles nicht geschert, denn er ist fast gar nicht mehr nach Hause gekommen, sondern war nur noch bei seinem süßen Gretchen, wie er’s nannte, am Herumcharmieren und Poussieren. Aber das ist ihm am Ende nicht so wohl bekommen, denn das blonde Luder hat ihm die Französische Krankheit angehängt, und da war ich zum ersten Mal froh, dass er schon seit vielen Jahren darauf verzichtet hatte, seine ehelichen Pflichten bei mir zu erfüllen.
Ob es noch schlimmer kam? Aber gewiss, denn eine Missetat zieht die andere nach sich, wie es im Sprüchwort heißt. Denn so geschickt seine Buhle im Verführen war, so ungeschickt war sie, wie’s scheint, darin, den Folgen ihres unziemlichen Tuns zu wehren. Schwanger ist sie geworden, von meinem Heinrich, und das war ihr nun gar nicht recht, und der Marthe Schwerdtlein und Gretchens Bruder auch nicht.
Ach, von dem Bruder habe ich noch gar nicht gesprochen? Nun, Bruder nannte er sich zwar, aber ob’s stimmt, das weiß nur der Herrgott allein. Jedenfalls ist er zum Heinrich gegangen und hat von ihm gefordert, die Ehre seiner Schwester wieder herzustellen, indem er sie heirate. Aber das ging ja nicht, weil er schon mit mir, der Bertha Faust, verheiratet war, was er dem Gretchen natürlich nicht verraten hatte. Aber jetzt kam es heraus, der Stenz zog blank, Heinrich und Stoffel auch, und alsbald lag Gretchens saub’rer Bruder tot in seinem Blute. Dass Stoffel und nicht Heinrich den tödlichen Stich tat, will ich wohl glauben, denn noch in jener Nacht verließ der böse Bube die Stadt und das Land, und seinen verflohten Pudel wird er wohl auch mitgenommen haben.
Es war dieselbe Nacht, in der die Buhle ihr Kind gebar, aber als Heinrich zu ihr eilte, hatte sie’s schon umgebracht, damit es ihr weiteres Leben nicht über Gebühr beschwere. Weiteres Leben! Hingerichtet hat man sie, und das war auch der Grund, weshalb Heinrich an jenem Nervenfieber erkrankt ist, das nun seinen Tod herbeigeführt. Und wer hat ihn bis an sein Ende gepflegt? Ich, Bertha Faust, die Ehefrau!
Aber eines, Herr Geheimrat, hat mich dann doch ein wenig mit ihm versöhnt. Denn als es mit ihm zu Ende ging, da hat er noch einmal die Augen aufgeschlagen, mich angelächelt und gesagt: »Verweile noch, du bist so schön.« Und in dem Moment hätt’ ich ihn beinah wieder lieb gehabt.
Nadine Dennhardt:
Teebeutel
»Hudson, ich habe mich klar ausgedrückt. Du gehst rein, tätigst den Kauf und dann direkt wieder raus. Du bist verkabelt. Wir hören alles mit, und die Knopfkamera zeichnet alles auf. Keine Alleingänge wie beim letzten Mal.«
Ich nickte und tippte auf meinen Ohrstöpsel, aus dem ich meinen Partner Dom klar und deutlich hören konnte.
Der Fall des illegalen Tierhändlerrings beschäftigte mich jetzt schon seit Monaten. Die völlig skrupellosen Gangster verschifften vom Aussterben bedrohte Tiere von einem Kontinent zum anderen. Aber was mich wirklich nicht losließ, waren die Wesen, die ich auf den Fotos nicht identifizieren konnte. Ich war nicht der Typ, der an Kryptozoologie glaubte, aber das, was ich da gesehen hatte … Nervös kratzte ich mich an der Hand. Meine Ichthyose war wieder aufgeflammt. Meine Hand sah aus, als hätte sie Fischschuppen.
Ich nickte meinem Kollegen noch einmal zu und stieg dann aus dem unauffälligen Van, der eine Querstraße von dem Zoohandel entfernt geparkt war. Ich zog den Leinenanzug glatt und rückte meinen Hut zurecht. Die Sonne spiegelte sich in meinen feinen Lederslippern. Das perfekte Bild des wohlhabenden Sonderlings, der auf der Suche nach dem Besonderen war.
Ein Glöckchen klingelte, als ich eintrat, und ein freundlich lächelnder, älterer Herr mit einem Vogeltattoo am Hals betrat den Verkaufsraum. Das stille Rauschen von mehreren Hundert Aquarien erfüllte den Raum. Über der Theke prangte ein Schild, das stolz den Namen des Geschäfts verkündete: Dädalus Tierimport.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin auf der Suche nach etwas Besonderem. Etwas, das man nicht in jedem Zooladen erwerben kann.« Dann legte ich die Visitenkarte, die ich von einem Informanten bekommen hatte, auf die Theke.
Ein Glitzern kam in die Augen des Mannes.
»Ah, Sie sind auf der Suche nach etwas, das geradezu my-thisch wirkt? Dann kommen Sie doch bitte mit nach hinten ins Lager.«
Er öffnete eine Tür hinter der Theke und ließ mich passieren. Wir standen in einem Raum, der nur eine weitere Tür besaß, die mit einem hochmodernen Schloss gesichert war. Der Mann, laut seinem Namensschild der Inhaber Dädalus selbst, zog einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Er sah mich an, und sein Blick blieb an dem Ausschlag an meiner Hand hängen.
»Wasserwesen? Ja, ich denke, da finden wir etwas Passendes.«
Er drehte den Schlüssel hin und her, und auf dem digitalen Feld oberhalb des Schlosses leuchteten nacheinander die alchemistischen Symbole für Feuer und Erde auf. Dann erschien das Symbol für Wasser, ein Dreieck, das auf der Spitze stand. Er öffnete die Tür in eine Lagerhalle, die sich mehrere Hundert Fuß in die Länge streckte. Er hielt mir die Tür auf, und ich trat ein. Im gleichen Moment knackte mein Ohrstöpsel. Der Funk fiel aus, aber angesichts der zahlreichen Wesen in kleinen und großen Wassertanks, fehlten mir sowieso die Worte.
»Haben Sie schon ein besonderes Haustier, oder ist es Ihr erstes?«
Ich schluckte trocken. »Das Erste.«
»Dann würde ich Ihnen empfehlen, mit etwas Kleinem anzufangen. Bitte folgen Sie mir.«
Der Mann führte mich vorbei an Tanks, in denen Sirenen schalldicht neben frisch geschlüpften Scylla lagen. Die Jungtiere fraßen ihre Eierschalen und gelegentlich auch einander, während die Sirenen einander gelangweilt die Haare flochten.
»Wir sind gleich da.«
Er führte mich tiefer in die Halle vorbei an Wasserwesen, für die ich nicht mal einen Namen hatte.
Dann traten wir in einen Raum, dessen Wände von vier Regalen gebildet wurden. In den Regalböden standen kleine Vier-Liter-Wassertanks.
»Für den Anfänger empfehle ich eine Wassernymphe. Eine Naiade oder eine Heleionomae vielleicht?«
In den Gläsern und Tassen saßen kleine menschenähnliche Wesen. Meist weiblich und mit langen Haaren, die zu Zöpfen geflochten waren, an denen ein Zettelchen angebracht war, das über den Rand hing. Fast wie ein Teebeutel in menschlicher Gestalt. Meistens steckte eine Blume oder ein grüner Zweig mit im Wasser.
Ich tippte an ein Glas und die winzige Nymphe sah mich erschrocken an. Sie klammerte sich an ihren Stil Pfefferminze. Vorsichtig nahm ich das Zettelchen in die Finger, um sie nicht an den Haaren zu ziehen. Auf dem Papier stand:
Heleionomae
Süßwasser,
liebt Pfefferminz,
täglich frisches Wasser.
Keine Zusatzstoffe verwenden!
»Ich hätte gerne diese hier.«
»Eine hervorragende Wahl. Sie können sie auch in eine Vase setzen. Dann bleiben die Blumen länger frisch. Oder in eine Tasse, wenn Sie Pfefferminztee mögen.«
Er lächelte und trat direkt auf mich zu. Erschrocken riss ich die Augen auf. Aber er griff nur an mir vorbei nach dem kleinen Wassertank. Dädalus hatte eine Plastiktüte in der Hand. Er kippte den Tank samt Inhalt, Nymphe und Stängel, hinein. Dann verschloss er sie mit einem Gummiband und reichte sie mir.
»Das macht dann zweitausend Dollar.«
»Nehmen Sie auch Karte?«
»Natürlich.«
Er schob mich vor sich her zum Ausgang, und noch bevor ich es richtig erfasst hatte, stand ich wieder vor dem Laden. In der Hand hatte ich die Tüte mit der kleinen Nymphe. Sie schwamm aufgeregt hin und her und blinzelte in die Sonne.
Es knackte wieder in meinem Ohr und ich hörte Doms Stimme. »Verdammt, Hudson, wir hatten den Kontakt verloren. Geht es dir gut?«
Ich nickte, bis mir einfiel, dass Dom mich nicht sehen konnte. »Ja, alles in Ordnung. Ich habe den Beweis. Du kannst das Amazonenkorps reinschicken.«
Ich zog den Ohrstöpsel heraus. Dann stupste ich gegen den Beutel.
»Und mit dir Mentha werde ich mich jetzt darüber unterhalten, was es heißt, dass du nicht meinen Fluss verlassen sollst.«
Paul Felber:
Späte Rache
Nachdem Robert Wirz aus Zürich, der sich an diesem schicksalhaften Tag im Spätherbst auf einer Urlaubsreise durch die Südstaaten von Nordamerika befand, die Gedenkstätte von Andersonville verlassen hatte, stieg er wieder in seinen Mietwagen und machte sich auf die Suche nach einer Unterkunft in der näheren Umgebung.
An diesem geschichtsträchtigen Ort im Bundesstaat Georgia befand sich zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 das größte Gefangenenlager der Konföderierten. Tausende durch schwere Krankheiten gezeichnete Soldaten der Nordstaaten wurden wegen der katastrophalen Bedingungen dahingerafft wie die Fliegen! Der Lagerkommandant war ein gewisser Captain Henry Wirz aus Zürich gewesen, der nach dem Krieg als Südstaatler und Kriegsverbrecher in Washington gehängt wurde.
Während der Fahrt beschäftigte ihn ein böser Verdacht. War dieser Henry Wirz vielleicht ein entfernter Verwandter von ihm gewesen? Er kannte jedoch seinen Familienstammbaum zu wenig gut, um in dieser Hinsicht Gewissheit zu haben. Es dunkelte bereits, als er kurz darauf auf die etwas heruntergekommene, herrschaftlich aussehende Villa mit den drei Giebeln stieß. Sie stand in einer parkähnlichen Grünanlage, etwas abseits der Durchgangsstraße. Über der imposanten Veranda leuchtete ein grüner Schriftzug: GUESTHOUSE.
Er stieg die Holzstufen hinauf und trat durch die halb offene Tür, was ihn kurz verwunderte, in das Gebäude. Der Vorraum und die im Halbdunkel befindliche Rezeption waren verlassen. »Hallo, ist hier jemand?« Keine Antwort. Er wollte seine Frage gerade wiederholen, als ein älterer Mann mit Vollbart, der eine Uniformjacke der Konföderierten trug, aus einem Nebenraum trat und ihn freundlich begrüßte. Mit dem breitkrempigen Hut auf dem Charakterkopf glich er auffallend dem berühmten General Robert E. Lee. Vermutlich ein Patriot. Wirz erkundigte sich nach dem Preis für eine Nacht. Obwohl ihm der Betrag zu hoch schien, war er damit einverstanden. Während er auf dem Registrierschein seine Personalien eintrug, fragte er den Uniformierten nach weiteren Logiergästen.
»Nein, Sir, Sie sind heute mein einziger Gast. Normalerweise ist das Haus zu dieser Jahreszeit ausgebucht. Weshalb es in diesem Herbst anders ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich gebe Ihnen die Suite im Obergeschoss, die zum Park hinausgeht. Sehr ruhig. Sie wird Ihnen gefallen«, dann nahm er das ausgefüllte Formular von Robert Wirz entgegen, warf einen kurzen Blick darauf und stutzte, als er den Namen las.
»Mister Wirz, sind Sie etwa ein entfernter Verwandter von Captain Henry Wirz? Der Mann wurde meiner Meinung nach zu Unrecht hingerichtet. Die wahren Schuldigen saßen damals in der Regierung von Präsident Jefferson Davis. Der Captain hat nur seine Pflicht getan. Wenn Sie mehr darüber wissen möchten, erzähle ich Ihnen die Geschichte morgen beim Frühstück.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Glauben Sie an Geister?«
Wirz erstaunt über die seltsame Frage, verneinte vehement. Der Patriot nickte kurz und sagte dann: »Unzufriedene Gäste, die meisten davon aus dem Norden, Yankees, behaupten immer wieder, dass es in meinem Haus spuke, dass ihre Nachtruhe gestört würde durch seltsames Geflüster und laute Schritte auf dem Korridor. Vor allem Gäste in der einzigen Suite in der oberen Etage beschwerten sich öfters bei mir. Das ist Unsinn, purer Aberglaube! Sie werden bestimmt gut schlafen.«
Der Bärtige übergab seinem Gegenüber den Schlüssel zu seinem Zimmer, wünschte ihm eine gute Nacht und zog sich wieder in den Nebenraum zurück. Robert Wirz nahm sein Gepäck und stieg die knarrende Treppe zum Obergeschoss hinauf. Plötzlich glaubte er, hinter sich Schritte zu vernehmen. Überrascht blickte er zurück. Aber da war niemand. Er schüttelte den Kopf und ging den kurzen Korridor entlang zu seinem Zimmer. Verwundert sah er, dass die Tür halb offen stand. Er betrat den Raum, der nach abgestandener Luft und nasser Erde roch. Als er sie gerade schließen wollte, spürte er eine kalte Berührung! Erschrocken fuhr er zusammen. Was war das? Sein Herz klopfte heftig. Hatte er sich das nur eingebildet? Bevor er die Tür ganz zumachte und abschloss, warf er nochmals einen prüfenden Blick auf den verlassenen Korridor, der nur schwach beleuchtet war.
Er ging zum Fenster und öffnete es. Die hereinströmende Nachtluft erfrischte und beruhigte ihn. Müde von den Ereignissen des Tages, zog er sich um und ging zu Bett. Wenig später fiel er in einen unruhigen, traumgequälten Schlaf. Überall sah er abgemagerte Soldaten in zerfetzten blauen Uniformen keuchend und stöhnend herumliegen. Aber das Schlimmste war der anklagende Blick in ihren tief liegenden Augen, der Schmerz in ihren ausgezehrten Gesichtern.
Plötzlich erwachte er schweißgebadet und knipste die Nachttischlampe an. Er spürte, dass er nicht mehr allein war im Zimmer. Ein widerlicher Geruch von Fäulnis und Moder breitete sich im Raum aus. Von allen Seiten vernahm er Geflüster, krankhaftes Husten, und ganz deutlich vernahm er jetzt schwere Schritte vom Korridor her, und was ihn besonders entsetzte, war eine Stimme, die den Namen von Henry Wirz erwähnte! Auf einmal fühlte er, wie etwas Eiskaltes seine Beine anfasste. Und als er zur Seite schaute, sah er eine bis zum Skelett abgemagerte, menschliche Gestalt unter dem Bettlaken hervorkriechen. Mit offenem Mund, als wollte sie ihm etwas sagen, starrte sie ihn an!
Und in diesem Moment fing Robert Wirz zu schreien an. »Nein, nein, ich bin unschuldig, bitte nicht!« Immer wieder gellte seine angstvolle Stimme durch das Haus. Er bemerkte den Mann von der Rezeption nicht, der ins Zimmer stürmte und den wild um sich Schlagenden zu beruhigen versuchte. Verwundert nahm der Patriot einen unangenehmen Geruch wahr und sah verblüfft einen Uniformknopf an einem blauen Stofffetzen, der neben dem Bett lag. Robert Wirz aber war wahnsinnig geworden!