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Christian Hennecke · Dieter Tewes · Gabriele Viecens

Herausgeber

Kirche geht …

Die Dynamik

lokaler Kirchenentwicklungen

Christian Hennecke Dieter Tewes · Gabriele Viecens

Herausgeber

Kirche
geht …

Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklungen


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: Peter Hellmund Umschlagbild: Gettyone Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de) Druck und Bindung: CPI, Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03590-7 (Print) ISBN 978-3-429-04694-1 (E-Book PDF) ISBN 978-3-429-06093-0 (e Pub)

Inhalt

Christian Hennecke: Einleitung

Hinwege

Franz Weber: Ja, Kirche geht …

Valentin Dessoy: Kirche könnte gehen …

Weltkirchliche Wegerfahrungen

Jean Paul Russeil: Ein Weg des Glaubens in der Sendung der Kirche: die örtlichen Gemeinden

Gisèle Bulteau: Örtliche Gemeinden begleiten

Eric Boone: Aus- und Weiterbildung der örtlichen Gemeinden

Bischof Gilles Côtés SMM: Die Kirche zu den Menschen bringen!

Wegmarken

Hermann J. Pottmeyer: Der Wandel des Kirchenbildes im und nach dem II. Vatikanum

Christian Hennecke: Was meint Lokale Kirchenentwicklung – ein theologischer Werkstattbericht

Weggeschichten

Martin Piller, Marianne Reiser, Priska Blattmann: Wie hat sich die Kirche in Maria Lourdes, Zürich-Seebach, in den letzten 10 Jahren entwickelt?

Matthias Eggers, Christiane Kreiss, Cathrin Kuffner: Wolfenbüttel – Von Wegen lokaler Kirchenentwicklung

Marktplatz – Weg-Geschichten lokaler Kirchenentwicklung

Aufbruch

Alfons Vietmeier: Eine Vision gewinnt Gestalt – Merkmale der Kirche der Zukunft, vor Ort

Franz Weber: (Eindrücke und Rückblicke) – Wahrnehmungen und Ermutigungen

Schlusswort

Christian Hennecke: Kirche geht weiter – Schlusswort

Christian Hennecke

Einleitung

Das Symposion in Lingen war das dritte in einer Serie von theologisch-praktischen Vergewisserungen. Die Absicht und das Ziel wiesen in eine Richtung: Es ging darum, immer tiefer in eine weltkirchliche Lernbewegung einzutreten. Es ging präziser noch darum, theologisch zu reflektieren und zu vertiefen, was hinter der Erfahrung und Faszination des weltweiten kirchlichen Phänomens der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ steckt.

Ein weltkirchlicher Aufbruch

In einem ersten Lernschritt war seit 2008 deutlich geworden, dass Kleine Christliche Gemeinschaften und kirchliche Basisgemeinschaften als Sozialformen gelebten Kircheseins einerseits ganz in der Linie einer geistlich-theologischen Rezeptionsbewegung des II. Vatikanischen Konzils liegen, der es um eine spirituelle Erneuerung aus dem Wort Gottes geht. Was weltweit Praxis geworden ist, und im Begriff des „gospel sharings“ (Bibelteilen – Gemeinschaft im Wort) einen Weg beschreibt, wie alle Christen im Raum der Gegenwart des Auferstandenen gemeinsam das Wort des Lebens „berühren“ können, konnte theologisch beschrieben und verantwortet werden im Rückgriff auf die Lehre der „loci theologici“ und damit den unterschiedlichen Erkenntnisorten und Erkenntniswegen Gottes. Damit war auch klar, dass die Kirche in ihrem Umgang mit der Schrift sich ergänzende Zugänge kennt. Das Bibelteilen findet so seinen Ort in den Prozessen der Ekklesiogenese, als „ecclesia ex auditu“ gewissermaßen, inmitten einem Gefüge der Schriftauslegung zwischen Exegese und öffentlicher Verkündigung.

Kleine Christliche Gemeinschaften tragen in ihrer Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum einen ekklesiopraktischen Code in sich, der sie praktisch zu spirituellen Selbsthilfegruppen werden ließ. Sie traten in eine Lücke, die die an vielen Orten spürbare spirituelle Erschöpfung einer klassischen Gemeindegestalt ließ. Kleine Christliche Gemeinschaften scheinen so einer praktischen Interpretation der Communiotheologie verpflichtet, in der Communio verstanden wird als bergende Gemeinschaft, die dann aber zum einen leicht abgeschlossen ist – und die eigentliche Sendung draußen läßt. Genau diese Herausforderung ließ sich ja allüberall entdecken: Wieso ist nicht nur im deutschsprachigen Raum das Risiko so hoch, dass lokale Formen des Kircheseins ihre Sendungsdimension vergessen, wieso wurde in der deutschsprachigen Rezeption des Bibelteilens, aber auch in anderen Wegen wie der lectio divina, die Dimension des gemeinsamen Handelns ausgeblendet, oder doch einfach individualisiert?

Kirche in der Nachbarschaft

Genau diesen Fragen widmete sich das 2. Symposion im Jahr 2010: Unter dem Stichwort der „Rückkehr der Verantwortung“ wurde zum einen deutlich, dass die Rede von den Kleinen Christlichen Gemeinschaften nicht auf eine neue Kleinegruppenstruktur bestehender Gemeinden zielt, sondern auf eine Kirchenentwicklung, die sich als Gemeinschaft im Dienst an der Nähe des Reiches Gottes versteht. Was pastoraltheologisch mit der Rede von der „Pastoralgemeinschaft“ gemeint ist, kann hier praktisch entfaltet werden. Und genau das entspricht den Zeichen einer Zeit, in der Community-organizing und solidarische Nachbarschaftsinitiativen ganz gegen die Einschätzung depressiver Zeithermeneutik auf Potentiale der Solidarität und der Hingabefähigkeit verweisen, die häufig nicht gewürdigt werden.

Sind Kleine Christliche Gemeinschaften also nicht zuerst spirituelle Selbsthilfegruppen und verbleiben sie nicht im Dunstkreis selbstgenügsamer Gemeinschaftsfindung, dann geht es hier in der Tat um eine Neuausrichtung des Kircheseins am Ort – und damit um eine pastorale Vision und einen pastoralen Ansatz, der umfassender als vermutet Entwicklungsprozesse der Kirche fördern will, die auf eine praktische Alltagsrezeption prophetischer Intuitionen des II. Vatikanischen Konzils zielen.

Auf dem Weg zu einer Lokalen Kirchenentwicklung

„Your Germans have a further step to do“, so sagte uns schon im Jahr 2008 Estela Padilla, die Theologin des philippinischen Pastoralinstituts Bukal Ng Tipan. Sie hatte recht: Was wir rezepiert hatten, war eine Faszination und eine Sozialform. Was wir übersehen hatten, das war die theologische und ekklesiogenetische Architektur, die solche Entwicklung ermöglicht. Und in der Tat: Die weltkirchliche Faszination greift ja zu kurz, wenn sie Basisgemeinden und Kleine Christliche Gemeinschaften als Pastoralprodukt und Methode installieren will, ohne wahrzunehmen, dass dahinter langfristig angelegte Prozesse der Kirchenentwicklung standen, die in Diözesen und Kontinentalkirchen meist lange Anwege der Bewußtseinsbildung und pastoraler Bildungs- und Entwicklungsarbeit bedeuteten.

Es wurde uns immer deutlicher, dass es jeweils um einen inkulturierten Ansatz einer Kirchenentwicklung ging, der Grundwerte und Grundoptionen des II. Vatikanischen Konzils aufgriff, die 50 Jahre nach dem Konzil und angesichts der Umbrüche der Kirche im deutschsprachigen Raum neu zum Leuchten kommen wollen: Die Erfahrungen im Dialog mit dem französischen Bistum Poitiers ließen uns verstehen, dass die Taufwürde und die Orientierung an der Vertiefung der eigenen Taufexistenz notwendiger Hintergrund eines kirchlichen Neuaufbruchs vor Ort sind. Der asiatische Pastoralansatz (AsIPA), auf dem die Entwicklung Kleiner Christlicher Gemeinschaften in Asien ruht, entfaltet eine Kirchenkultur, die durch ein Höchstmaß an Partizipation gekennzeichnet ist. Durch die Begegnungen auf Exposurereisen wurde auch immer klarer, dass ohne eine achtsame Inkulturation dieser Kultur das Risiko ekklesialer Sonderwelten droht.

 

Resonanzen

Die Konsequenz lag auf der Hand: Weil es nicht um kirchliche Substrukturen in größeren Pastoralräumen geht – und schon gar nicht um eine spirituelle Gruppenbewegung, sondern um einen zu entwickelnden visionär orientierten und ekklesiopraktischen Pastoralansatz –, trat die Rede von Kleinen Christlichen Gemeinschaften zurück. In den Vordergrund trat die Entwicklungsdynamik der Kirche vor Ort. Wir fanden den Begriff der Lokalen Kirchenentwicklung.

Seit dem Jahr 2011 entwickelt dieser Begriff eine erstaunliche Dynamik im deutschsprachigen Raum. Auslöser sind Erfahrungen im Bistum Hildesheim, die in einer pastoralen Richtungnahme mündeten. Im Frühjahr 2011 veröffentlichte Bischof Norbert Trelle ein Hirtenwort unter dem Leitwort der Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung und beschrieb darin wichtige Orientierungen im Blick auf eine Kultur des Kircheseins. Diese Kultur und diese Dynamik des Kircheseins genauer zu fassen, sie theologisch zu reflektieren und in Erfahrungen zu evaluieren, darum ging es beim Symposion in Lingen.

Es steht im Kontext einer erstaunlichen Resonanzbewegung: Die Erfahrungen bei Dekanatstagen und Tagungen, die Workshops und Summerschools, die wir in den letzten Jahren initiiert haben, die weltkirchlichen Pastoralexposure von Missio erlebten ein ungeheuer großes Interesse in Diözesen des gesamten deutschsprachigen Raums. Es verweist auf einen vorsichtigen Stimmungswechsel: von einer eher depressiven Ratlosigkeit hin zu einer vorsichtigen Hoffnung, vor allem hin zu dem Wunsch nach Neuorientierung. Das läßt sich ganz leicht an Zahlen ablesen: Das Symposion in Lingen wurde von Anmeldungen geflutet, und auch der im Februar 2013 stattfindende ökumenische Kongress Kirche2 war schon Monate vor Anmeldeschluss mit über 1000 Anmeldungen ausgebucht.

Wie Kirche geht

Auf diesem Hintergrund wollte das Symposion in zwei Richtungen die Linien weiter ausziehen und theologische Klärungsarbeit leisten. Dabei ging es zum einen darum, die sich weiter konturierende ekklesiologische Vision einer partizipativen Kirche zu konkretisieren: Wenn dieses Bild einer Kirche im Dienst am Reich Gottes farbig erfahren und beschrieben werden kann – und die weltkirchlichen Erfahrungen geben uns dabei eine gute Sehhilfe, um die eigene Entwicklung in diese Richtung zu entdecken –, dann geht es nun darum, tiefer von der Prozessdynamik zu lernen. Die Erfahrungen der pastoralen Entwicklung im Erzbistum Poitiers wie auch der Pastoralprozess in Papua Neuguinea ermöglichten tiefe Einblicke in Prozesse, die auch im deutschen Sprachraum an der Zeit sind.

Zum anderen aber standen anfanghafte Erfahrungen konkreter Pastoralprozesse im Mittelpunkt des Kongresses: Was in den vergangenen Jahren in Zürich und Wolfenbüttel gewachsen ist, verweist auf eine inkulturierte Lokale Kirchenentwicklung. Appetizer aus verschiedensten Pfarreien machten deutlich, dass „Kirche geht“.

Auf der Schwelle …

So sehr es wichtig ist, eine Vision immer neu zu vergegenwärtigen, damit die theologische Rückbindung an die große Tradition der Kirche vertrauensvolle und mutige konkrete Schritte auf dem Weg möglich macht, so sehr ist in Lingen deutlich geworden, dass die Kirche in Deutschland in Bewegung geraten ist, nicht chaotisch, sondern verheißungsorientiert. An vielen Orten wird sichtbar, dass Neues wächst. Zugleich aber tritt ein neuer Stil der Theologie hervor, der in Lingen anfanghaft zu spüren war. Theologie, Spiritualität und Ekklesiopraxis verbinden sich zu einem Gefüge: Das Teilen der Schrift, der Austausch der Glaubenserfahrungen, die Feier der Liturgie und das gemeinsame Nachdenken bilden ein Gefüge kirchlicher Erfahrung, die ja genau auch dem pastoralen Weg einer Lokalen Kirchenentwicklung entspricht.

Hinwege

Franz Weber

Ja, Kirche geht …
Ein persönliches und pastoraltheologisches Bekenntnis zur Dynamik lokaler Kirchenentwicklung

Geht Kirche wirklich? Wer „macht“, wer bewirkt, dass Kirche auch heute „geht“? Am Beginn dieses Symposions seien hier als erster Impuls zur Thematik dieses Symposions einige Gedanken formuliert, die biographischer und theologisch spiritueller Natur sind und die den Blick bewusst über den Horizont der katholischen Kirche in Deutschland in die Weltkirche hinein weiten wollen.

Nehmen wir zunächst für die gesellschaftliche Situation der Kirche im deutschsprachigen Raum nüchtern zur Kenntnis: Für viele Menschen hierzulande geht Kirche nicht mehr. Und sie ziehen daraus die Konsequenz, dass sie gehen, weggehen und austreten. Sie tun das mit Gründen, die sie konkret benennen, aus Enttäuschung, vielleicht auch verletzt, manche mit einer klaren Entscheidung, weil sie in dieser Kirche, wie sie lebt und erlebt wird, nicht die Gemeinschaft finden, die sie suchen, andere auch leichtfertig und leichtsinnig, ohne tiefere Motivation und häufig eben auch nur aus finanziellen Gründen. Bis in die Kernschichten unserer Pfarreien hinein sind Menschen von der Kirche enttäuscht, weil in ihr offensichtlich nichts weitergeht, weil diese Kirche nicht mehr geht, sondern steht, stehen geblieben ist. Diesen Eindruck haben viele, und das wohl nicht ganz zu Unrecht.

Das ist freilich nur die eine Seite der Realität unserer katholischen Weltkirche, zu der sich weltweit weit über eine Milliarde Menschen bekennt. Jedes Jahr kommen – rein statistisch gesehen – einige Millionen dazu. Es ist auch eine Tatsache, dass unsere Kirche für viele Menschen als Kirche vor Ort ganz konkret als ein Stück Heimat, als ein Ort von Lebens- und Beziehungskultur erfahren wird, als Gemeinschaft, die trägt, als Gestalt der Solidarität und der Hoffnung. Viele sagen es – in den Kirchen des Südens häufiger als bei uns: „Wir sind Kirche, katholische Kirche.“ „We are Catholics“, und sie sagen es etwa in Afrika, überzeugt und mit einem gewissen Selbstbewusstsein und nicht nur unter vorgehaltener Hand, nicht mit Scham und Minderwertigkeitsgefühlen, wie das bei uns nicht so selten der Fall ist. Sie entschuldigen sich nicht dafür, dass sie katholisch sind.

Unsere Kirche befindet sich bei näherem Hinsehen – weltweit gesehen – nicht in einem Niedergang, sondern in einem vielgestaltigen Prozess der Ekklesiogenese (Leonardo Boff), einer Gestaltwerdung von Kirche. Sie ereignet sich immer wieder neu, an alten und neuen Orten von Kirche, in Pfarreien, die sich vor allem in den Kirchen des Südens häufig als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ verstehen, in neuen geistlichen Gemeinschaften, vor allem aber in unzähligen „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“, die – global gesehen – wahrscheinlich den „Normalfall von Kirche“ darstellen. Geht Kirche also doch?

Bekenntnis zur Möglichkeit und Zukunftsfähigkeit von Kirche

Auf der Basis meiner eigenen Begegnung mit ganz verschiedenen Sozialgestalten von Kirche und christlicher Gemeinde, die mir – und ich formuliere das bewusst gnadentheologisch – im Laufe meines Lebens geschenkt wurden, auf der Grundlage eines theologischen Kirchenbildes, das von neutestamentlichen Gemeindeerfahrungen, vor allem aber von der Kirchenvision des II. Vatikanischen Konzils geprägt ist, formuliere ich ein Credo, das meinen Glauben an die Zukunftsfähigkeit und Hoffnungsgestalt der Kirche zum Ausdruck bringt:

Ja, Kirche geht! Kirche ist unter ganz verschiedenen kulturellen, gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Voraussetzungen, ja selbst unter – menschlich gesehen – unmöglichen Bedingungen möglich, weil Gott sie möglich macht, weil sein Geist Kirche als Gemeinschaft, als Gemeinde in Gestalt erfahrbarer communio stiftet und den Menschen Geistesgaben schenkt, die sie – wie in neutestamentlicher Zeit – zum Aufbau von Gemeinden vor Ort einsetzen.

Kirche lebt und wird am Leben bleiben, weil sie aus dem Geheimnis von Tod und Auferstehung Jesu lebt. Sie ist keine statische unveränderliche, sondern eine historische Wirklichkeit, die dem Lebensgesetz des Weizenkorns unterworfen ist. Ihre äußere Sozialgestalt muss immer wieder vergehen, damit neues Leben aufbrechen und für die Menschen Frucht bringen kann. Kirche ist auf ihrem Weg durch die Zeit nicht deshalb am Leben geblieben, weil sie unwandelbar, sondern wandlungsfähig war.

Dieses mein Credo, mein Kirchenbekenntnis kommt nicht zuerst aus historisch theologischen Einsichten, sondern hat seinen Sitz in meinem Leben als katholischer Christ, Ordensmann, Missionar und Theologe.

Ich habe Kirche und christliche Gemeinde in sehr verschiedenen Gestalten erlebt und wahrgenommen:

– In neun Jahren als Pfarrer in der Begleitung Kirchlicher Basisgemeinden im Nordosten Brasiliens und an der Peripherie von São Paulo.

– Im unmittelbaren Erleben von „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ bei Forschungsaufenthalten in Südafrika, Mosambik, Uganda, Kenia und Tanzania.

– In der Wahrnehmung und Erforschung verschiedener Gemeindeerfahrungen aus Asien in der Begleitung von Diplom- und Doktorarbeiten von Theologen aus verschiedenen Ortskirchen.

– In der Wahrnehmung der Entstehung von „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ und neuer Gemeindeerfahrungen im deutschsprachigen Raum, eine Entwicklung, die mich – gerade im Kontext der gegenwärtigen Glaubwürdigkeitskrise unserer Kirche und mancher ihrer Umstrukturierungsprozesse – hoffnungsvoll stimmt.

Das alles und vieles mehr lässt mich zur Überzeugung kommen, dass Kirche „auch heute geht“, dass sie aber dynamisch verstanden und gelebt werden muss, als pilgerndes Volk Gottes, das nicht kleingläubig aus Angst vor Glaubens- und Identitätsverlust wie gelähmt stehen –, sondern auf dem Weg bleiben und sich aus der Kraft des Geistes verändern und neu gestalten muss.

Theologische Grundlagen für ein dynamisches Verständnis von Ortskirche

Auf diesem Symposion wird mit Recht und theologisch legitim von der „Dynamik lokaler Kirchenentwicklung“ gesprochen, eine Redeweise, die nach meinem Verständnis ihre Basis in der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils hat. Diese Kirchenvision hat – bei aller bleibenden Bruchstückhaftigkeit – in der Weltkirche ihre Verwirklichung gefunden.

Unsere Kirche ist weltweit de facto nicht eine zentralistisch straff und hierarchisch organisierte internationale Institution, sondern eine multikulturelle Gemeinschaft von Teilkirchen und Ortsgemeinden, in denen sich die eine katholische und apostolische Kirche auf je verschiedene Art und Weise inkulturiert und sichtbar Gestalt annimmt. Nur so wird sie für Menschen verschiedener Völker und Kulturen erfahrbar und lebbar.

Katholizität, wie sie das Konzil versteht, bedeutet Einheit, aber nicht Uniformität. Das Marken- und Gütezeichen der katholischen Kirche ist ihre spannende und deshalb auch spannungsreiche Vielfalt. Das gilt vor allem für die Gemeindeentwicklung, durch die die eine katholische und apostolische Kirche vor Ort sehr verschiedene Sozialgestalten angenommen hat. Das ist theologisch legitim und pastoral lebensnotwendig.

Ohne hier die Einzelheiten der Ortskirchentheologie des II. Vatikanischen Konzils zu entfalten, sei nur darauf verwiesen, dass nach der Lehre des Konzils „diese Kirche wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend ist“ (II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, n. 26).

Das Konzil hat dann in derselben Nummer der Kirchenkonstitution in einer prophetischen Vision auf eine Gestalt der Kirche hingewiesen, die inzwischen millionenfach Wirklichkeit geworden ist: „In diesen Gemeinden, auch wenn sie arm und klein sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig“ (Kirchenkonstitution, n. 26).