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Im Film ergänzte Sequenzen

Staudte fügte einige Sequenzen ein, um die Hinweise auf die Defizite, ja die manifesten Fehler der wilhelminischen Gesellschaft zu verstärken: Im ersten Teil des Films geht der Student Mahlmann mit Diederich – bezahlt von Letzterem – in das Kabaretttheater »Elysium«. Dort tritt ein Sänger in preußischer Offiziersuniform auf. Es gibt einen Chor von Tänzerinnen, die in Corsagen mit angedeutetem Uniformcharakter und Pickelhauben singen:

Es jauchzen die hellen Trompeten,

wenn wir zur Parade ziehn.

Mit Pauken und Schellen und Flöten.

Es jubelt uns zu Berlin.

Denn wir sind Klasse,

wir haben Rasse.

Wer nicht pariert,

wird füsiliert.

Wir sind des Kaisers Soldaten,

die Stütze von Altar und Thron.

Die ganze Welt kennt unsere Taten,

wir sind die Elite der Nation.

Die ganze Welt kennt unsere Taten,

wir sind …

wir sind die Elite der Na-ti-, der Na-ti-on.

Die Augen links, Augen rechts, Brust raus.

Die ganze Welt kennt unsere Taten,

wir sind die Elite der Na-ti-, der Na-ti-on.26

Im Gesang ist Na-ti-on gleichlautend mit Na-zi-on. Dazu zeigen die Tänzerinnen in der Choreografie einen angedeuteten Hitlergruß.

Des Weiteren gibt es im Film einen Liedervortrag von Agnes Göpel (Gesang) und Diederich (Klavierbegleitung). Agnes singt »Der schönste Platz, den ich auf Erden hab, das ist die Rasenbank am Elterngrab«. Ihr romantischer, melancholischer Charakter, der im Roman und im Film auch an anderer Stelle für sie bezeichnend ist, wird dadurch erneut besonders betont.27 Es folgen einige andere Hinzufügungen und, zum Schluss des Films, die sicher wichtigste Änderung und Ergänzung im Film gegenüber dem Roman.

Der Untertan (1951, Wolfgang Staudte): Werner Peters

Das Ende der Geschichte – zwei Fassungen


Der Untertan (1951, Wolfgang Staudte)

Heinrich Manns Erzählung endet fast unmittelbar nach dem Desaster der Einweihungszeremonie des Denkmals für Wilhelm I. Sturm und Gewitter, Blitz und Donner, heftigster Regen haben alle Zuschauer, die Ehrengäste, die Militärs, die Zivilisten und die Kapelle vertrieben. Kaum dass man noch daran dachte, Diederich Heßling den für ihn vorgesehenen Orden zu überreichen. Diederich erinnerte »sich seines Ordens: ›Der Wilhelms-Orden, Stiftung Seiner Majestät, wird nur verliehen für hervorragende Verdienste um die Wohlfahrt und Veredelung des Volkes … Den haben wir!‹ sagte Diederich laut in der leeren Gasse. ›Und wenn es Dynamit regnet!‹«28 Die Exzellenz hatte ihn auf der Flucht vor dem Unwetter an den Präsidenten von Wulkow weitergereicht, der ihn wiederum an einen Schutzmann übergab. Der fand schließlich Diederich »unter dem Rednerpult, im Wasser hockend. ›Da hamse’n Willemsorden‹, sagte [der Schutzmann] und machte, daß er weiterkam, denn gerade schlug ein Blitz ein, so nahe, als sollte er die Verleihung des Ordens verhindern.«29 »Der Umsturz der Macht von Seiten der Natur war ein Versuch mit unzulänglichen Mitteln gewesen. Diederich zeigte dem Himmel seinen Wilhelms-Orden und sagte ›Ätsch!‹ – worauf er ihn sich ansteckte, neben den Kronenorden vierter Klasse.«30

An dieser Stelle trennen sich die Erzählstränge von Roman und Film. Im Roman folgt zum Abschluss der Tod des alten Herrn Buck: Nach dem chaotischen Ende seiner Rede zur Einweihung des Denkmals macht sich Diederich auf den Weg, ohne Hut, mit Wasser in den Schuhen und »in der rückwärtigen Erweiterung der Beinkleider trug er eine Pfütze mit sich herum.«31 Auf dem Heimweg kommt Diederich am Haus des alten Herrn Buck vorbei. Die Haustür steht offen, Diederich empfindet einen seltsamen Schauer, als er sich ins Haus schleicht. Vom dunklen Flur aus sieht er in das Sterbezimmer, in dem der alte Herr Buck im Bett sitzt, mit dem Blick in eine andere Welt. Um ihn herum seine Kinder und Schwiegerkinder, die aber Diederich von ihren Plätzen aus nicht sehen können. Das Gesicht des Sterbenden spiegelte Erscheinungen wider, die durch ihr »Kommen dies geisterhafte Glück hervorrief(en) in den Zügen des alten Buck? Da erschrak er, als sei er einem Fremden begegnet, der Grauen mitbrachte: erschrak und rang nach Atem. Diederich, ihm gegenüber, machte sich noch strammer, wölbte die schwarzweißrote Schärpe, streckte die Orden vor, und für alle Fälle blitzte er. Der Alte ließ auf einmal den Kopf fallen, tief vornüber fiel er ganz, wie gebrochen. Die Seinen schrien auf. Vom Entsetzen gedämpft, rief die Frau des Ältesten: ›Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!‹ Judith Lauer stand langsam auf und schloß die Tür. Diederich war schon entwichen.«32

Im Film dagegen bezieht Staudte für seinen Schluss die Zeitgeschichte seit 1933 mit ein, insbesondere die Folgen des Zweiten Weltkriegs. Damit fügte er die vermutlich wichtigste und deutlichste Änderung, eine Ergänzung und Fortführung Heinrich Manns hinzu: die Weiterführung der Geschichte in die Aktualität. Am Schluss sieht man das im Film gerade erst eingeweihte Denkmal Kaiser Wilhelms im zerbombten Netzig.33

Nach Diederichs Rede zur Einweihung des Denkmals verzeichnet die Montageliste:


EinstellungBildinhaltStimmeToninhaltMeter (35 mm)
506.Der leere Festplatz, Diederich hat sich unter der Plane hervorgearbeitet, geht zum Denkmal, stellt sich davor
507.Das Denkmal im Regen, von unten gegen den Himmel aufgenommen0,7
508.Nähere Einstellung. Diederich vor dem Denkmal, verneigt sich, richtet sich auf und blickt zum Denkmal herauf2,7
509.Das Denkmal gegen den Himmel aufgenommen, wird vom dunklen Rauch ganz eingehülltMusikalische Untermalung [»Lieb Vaterland magst ruhig sein …«, »Die Fahne hoch …« und die Fanfare der Deutschen (Kriegs-) Wochenschau]11,0
510.Blendet (völlig ab) auf Totale – Denkmal. Im Hintergrund die zerstörten Häuser von Netzig. Überall liegen Trümmer, Frauen räumen Schutt in Loren und fahren über den PlatzDiederich:Eine solche Blüte erreicht ein Herrenvolk aber nicht in einem schlaffen, faulen Frieden. – Nein! Nur auf dem Schlachtfeld wird die Größe einer Nation mit Blut und Eisen geschmiedet.18,6
Sprecher:So rief damals Diederich Heßling und riefen nach ihm noch viele andere – bis auf den heutigen Tag.
Abblende bis schwarz1,8

Resümee

Das Konzept des Drehbuchs sah sicherlich vor, eine Reduktion des Umfangs der Erzählung ohne wesentliche Verluste an Inhalt zu erreichen. Die Herausforderung bestand in der Umsetzung von literarischen Episoden in filmische Sequenzen, von Stimmungen bzw. der abstrakten Aussagen des Romans in konkrete Filmsprache, bei gleichzeitiger Beibehaltung einer kritisch-satirischen Grundstimmung. Die Varianz dieses Konzepts lautete Kürzung und Kondensierung, es reichte von der wörtlichen Übernahme der Formulierungen Manns, über Kürzungen ganzer Passagen des Romans bis zu den Änderungen der auftretenden Personen. Im Wesentlichen bestand es aus folgenden Komponenten: Weglassen, Priorisieren, Modifizieren und Ergänzen.

Zeitgenössische Ereignisse der Kaiserzeit, insbesondere politischer Natur, werden weniger wichtig. So tauchen der Auftritt des Kaisers beim Arbeiteraufstand und die Diskussion über den Wehretat nicht auf.

Eine Ausnahme bildet die Erschießung eines Arbeiters, und die daraufhin erfolgte Beförderung des Militärposten, aber dies hat vermutlich mehr mit der antimilitaristischen Haltung Staudtes und weniger mit dem Bestreben der politischen Führung der DDR jener Zeit zu tun, die Rolle der Opfer und vor allem der Vorkämpfer des Proletariats, der Klassenkämpfer, in den Filmen der DEFA hervorzuheben. Allerdings wurde dennoch auch im Fall von Staudtes DER UNTERTAN von politischer Seite bemängelt, die Rolle des Proletariats sei nicht hinreichend gewürdigt. Diese Kritik wurde schon nach Abschluss der Arbeiten am Drehbuch geäußert, aber von DEFA-Direktor Sepp Schwab als nicht mehr revidierbar zurückgewiesen.34

Insgesamt ist die Geschichte des Romans kürzer, aktueller, vor allem aber zeitloser geworden.

Satire ist es geblieben: »Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.«35 Der erste Satz des Romans und auch des Films. Die manifeste Verbindung von Träumerei und Ohrenleiden bespöttelt in ihrer Absurdität Diederichs spätere schizophrene Lebensführung, sein Herrschen und sein Leiden, sein Treten und sein Getreten-Werden. Schon zu Beginn beider Werke eine ironische Metapher für sein Wesen und seinen Untertanengeist. Noch viel deutlicher im Buch als im Film, in der Hochzeitsnacht, in der Diederich den Geschlechtsakt ankündigt: »Bevor wir zur Sache selbst schreiten […] gedenken wir Seiner Majestät unseres allergnädigsten Kaisers. Denn die Sache hat den höheren Zweck, daß wir Seiner Majestät Ehre machen und tüchtige Soldaten liefern.«36 Durch die absurde, vermeintliche Überhöhung wird die Persiflage deutlich. Man lächelt oder lacht über den Protagonisten, er wird enttarnt, Satire eben!

Buch und Film wurden vor 106 bzw. 69 Jahren abgeschlossen. Bei all den Änderungen in unserer Sprache, auch in der Filmsprache, haben sie noch immer ihre satirische Wirkung behalten. Die Betrachtung der beiden unterschiedlichen Schlüsse zeigt nachdrücklich, worum es den beiden Autoren Mann und Staudte ging, nämlich die im eigentlichen Sinne fatale Wirkung des Untertanengeistes aufzuzeigen. Bei Mann stirbt stellvertretend für die Demokratie der alte Buck. Bei Staudte geht es um den Krieg, auch eine Folge des Untertanengeistes, an dem fast die Menschheit zugrunde geht.

Für beide Werke gilt: Das Lachen bleibt einem im Halse stecken.

1 S. www.filmportal.de/thema/die-wichtigsten-deutschen-filme-chronologische-uebersicht. — 2 Vgl. Ralf Schenk: Mitten im kalten Krieg 1950 – 1960. In: Filmmuseum Potsdam (Hg.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. Berlin: Henschel 1994, S. 50-157, hier S. 67 f. — 3 Ignaz Wrobel [= Kurt Tucholsky], in: Die Weltbühne, Nr. 13, 20.3.1919, S. 317. — 4 Alle folgenden Zitate aus dem Roman zit. nach: Heinrich Mann: Der Untertan. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1964; Zitate aus dem Film zit. nach: Montageliste. In: Bundesarchiv, BArch DR 117/15200, undatiert, 97 Seiten. — 5 Mann, a.a.O., S. 5. — 6 Ebd., S. 6-8. — 7 Ebd., S. 33. — 8 Montageliste, a.a.O., S. 18-19, 47. — 9 Ebd., S. 23 f., 26. — 10 Ebd., S. 75, 91-93. — 11 Montageliste, a.a.O., S. 93; Mann, a.a.O., S. 306. — 12 Montageliste, a.a.O., S. 15; vgl. Mann, a.a.O., S. 22. — 13 Montageliste, a.a.O., S. 20; Mann, a.a.O., S. 36. — 14 Montageliste, a.a.O., S. 83; Mann, a.a.O., S. 279. — 15 Montageliste, a.a.O., S. 67 f. — 16 Mann, a.a.O., S. 9-10. — 17 Ebd., S. 92. — 18 Ebd., S. 93-95. — 19 Ebd., S. 35. — 20 Ebd., S. 63. — 21 Ebd., S. 266-268. — 22 Der Autor bedankt sich für die fruchtbare Diskussion im Anschluss an seinen Vortrag während des Filmhistorischen Kongresses am 21.11.2019. Die im Folgenden dargestellten Überlegungen schließen daran an. — 23 Vgl. wikipedia.org/wiki/Julius_Meyer_ (Politiker, 1909); wikipedia.org/wiki/Paul Merker (4.1.2020). — 24 Vgl. Thomas Haury: Antisemitismus in der DDR. Hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung, 28.11.2006; bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37957/antisemitismus-in-der-ddr (7.5.2020). — 25 Mann, a.a.O., S. 45. — 26 Montageliste, a.a.O., S. 9 f. — 27 Ebd., S. 11. — 28 Mann, a.a.O., S. 362. — 29 Ebd., S. 360. — 30 Ebd., S. 362. — 31 Ebd. — 32 Ebd., S. 363 f. — 33 Montageliste, a.a.O., S. 97. — 34 Vgl. Schenk, a.a.O., S. 71. — 35 Mann, a.a.O., S. 5; Montageliste, a.a.O., S. 2. — 36 Mann, a.a.O., S. 276; Montageliste, a.a.O., S. 80 (dort gekürzt).


Hin und Her (1947/48, Theo Lingen): Theo Lingen

Heike Klapdor »MEIN SCHICKSAL IST ROMANTISCH« Der Künstler und die Lächerlichkeit der Autoritäten: HIN UND HER

Der Krieg ist aus. Die Städte liegen in Trümmern. Rauch steigt aus der Asche der Lager und der Ruinen. Ungezählte, ungeborgene Tote. Physisch und moralisch verwahrloste Überlebende, traumatisiert von Krieg und Niederlage, vom Holocaust, von der Vertreibung. Displaced Persons irren im Chaos einer aufgelösten staatlichen Ordnung und zwischen aufgehobenen oder neuen Grenzen umher.

Der räumlichen Bewegung korrespondiert eine mentale, sie sucht in einer in Unordnung geratenen Welt nicht nur verbindliche Regeln, sondern metaphysische Antworten und politische Orientierung. Sie in der Flucht aus der Geschichte, vor der Gegenwart und in die Illusion finden zu wollen, legt es nahe, den medialen Formen aus dem Weg zu gehen, die Bewusstsein und Erkenntnis provozieren, erst recht, wenn sie wie die Satire zugleich moralisch und ästhetisch herausfordern. Die Satire ist unmittelbar nach dem Krieg eine »displaced art«.

Satire

Die Kunstform der Satire ist ein Kind der Aufklärung. Nicht im literaturhistorischen Sinn des 18. Jahrhunderts, über das hinaus sie bis in die Antike zurückreicht. Sondern im Sinne eines strategischen Literatur- und Kunstbegriffs, dessen in seinem programmatischen Moralismus liegende Grenzen allerdings die Kritik der Aufklärungskritik vorführt. Die satirische »Entlarvungskritik«1 macht als Instrument einer aufklärerischen Wahrheitsfindung der moralischpolitischen Anklage Konkurrenz und verkleidet so ihren ebenso moralischen Angriff.

Als hybride und parasitäre Gestalt ahmt die Satire in den geliehenen Kostümen medialer Formen den Gegenstand ihrer Indignation verfremdend nach. Sie übertreibt, überzeichnet, verschärft und entstellt das Objekt der Entlarvung zur kontextuellen Kenntlichkeit, sie vertraut dabei auf das Rezeptionsvermögen des Publikums und schließt mit ihm einen Solidarisierungspakt, sie legt das Publikum sicherheitshalber ans Gängelband der direkten Anrede, und sie gewinnt ihr Publikum durch Lachen, den Effekt einer Inkongruenz von komischer Darstellung und satirischer Absicht.

Bürokratie als machtstabilisierendes, autoritäres, absurd entleertes, sprichwörtlich kafkaeskes System ist ein traditioneller Komödienstoff. Als kongeniales Objekt der Satire wird die Bürokratie der Lächerlichkeit preisgegeben und auf diese Weise entmachtet, etwa in Nikolai Gogols »Der Revisor« (1836) oder Carl Zuckmayers »Der Hauptmann von Köpenick« (1931), im selben Jahr in der Regie von Richard Oswald verfilmt; in der filmischen Bearbeitung des »Revisor«, EINE STADT STEHT KOPF (1932), hatte der Regisseur Gustaf Gründgens Theo Lingen besetzt.

Das bürokratisch verwaltete, die Identität des Menschen als soziale Existenz beglaubigende Passwesen reguliert nach Kriegsende den Strom der zu Displaced Persons gewordenen Überlebenden der Shoah und der staatenlosen Rückkehrer. 300.000 Menschen, die den Vernichtungslagern in Osteuropa entkommen waren, fanden 1945 Zuflucht in über 180 Aufnahmelagern, die die Alliierten auf dem Terrain der Mörder eingerichtet hatten. Mit dem Leben davongekommen, aller Güter beraubt und bar aller Papiere, hielten sie sich in einer Art exterritorialem Raum auf.

Ödön von Horváth: »Hin und Her« (1933) – Theo Lingen: HIN UND HER (1947/48)

Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund entwickelt Theo Lingen den Nachkriegsfilm HIN UND HER. Er adaptiert das Schauspiel »Hin und Her« (1933), eine »Posse mit Gesang« des österreichischen Schriftstellers Ödön von Horváth. Mit dem Anfang der 1930er Jahre auf deutschen Bühnen Skandal machenden und 1938 im pariser Exil tödlich verunglückten Dramatiker war Lingen seit gemeinsamen Filmarbeiten 1934 befreundet.2

Der Film wird von der Johann Alexander Hübler-Kahla Filmgesellschaft in den 1919–23 erbauten wiener Filmateliers am Rosenhügel produziert. Theo Lingen hatte 1933/34 in CSIBI, DER FRATZ (Max Neufeld, Künstlerische Oberleitung: Richard Eichberg), dem ersten Tonfilm des modernsten österreichischen Filmstudios, eine für ihn typische Dienerfigur gespielt. 1947 spielt Lingen in HIN UND HER als sein eigener Hauptdarsteller neben dem berliner Stummfilmstar Dagny Servaes, die seit 1936 in Wien lebt und von 1938 bis 1946 zum Ensemble des Theaters in der Josefstadt gehört, und dem österreichischen Bühnenkünstler Fritz Eckhardt, der der rassistischen Verfolgung entkommen war und das wiener Nachkriegskabarett prägt. Lingen besetzt mit Curd Jürgens3 und O. W. Fischer4 zwei junge Theater- und Filmschauspieler, deren Nachkriegskarrieren damit beginnen. Die weibliche Doppelrolle vertraut der Regisseur seiner Tochter Ursula Lingen an.

Trotz des eskapistischen Gestus Horváths, er habe bei dem Bühnenstück über Grenzregimes »an keinen der existierenden Staaten speziell gedacht«, war die Uraufführung am Deutschen Nationaltheater in Wien 1933 nach rechtsnationalen Tumulten abgesagt worden; stattdessen brachte das Schauspielhaus Zürich das Stück im Dezember 1934 heraus.

Hin und Her (1947/48, Theo Lingen): Theo Lingen (links)

1933 hatte Horváth gegenüber der Wiener Allgemeinen Zeitung den »unwahrscheinlich[en]«, aber »wahr[en] Zufall« eines tatsächlichen Grenzkonflikts auf einer Brücke zwischen der Tschechoslowakei und Polen erwähnt.5 Sein Stück imaginiert dieses »Schicksal eines Mannes, der aus einem Staat ausgewiesen […], aber in den Nachbarstaat nicht eingelassen [wird] und […] nun gezwungen [ist], eine Zeitlang auf der Brücke zu hausen […], die über den Fluß gelegt ist, der die Grenze zwischen den beiden Staaten darstellt.«6

1945 verläuft eine solche Grenze im von den alliierten Siegermächten besetzten Österreich als Zonengrenze zwischen der zunächst britischen, dann amerikanischen Besatzungszone und der sowjetischen entlang des Flusses Enns zwischen Ober- und Niederösterreich. Im österreichischen Admont, wo die Grenze in der Mitte der Brücke über die Enns verläuft, hat die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) das größte DP-Lager der Steiermark eingerichtet.7

Horváths Stück wird 1946 am wiener Theater in der Josefstadt zum ersten Mal in Österreich gezeigt, die Theaterkritik sieht eine »durch die Ereignisse […] unheimlich aktualisierte Posse«.8 Die österreichischen Star-Film-Nachrichten kündigen 1947 einen Film »mit ernsthaftem Hintergrund« an, der ein Schicksal zeige, »das heute das Los von Millionen Menschen ist«.9

Von Horváths ironischem Zugeständnis in der Regieanweisung abgesehen, es gäbe immerhin »schöne Wolken«,10 ist das Stück ein abstraktes Kammerspiel. Der hochartifizielle Text über Dislokation und Exklusion bedient sich der allegorischen Figur der Brücke als eines exterritorialen Zwischenraums und macht die Brücke zum Schauplatz einer Versuchsanordnung über den Begriff der Grenze. Die Regierungspräsidenten auf dem linken und rechten Ufer heißen »X« und »Y«.11

Horváths Sprache demaskiert die Absurdität der Gesetze: »(Havlicek) […] wohin gehör ich denn dann bitte? – (Konstantin, ein Grenzorgan) Dann nirgends. – (Stille) – (Havlicek lächelt) ›Nirgends‹ – Unfug. Man ist doch immerhin vorhanden. – (Konstantin) Gesetz ist Gesetz. – (Havlicek) Aber solche Gesetze sind doch unmenschlich, – (Konstantin) Im allgemeinen Staatengetriebe wird gar oft ein persönliches Schicksal zerrieben. – (Havlicek) Schad.«12

In der räumlichen Bewegung des Hin und Her exekutieren die staatlichen Repräsentanten ein Grenzregime, das zwölf Jahre nach Horváths Bühnen-Experiment der Praxis in den österreichischen Besatzungszonen entspricht: Um die Demarkationslinien zu überschreiten, bedurfte es eines von den Alliierten ausgestellten Identitätsausweises in vier Sprachen mit insgesamt elf Stempeln. Von einem gültigen österreichischen Pass hing die Reisegenehmigung der sowjetischen Besatzungsbehörde ab.13 Der Horváthsche Protagonist, eine Displaced Person, gälte ab 1951 nach den Statuten der Genfer Konvention als Flüchtling: Als Flüchtling anzusehen ist jede Person, die sich »außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann […], oder die sich als staatenlos infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann [oder] will.«14

Lingen hat in Horváths Stück das so moralische wie unterhaltende Potenzial der Satire erkannt und begibt sich »auf das Terrain der politischen Satire«.15 Geschliffen an den performativen Strategien des Entstellens von Karl Valentin, des Enthüllens bei Horváth und des Verfremdens bei Bertolt Brecht, erfasst der präzise Schauspieler und Regisseur Theo Lingen den schwank- und possenhaften und den politisch-kritischen Gehalt des Stücks. Lingen unterhält ein Publikum, das seinen kulturellen Traditionen nachtrauert, mit den Mitteln der Komödie, ein beliebtes Genre mit stilistisch hohem Wiedererkennungseffekt. Am 23.1.1948 hat Lingens Film HIN UND HER in Linz, 120 km von Admont entfernt, Premiere.16

In Lingens filmischer Adaptation verbindet bzw. trennt die Brücke nun zwei Operettenstaaten: Gleichermaßen korrupt und autokratisch, unterscheidet sich die Monarchie Lappalien nicht von der Republik Bagatello. Ihre Machtarchitektur ist 1947 in Österreich – das bekanntlich an Italien grenzt – in den Filmbauten identifizierbar: Die feudale Herrschaftsarchitektur ist alpenländisch dekoriert, die republikanische lehnt sich an Mussolinis Moderne an.

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