Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht

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Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum

Seddik Bibouche

Kultur und Integration, zwei in spätmodernen Zeiten stark strapazierte Begriffe, bilden in diesem Beitrag die Hintergrundfolie. Für beide gilt, was der amerikanische Anthropologe James Clifford für Kultur schon formuliert hat: er sei „ein zutiefst kompromittierter Begriff, aber ohne ihn geht es nicht“ (zit. nach Siebel 2016: 27). Aus diesem Grund werden beide als wichtige Achse meines Beitrages zur Frage, was passiert, wenn unterschiedliche Kulturen sich im öffentlichen Raum begegnen, am Anfang behandelt. Dann wird der öffentliche Raum und die ihm inhärenten Logiken erfasst, um schließlich zu der eigentlichen Fragestellung zu kommen: Was geschieht, im Sinne von gesellschaftlicher Integration, wenn unterschiedliche Kulturen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen?

Kultur – Kulturen – kulturelle Prägung

Man kann sich ewig streiten über den Begriff der Kultur und ihn auf sehr unterschiedliche Weise definieren. In der Fachliteratur spricht man von über „einhundertfünfzig Kulturbegriffe(n) aus Ethnologie und Anthropologie“ (Ort 2003: 23). Dabei existieren Welten zwischen deterministischen Modellen wie der Systemtheorie von Luhmann, in der Kultur lediglich als „Gedächtnis der sozialen Systeme“ (ebd.: 30) betrachtet wird, und der Tradition der verstehenden Soziologie, in der Kultur „das von den Mitgliedern einer Gesellschaft selbst gesponnene Bedeutungsgewebe ist“ (ebd.: 34). Im ersten Fall ist das Individuum eher machtlos gegenüber bestimmten kulturellen Abläufen und Gesetzmäßigkeiten, im zweiten kann der Mensch in Interaktion mit anderen Individuen durch gezielte Handlungen Einfluss auf die allgemeine kulturelle Entwicklung nehmen. Zwischen diesen beiden Polen wurden im Laufe der Geschichte alle möglichen Aspekte und Nuancen des Phänomens Kultur behandelt und beschrieben. Allerdings wurde bei keinem Versuch die Diffusität des Begriffes aufgehoben, durch keine Definition und keinen kulturtheoretischen Ansatz. Dennoch ist es möglich, sich aus der Fülle der Theorievorschläge einiger zu bedienen, die für das hier behandelte Thema fruchtbar sind. Vier erscheinen mir besonders geeignet. Ich werde sie im Folgenden vorstellen.

Als erste sei die Habitustheorie von Pierre Bourdieu (1979; 1983) genannt, die ein hervorragendes Analyseinstrument liefert, das wiederum für das Verstehen von Begegnungen im öffentlichen Raum hilfreich ist. Habitus ist für Pierre Bourdieu ein Dispositionssystem der sozialen Akteure, welches das Fundament ihrer sozialen Praxis darstellt und ihr Verhalten in der Öffentlichkeit steuert. Wie die Menschen ihre gesellschaftliche Praxis gestalten, also wie sie ihre Umwelt wahrnehmen, erfahren, erkennen und in ihr agieren, steht immer in unmittelbaren Zusammenhang mit ihrem Habitus. Habitus bedeutet nicht nur Disposition, sondern gleichzeitig auch „Haltung, Erscheinungsbild, Gewohnheit, Lebensweise“ (Schwingel 1998: 54) bzw. „Körperhaltung, ästhetische Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster (‚Geschmack‘), die sich vor allem als ‚Aversion‘ äußern, soziale Wahrnehmungsmuster und Haltungen und schließlich kognitive und normative Deutungsmuster“ (Lutz 1991: 41). Habitusformen sind also dauerhafte Dispositionen bzw. inkorporierte Programme der sozialen Akteure, die sich in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen. Sie sind nur schwer und langsam veränderbar, weil sie Produkt der Geschichte sind, in der die aktive Präsenz früherer Erfahrungen eine zentrale Rolle spielt (vgl. Bourdieu 1993: 101). Die Berücksichtigung der Theoriekomponente Habitus im Sinne von Pierre Bourdieu ist ein wichtiger Schlüssel zur Deutung der Grammatik von Kulturen-Begegnungen im öffentlichen Raum. Denn im öffentlichen Raum werden immer wieder nur solche Personen geduldet, die den „adäquaten Habitus aufweisen“ (Kuhn 2016: 220). Dies ist nicht zufällig, denn „öffentlicher Raum ist immer auch exklusiver Raum. Verschiedene Städte in verschiedenen historischen Epochen unterscheiden sich vor allem darin, wer auf welche Weise aus welchen Räumen draußen gehalten wird: Heute sind es Obdachlose, Drogenabhängige und Gruppen ausländisch wirkender, männlicher Jugendlicher. Im 19. Jahrhundert waren es Frauen und das Proletariat“ (Siebel zit. nach Kuhn 2016: 213).

Der zweite Theorievorschlag findet sich in den Arbeiten des in seiner Zeit bekannten „Center for Contemporay Cultural Studies“ (CCCS) in Birmingham, der für das Verstehen von Begegnungen im öffentlichen Raum ebenfalls fruchtbar für die Praxis angewandt werden kann: im CCCS verstand man unter Kultur „eine Art historisches Reservoir – ein vorab konstituiertes Feld der Möglichkeiten – das die jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen aufgreifen, transformieren und weiterentwickeln. Jede Gruppe macht irgendetwas aus ihren Ausgangsbedingungen, und durch dieses Machen, durch diese Praxis werden kulturelle und gesellschaftliche Bedeutungsmuster reproduziert und vermittelt. Aber diese Praxis findet nur in dem gegebenen Feld der Möglichkeiten und Zwänge statt“ (Clarke 1979: 41). Mit der gebotenen Vorsicht impliziert dies für jede gesellschaftliche Gruppe potentiell die mögliche Einflussnahme auf die allgemeinen Normen und Werte in einem Gemeinwesen. Aus diesem Grund wurden Subkulturen in den Analysen des CCCS nicht als Übel, sondern als „Ort des Widerstandes und der produktiven Aneignung potentiell mehrdeutiger Inhalte angesehen“ (Lutter / Reisenleitner 2001: 36). Diese Sichtweise passt besonders gut zur kritischen Betrachtung von Vielfalt im Sinne kultureller Interaktionen, Begegnungen, Konflikte und Emergenz neuer kultureller Ausdrucksformen im öffentlichen Raum, in dem man wie nirgendwo sonst das kreative und z. T. krude Aneinanderreiben einander fremder Kulturen beobachten kann. Dabei sind eben diese Reibungen als „gesellschaftliche Verständigungs- und Aushandlungsprozesse und als solche systemimmanent und funktional notwendig“ zu betrachten (Keding 2009: 38).

Neue kulturelle Erscheinungen bzw. Verhaltensweisen, die mit der Vielfalt und Diversität im Öffentlichen Raum aufkommen, weichen manchmal erheblich von den vorherrschenden Mustern ab, was die Anpassungsprozesse durch Konflikte im öffentlichen Raum begründet. Hier kommen wir zur dritten Analysebrille und damit zu einem ursoziologischen Thema: dem abweichenden Verhalten. Die Frage ist dabei nicht, ob abweichendes Verhalten normal ist, schließlich wissen wir spätestens seit Emil Durkheim um die strukturelle Normalität des abweichenden Verhaltens, weil es eben keine funktionierende Gesellschaft ohne abweichendes Verhalten geben kann. Das Ziel der Schaffung einer kriminalitätsfreien Gesellschaft ist so gesehen nicht nur unrealistisch, sondern im Sinne einer integrierten, sich entwickelnden Gesellschaft auch nicht hilfreich für diese (vgl. Durkheim 1984: 155 ff.). Durkheim geht noch weiter und stellt fest, dass das abweichende Verhalten von heute durchaus die Norm von morgen sein kann. Die Kulturgeschichte der Menschheit ist die permanente Bestätigung dieser Logik. Aktuell braucht man nur auf die Entwicklung der allgemeinen Haltung gegenüber unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen hinzuweisen. Also geht es bei neuen kulturellen Erscheinungen im öffentlichen Raum nicht um das konservative Lamentieren über eine unbekannte soziale Grammatik des Alltagslebens im öffentlichen Raum, sondern um den möglichst fruchtbaren Umgang damit, also um die Integration der diversen neuen kulturellen Phänomene. Bevor ich mich aber dem Begriff der Integration widme, gehe ich auf eine für das Thema Kultur weitere relevante Theoriekomponente ein.

Auf dem Weg zur Integration unterschiedlicher kultureller Muster ist die vielleicht größte Hürde das, was Herbert Marcuse in den 1960er-Jahren unter der Formel „affirmativer Charakter der Kultur“ subsumiert hat. Hierbei geht es darum, dass sich bestimmte bürgerliche Vorstellungen über „gute Kultur“ trotz permanenter kultureller Umwälzungen und Modernisierungsprozesse hartnäckig erhalten. Diese Vorstellungen von „guter Kultur“ beeinflussen wiederum bewusst oder unbewusst auch Multiplikatoren/innen, Politiker/innen, Sozialarbeiter/innen und deren Konzepte für die Praxis einer Integrationsarbeit. Insofern handelt es sich dabei nicht nur um eine abstrakte Ideologie, sondern vielmehr um eine verbindliche Orientierung für ein konkretes Handlungsinstrumentarium im Dienste von Kultur-, Sozial- und Integrationspolitik. Dazu Marcuse: „Unter affirmativer Kultur sei jene der bürgerlichen Epoche angehörige Kultur zu verstehen, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum ‚von innen her‘, ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann“ (Marcuse 1965: 63). Es versteht sich dann von allein, dass die auf einer solchen Grundlage entwickelte Praxis, ob politisch, sozial oder pädagogisch motiviert, sich normativ an den von der herrschenden Kultur als gut definierten Verhaltensweisen orientiert, und sich verpflichtet fühlt, vermeintliche Abweichungen davon zu korrigieren, z. B. bei Migranten. Ein solcher Ansatz sorgt allerdings nicht nur disziplinierend für die Aufrechterhaltung von tradierten Machtverhältnissen entlang der Demarkationslinie Einheimische/Fremde ohne Rücksicht auf die Authentizität und Legitimität fremder Kulturen, er wirkt dadurch gleichzeitig kontraproduktiv auf die etablierten Kulturen selbst, denn eine Kultur, die sich nicht an neue gesellschaftliche Bedingungen anpasst, wird den unter anderem durch Migrationsbewegungen kommenden Herausforderungen nicht standhalten.

 

Fassen wir rekapitulierend die vier wichtigsten Bausteine zum Thema Kultur in Zusammenhang mit der Vielfalt im öffentlichen Raum zusammen. Jeder Mensch hat im Laufe seiner Geschichte einen Habitus entwickelt, der ihm als Orientierungssinn „hilft, sich innerhalb der sozialen Welt im allgemeinen und spezifischer Praxisfelder im Besonderen zurechtzufinden“ (Schwingel 1998: 57), besonders in der Öffentlichkeit. Wichtig dabei ist die Tatsache, dass ein Habitus sich nur langsam verändern kann. Habitus entwickelt sich innerhalb eines soziokulturellen Kontextes, auf einem Feld der Möglichkeiten, auf dem alle kulturellen Erscheinungen durch die Praxis diverser Gruppen transformiert und weiterentwickelt werden können. Diese weiteren Entwicklungen, weil sie neu sind, stellen oft vermeintlich bedrohliche Abweichungen innerhalb der etablierten Kultur mit ihrem affirmativen Charakter dar. Zwei Möglichkeiten bieten sich in dem Fall an: die Bekämpfung bzw. Disziplinierung der neuen und möglicherweise abweichenden kulturellen Phänomene oder ihre Integration.

Integration der Gesellschaft – Integration in die Gesellschaft

In diesem Abschnitt über Integration geht es um den in den letzten Jahren möglicherweise am kontroversesten diskutierten Begriff der Sozialwissenschaften. Vernünftigerweise kann man sich nicht am sozialwissenschaftlichen Diskurs beteiligen, ohne den Begriff Integration zu verwenden, weil er unmittelbar mit der Frage nach der sozialen Ordnung zusammenhängt, und „das Problem der sozialen Ordnung und das der Integration der Gesellschaften sind der zentrale Gegenstand des Nachdenkens über die Gesellschaften immer gewesen. Es ist die Frage, wie die Gesellschaft als eine Einheit in der Verschiedenheit ihrer Systeme und Akteure möglich ist, einer Verschiedenheit, die so spannungsreich und gerade darüber dann so leistungsfähig und damit zusammenhängend macht.“ (Esser 2000: 285) Das Hauptproblem bei diesem Begriff liegt zweifelsohne in der gängigen Gleichsetzung bzw. Verwechselung von Integration als Gesellschaft mit der Integration in die Gesellschaft (vgl. Treibel 2016: 33 ff.). Unter anderem deshalb ist der Begriff Integration zum Kampfbegriff mutiert. Er wird unzulässigerweise mit anderen Begriffen, Einstellungen, Haltungen oder Ideen verwechselt oder auch willentlich z. B. mit Assimilation gleichgesetzt. In der Debatte um die Integration von Flüchtlingen wird gelegentlich eben diese Forderung als Diskriminierung angesehen und als Rassismus bezeichnet. Diese Einschätzung speist sich aus dem Missverständnis, dass die Forderung nach Akzeptanz der rechtlichen Basis und vorherrschender Grundwerte, die in Summe für die Organisation und Gestaltung des Alltags wie auch das Selbstverständnis der Umgebungsgesellschaft – einschließlich der Gestaltung der Vielfalt des Öffentlichen Raums – von größter Bedeutung sind, eine unzulässige Beschneidung der Persönlichkeitsrechte bedeuten würde.

Die Forderung nach Assimilation wiederum beruht auf einer fremdenfeindlichen, xenophoben oder rassistischen Haltung, die der Illusion einer kulturell homogenen Gesellschaft unterliegen und deswegen von „den Fremden“ verlangen, sich auf eine Weise in die Gesellschaft einzugliedern, die sie nicht mehr als Andersartige erkennbar sein lässt. Insbesondere sollen sie das reibungslose Funktionieren der diversen Funktionssysteme der Gesellschaft nicht stören. Dafür werden Bedingungen benannt, welche, ganz im Sinne einer vermeintlich kulturell homogenen Gesellschaft, von den neuen Bevölkerungsgruppen erfüllt werden und bei den nachfolgenden Generationen dazu führen sollen, dass diese Gruppen voll und ganz unauffällig werden. Gefordert wird hier also nicht Integration, sondern Assimilation: in Erscheinung und Verhalten der Aufnahmegesellschaft angepasst oder vielmehr untergeordnet. Dass dies nicht geschieht, wird oft als Renitenz interpretiert, gefolgt von der Forderung nach restriktiven Maßnahmen mit der Vorstellung, damit Assimilation erzwingen zu können. In Wahlkampfzeiten blühen bei diversen Parteien die abstrusesten Vorschläge zum Thema Integration von Migranten bzw. Flüchtlingen. Der Begriff Integration wird also aus verschiedenen Perspektiven oder politischen Haltungen heraus missinterpretiert und missbraucht. Angesichts dieser Tatsache wird von Seiten mancher Sozialforscher*innen und politischer Gruppen immer wieder die Forderung laut, den Begriff Integration aufzugeben (vgl. Treibel 2016: 42). Das ist verständlich, allerdings erfüllt bisher keiner der vorgeschlagenen alternativen Begriffe die Erwartungen, und zwar weder semantisch noch soziologisch (ebd.). Dazu gesellt sich ist die Frage, ob die Wissenschaft immer dann neue Begriffe entwickeln muss, wenn vorhandene politisch oder ideologisch missbraucht werden. Ich halte es hier mit Judith Butler, die sich dazu wie folgt äußert: „das veränderliche Leben des Begriffs bedeutet nicht, dass er nicht zu gebrauchen ist. Wenn ein Begriff fraglich ist, soll das etwa heißen, dass wir also nur diejenigen Begriffe verwenden können, die wir bereits beherrschen? Wenn man einen Begriff befragt, warum sieht es dann so aus, also wollte man seine Verwendung verbieten lassen?“ (zit. nach Scherr 2006: 169). Das gilt im Übrigen nicht nur für den Begriff Integration, sondern genauso für den Begriff Kultur.

Im soziologischen Sinne hat der Begriff Integration eine lange und wichtige Tradition, auch wenn er als Idee unter sehr unterschiedlichen Konzepten und Begriffen in der Literatur erscheint und verwendet wird, und als Arbeitsinstrument in der Wissenschaft weiterentwickelt werden sollte (Treibel 2016: 43). Als Gegenbegriffe kennen wir z. B. die Desintegration, aber auch Segmentation, Anomie, Exklusion oder Ausgrenzung, abweichendes Verhalten, Devianz, Dissoziation, Segregation, Fragmentierung usw. Diese Begriffe haben alle ihre Berechtigung, weil sie jeweils besondere Aspekte der Nicht-Integration beschreiben. Sie sind sehr nützlich für eine differenzierte Diskussion, aber besonders interessant ist, dass alle uns mitteilen, was mit einer nicht integrierten Gesellschaft geschieht, dass diese nämlich zerfällt. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist die Voraussetzung für ihr Funktionieren. Und natürlich brauchen die einzelnen Teile der Gesellschaft, also die Gruppen und ihre Individuen, etwas Gemeinsames, damit die gesellschaftliche Integration gewährleistet wird. Um den Integrationsgrad einer sozialen Gruppe festzustellen, nennt Durkheim (1997) drei Dimensionen: die Zahl und die Intensität der Interaktionen zwischen den Individuen innerhalb der Gruppe, also eine eher zivile Dimension; das Teilen gemeinsamer Werte, in diesem Fall handelt es sich um eine moralische Dimension; und gemeinsame Ziele, was in etwa einer politischen Dimension entspricht. Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Theorie Durkheims muss noch erwähnt werden: Durch die Integration wird das Individuum nicht den gesellschaftlichen Zwängen unterworfen, sondern an sie gebunden.

Integration ist in der Tat zunächst nichts anderes als der Zusammenhalt von Teilen in einem systemischen Ganzen oder der Prozess der Eingliederung der einzelnen Individuen in eine Gruppe oder von einzelnen Gruppen in eine Gesellschaft oder von unterschiedlichen Individuen oder Gruppen in ein Ganzes. Integration ist nie starr und kann ganz unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Dadurch, dass es sich immer um einen dynamischen Prozess handelt, ist es nicht möglich, von einem Integrationsprozess zu sagen, dass er definitiv ist, weder definitiv gescheitert noch definitiv gelungen. Man kann bestenfalls durch bestimmte Zustandsindikatoren Tendenzen feststellen, die mit bestimmten Erscheinungen verbunden sind. Indikatoren können uns anzeigen, ob gerade eine Integration stattfindet oder sich umgekehrt abschwächt. „Ausgrenzung und Integration sind Verlaufsmuster, die sich durch die Richtung ihrer Bewegung unterscheiden: an den Rand der Gesellschaft oder in ihre Mitte“ (Häußermann / Siebel 2004: 17). Diese Feststellung verleiht der Diskussion eine optimistische Note, die für die Praxis wichtig ist, denn wenn Integration ein nicht endender gesellschaftlicher Prozess ist, besteht die Hoffnung, steuernd einwirken und die notwendigen Schritte in die richtige Richtung machen zu können. Solche Schritte können auf unterschiedlichen Ebenen, mit unterschiedlichen Schwerpunkten und mit unterschiedlicher Gewichtung gegangen werden. Es kann sich ebenso um politische Entscheidungen mit erheblicher Tragweite handeln wie auch um beiläufige Begebenheiten, denn „Integration gelingt oder misslingt in jeder kleinen alltäglichen Handlung“ (ebd.).

Integrationsprozesse selbst können in mehrere Dimensionen differenziert werden, wie etwa von der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages vorgeschlagen (Heckmann / Tomei 1999). Dabei wird zwischen struktureller, kultureller, sozialer und identifikatorischer Integration unterschieden. Die strukturelle Dimension beschreibt die rechtliche und berufliche Lage eines Individuums, die kulturelle Integration betrifft kognitive Aspekte wie die Sprache, die soziale Integration widerspiegelt Qualität und Quantität der Kontakte und Beziehungen und schließlich ist bei einer gefühlsmäßigen Bindung an das Einwanderungsland von der identifikatorisch Integration die Rede (vgl. Treibel 2016: 39 ff.). Die letzte Dimension der Integration entwickelt sich häufig erst bei späteren Generationen der Einwanderer. Alle vier Dimensionen der Integration können sich bei derselben Person sehr unterschiedlich und vor allem unabhängig voneinander entwickeln, zum Beispiel waren Arbeitsmigranten in Deutschland Jahrzehnte lang systemisch perfekt integriert, ohne Deutsch zu beherrschen und ohne private Kontakte zur einheimischen Bevölkerung zu haben.

Der öffentliche Raum

Auf den ersten Blick ist der öffentliche Raum eine simple Sache: es gehören alle Verkehrs- und Grünflächen dazu, in der Regel auch die Gewässer im Besitz einer Gemeinde oder Körperschaft des öffentlichen Rechts, die von dieser bewirtschaftet werden und für alle Menschen frei zugänglich sind. An dieser Stelle hört die simple Sache auf, denn ein „öffentlicher Raum, als jederzeit für jedermann, ohne jede Einschränkung zugänglicher Raum, hat niemals in irgendeiner Stadt existiert“ (Siebel 2016: 77). In der Tat ist die Liste der Orte lang, die auf dem ersten Blick als frei zugänglich erscheinen, es letztlich aber nicht sind. Genannt seien beispielsweise Bahnhöfe oder Einkaufszentren, die vollständig in privater Hand sind, auch wenn sie sich als öffentlicher Raum inszenieren (Kuhn 2016: 220). Dazu kommen diverse Gated Communities, abgeschirmte Hofquartiere (ebd.: 221) und nicht zuletzt die „Angsträume“; z. B. sind „Parkanlagen, in denen Frauen fürchten müssen, vergewaltigt zu werden … keine öffentlichen Räume“ (Siebel 2016: 79). Schließlich und endlich existiert der öffentliche Raum in allen Kulturen der Welt und unterliegt gleichzeitig Regeln, wobei diese je nach Epoche, Kulturraum oder Regime unterschiedlich ausfallen können. Der amerikanische Kulturanthropologe Edward T. Hall (1966) beschreibt sie anekdoten- und detailreich in umfangreichen vergleichenden Studien zu diversen Kulturen. Unterschiedliche Elemente wie die Gestaltung des öffentlichen Raums, die Kommunikations- und Bewegungsformen in ihm, die Grenzen der Intimität, die sinnliche Wahrnehmung der Umwelt durch die Akteure, das Verhältnis der Geschlechter, der Generationen und Klassen zueinander u. v. m. spielen dabei wichtige Rollen. Die genannten Studien mögen in Zeiten der Globalisierung zum Teil obsolet erscheinen, nichtsdestotrotz kann jeder Tourist noch heute ohne große Anstrengungen und ohne wissenschaftlichen Blick die bedeutenden Differenzen zwischen einem Markt in Nordafrika und einem in Deutschland wahrnehmen und damit die Ergebnisse der vergleichenden Studien von Hall aus der subjektiven Erfahrung heraus bestätigen. Das ist eine wichtige Feststellung angesichts der zunehmenden kulturellen Vielfalt im öffentlichen Raum im Zuge von größeren Migrationsbewegungen und daraus entstehenden Unsicherheiten. Jeder Mensch bewegt und benimmt sich im öffentlichen Raum zunächst entsprechend seiner Sozialisation. Hierbei existieren zwischen unterschiedlichen Kulturen reale Differenzen. Wenn nun unterschiedliche Kulturen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, treffen zwangsläufig auch diese Differenzen aufeinander. Viele dieser Differenzen mögen Konstruktionen sein, sie werden trotzdem gelebt, „zweifellos spielt Ethnizität heutzutage eine Rolle – Menschen identifizieren sich als Russen, Polen oder Türken und werden als solche gesehen; sie glauben, ihre ethnischen Zugehörigkeiten transportieren bestimmte Eigenschaften, oder sie bekommen diese Eigenschaften von außen zugeschrieben“ (Terkessidis 2010: 118 f.).

 

Zum öffentlichen Raum in Deutschland gibt es eine umfangreiche Literatur. Hier wird deutlich, dass der Umgang mit dem öffentlichen Raum, seine Gestaltung und Nutzung weder einheitlich noch zufällig oder neutral sind (vgl. Bernhard 2016). Alles was im öffentlichen Raum wahrgenommen wird oder im Verborgenen wirkt, ist Ergebnis „lange(r) Auseinandersetzungen, die auch mit den Mitteln des architektonischen Designs, also mit Symbolen geführt werden. Dabei geht es um sehr viel. Wer das Bild eines Raumes und die Regeln, die darin gelten, bestimmt, der entscheidet auch darüber, wer zu diesem Raum zugelassen wird.“ (Siebel 2016: 72) Weil aber der öffentliche Raum per se permanent und für alle zugänglich bleiben sollte, werden Segregationskriterien entwickelt, die die Homogenität indirekt gewährleisten sollen. So gilt die Grundregel, dass niemand belästigt werden darf und es „sollen Ekel oder anstoßerregende Merkmale und Verhaltensweisen aus dem öffentlichen Raum herausgehalten werden. Es handelt sich um ein Prinzip mit hohem Diskriminierungspotential, denn Menschen können auf zwei Weisen gegen es verstoßen: erstens wenn sie unter bestimmten Stigmata leiden … wie körperliche Behinderung und Hautfarbe, oder als Träger sozialer Merkmale, auf die sie keinen Einfluss haben“ (ebd.: 73 f.). Damit wird Exklusivität geschaffen und das Wesensmerkmal des öffentlichen Raums, nämlich die freie Zugänglichkeit, teilweise aufgehoben. Gleichzeitig wäre in globalisierten Zeiten die totale Kontrolle des öffentlichen Raums in einer liberalen und marktorientierten Gesellschaft kontraproduktiv für eben diese, und so kommt es dort trotz symbolischer oder konkreter Inklusionssperren doch zur kulturellen Vielfalt mit den zwangläufig dazu gehörenden Nutzungskonflikten (vgl. Kuhn et al. 2012: 203).