Die Kraft des Miteinander

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Die Kraft des Miteinander
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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold

Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Christoph Klein

Ben Furman (Hrsg.)

Die Kraft des Miteinander

Innovative Methoden

der Netzwerk- und

Gemeinschaftsarbeit in

Familien, Therapie, Schule

und Beratung

Mit einem Geleitwort von Gerald Hüther

2021


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagmotiv: Birdie © Ingo Maurer

Umschlagfoto: © Tom Vack

Redaktion: Veronika Licher

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0368-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8291-7 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Niederländischen übersetzt von Lotte Hammond

und aus dem Englischen übersetzt von Johannes Hampel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren

und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438 - 0 • Fax +49 6221 6438 - 22

info@carl-auer.de

Inhalt

Geleitwort

Einführung

1Wiedergutmachung – Das Tor zu neuer Resonanz im Miteinander

Philip Streit und Hanna Weber

Was ist Wiedergutmachung?

Welche Bedeutung hat Wiedergutmachung?

Was braucht es zur Wiedergutmachung?

Wie läuft ein Wiedergutmachungsprozess ab

Wiedergutmachung stärkt die Selbststeuerung und die Beziehung

Noch einmal zusammengefasst

2Wiedereingliederungs-Versammlungen mit Häftlingen – wie sie Inhaftierten zugutekommen und nahestehenden Menschen helfen

Lorenn Walker und Anouck De Reu

Hintergrund für versöhnende und lösungsfokussierte Wiedereingliederungs-Versammlungen

Wiedereingliederungs-Versammlungen als gemeinschaftsbildende Kraft

Schritte der Wiedereingliederungs-Versammlungen

Verbindungen in das soziale Netzwerk nach Wiedereingliederungs-Versammlungen

Forschungsergebnisse zu Wiedereingliederungs-Versammlungen

Wie Wiedereingliederungs-Versammlungen der psychischen Gesundheit nahestehender Menschen aus dem sozialen Netzwerk helfen

Schlussfolgerungenn

3Der Familienrat und die Wiederherstellung von Familienidentität – Ein Vermächtnis der Maori für kultursensible Praxis und gemeinschaftliche Krisenbewältigung

Erzsébet Roth

Die Koordinatorin eines Familienrats beginnt ihre Arbeit

Die Vorbereitungsphase beginnt mit der Netzwerkarbeitn

Der »unwillige Vater«

Der Familienratstag

Die Informationsphase als Rahmen für die exklusive Familienzeit

Der Familienrat als handlungsmethodisches Paradigma zur Würdigung und Nutzbarmachung von Familien- und Netzwerkbeziehungen

Der Familienrat als Chance, vorhandene Identitätsbilder neu auszurichten

Schlussbetrachtung

4»Bring das Dorf in die Klinik!« – »Neue Autorität« als Hilfe für Eltern

Idan Amiel

Gemeinschaftliches Handeln im Beichtstuhl des Therapeuten

Der kulturelle Wandel von der Religion zur Wissenschaft in der Kindererziehung

Der afrikanische Kompass für WEIRD-Eltern

»Bring das Dorf in die Klinik!« – Vier Schritte der Intervention

Ein Fallbeispiel – Ellens virtuelles Dorf

Schlussbemerkung

 

5Der Open-Dialogue-Ansatz – Netzwerkorientierung in der Psychiatrie und ihre Bedeutung für eine therapeutische Haltung

Jaakko Seikkula

Jeder sollte angehört und respektiert werden

Wichtig ist die Präsenz im Moment

Durch Resonanz den Diskurs normalisieren

Worte für Emotionen finden und Gefühle aushalten

Am wirksamsten in schwersten Krisen

Verkörperte Erfahrungen in der Beziehung heilen

Vom Blick auf Symptome zur genaueren Betrachtung des Lebens übergehen und Unsicherheit zulassen

Idealtypische Methoden für die Organisation von Dialogen im Netzwerk

Fallbeispiel – Zwei Personen brauchen gleichzeitig Hilfe

Ohne Forschung hätte nichts geschehen können

6TwoSystem Treatment – Ein integratives Schnittstellenprojekt im Bereich Jugendhilfe und Psychiatrie

Ulrich Baus

Ausgangslage

Entstehung des TwoSystem-Treatment-Programms

Die zentralen Erkenntnisse hierbei sind: Stationäre versus ambulante Akutversorgung

Akutversorgung im häuslichen Umfeld

Das »finnische Modell« im Saarland

Die Ausdifferenzierung der Zielgruppe – neue Herausforderungen entstehen

Das TwoSystem-Treatment-Programm

Module im Hilfeprozess

Programmbeendigung

Fallbeispiel – Niemand will Tobias

Schlussbetrachtung

7Kidstime: Resilienzaufbau für Familien mit psychisch belasteten Elternteilen

Klaus Henner Spierling

Pssychisch belastete Eltern: ein wichtiges Thema?

Auswirkungen elterlicher psychischer Erkrankung auf die Kinder

Das Kidstime-Modell

Fallbeispiele

Das Handlungsfeld Schule

Zusammenfassung und Ausblick

8Mehrfamilienarbeit mit Familiennetzwerken

Eia Asen

Die Ausgangslage

Entstehung und Entwicklung der Mehrfamilienarbeit und unterstützender Netzwerktreffen

Konzept Mehrfamilienarbeit

Paradigmenwechsel in der Therapeutenrolle

Mentalisieren und Mehrfamilienarbeitsansätze

Fallbeispiel: Von Zwangskontext zur Selbsthilfe

Ausblick

9Ohne euch geht es nicht! Netzwerkarbeit bei Trennungskonflikten: Eine Notwendigkeit

Justine van Lawick und Erik van der Elst

Einleitung

Über den Einfluss wichtiger Bezugspersonen auf die Konflikte

Das direkte und indirekte Einbeziehen des Netzwerks

Schluss

10 FiSch und Familienstube – Netzwerkaktivierung in Kita und Schule

Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

Die Ausgangslage: Überforderte Eltern – überforderte Schulen und Kitas

Theoretische Ansätze

Konzepte: FiSch und Familienstube

Voraussetzungen für erfolgreiche Netzwerkarbeit

Problem- und Lösungsbewusstsein – die Lösungstreppe

Netzwerkaktivierung durch FiSch und Familienstube

Netzwerke: Hürden und Grenzen

Ausblick

11 Probleme in Fähigkeiten verwandeln – Lösungsfokussierte Therapie mit Kindern als Gemeinschaftsaufgabe im Ich schaff’s!-Programm

Ben Furman

Das Problem in eine Fähigkeit verwandeln

Beschreibung der Fähigkeit

Auflistung der Vorteile der Fähigkeit

Unterstützer benennen

Imaginärer Unterstützer

Planung der Feier

Umgang mit Rückschlägen

Das Üben der Fähigkeit

Feiern des Erlernens der Fähigkeit

Eine andere Art zu reden

Systemischer Wandel

12 »Neue Autorität« in Schulen – das P. E. N.-Programm

Tal Maimon und Idan Amiel

Vom »Gewaltlosen Widerstand« zur »Neuen Autorität«

(Neue) Autorität und Schulen

Das P. E. N.-Programm für Schulen – Grundprinzipien

Einige grundlegende Werkzeuge aus dem P. E. N.-Programm

Ein Fallbeispiel: Das Klassenzimmer als Gemeinschaft

Abschließende Bemerkungen

13 Der Einsatz von Peer-Unterstützergruppen – eine wirksame Antwort auf Mobbing

Sue Young

Einführung

Gespräch mit dem zu unterstützenden Kind

Treffen mit der Unterstützergruppe

Überprüfung mit dem unterstützten Kind

Überprüfung mit der Unterstützergruppe

Die Wirksamkeit von Unterstützergruppen

Ein Fallbeispiel – Georg

Literatur

Über die Autorinnen und Autoren

Über die Herausgeber

Geleitwort

Auch ein Hirnforscher hat bisweilen mit etwas Glück einmal eine Erleuchtung. Ich hatte zwei nacheinander, vor etwa zwei Jahrzehnten, nachdem ich vorher ebenfalls für etwa zwei Jahrzehnte herauszufinden versuchte, wie unser Gehirn funktioniert, weshalb es manchmal nicht funktioniert und wie es wieder besser funktionsfähig gemacht werden kann.

Meine erste Erleuchtung bestand in der Erkenntnis, dass das Gehirn untrennbar mit dem Rest des Körpers verbunden ist und alles, was im Gehirn geschieht, Auswirkungen auf körperlicher Ebene hat – aber auch umgekehrt. Die zweite ergab sich daraus, dass ich zu verstehen begann, wie sehr jeder Mensch mit seinem Gehirn in ein soziales System eingebunden ist. Die dort gemachten Erfahrungen sind ausschlaggebend dafür, wie und wofür der Mensch sein Gehirn benutzt und wie es sich deshalb strukturiert. Für einen experimentellen Hirnforscher wie mich war das alles andere als banal, hieß es doch, dass es mir fortan nicht mehr möglich sein sollte, irgendetwas im Gehirn zu untersuchen oder gar verändern zu wollen, ohne gleichzeitig zu berücksichtigen, was sich im Körper und in der Beziehung der betreffenden Person zu anderen, eng mit ihr verbundenen Menschen abspielte. Das war zwar das Ende meiner Karriere als experimenteller Hirnforscher, dafür aber ebenso der Aufbruch in eine Welt der wachsenden Einsicht in bisher ungeahnte Zusammenhänge.

Die Entdeckung der schier unbegrenzten nutzungsabhängigen Neuroplastizität war der Schlüssel zum Verständnis der im Gehirn ablaufenden Selbstorganisationsprozesse. Sie machte die Strukturierung neuronaler Netzwerke und Verschaltungsmuster anhand der aus dem eigenen Körper und aus sozialen Interaktionserfahrungen zum Gehirn weitergeleiteten Signalmuster erklärbar. Aus diesem Grund »passt« das Gehirn eines jeden Menschen – auch wenn es für Außenstehende nicht so aussieht – immer optimal zu dessen Körper und seinen Erfordernissen und zu dem sozialen Umfeld, in das sie oder er hineinwächst, und damit auch zu den dort vorgefundenen Erfordernissen. Jede länger anhaltende Veränderung auf körperlicher oder sozialer Ebene führt zu einem Umbau im Sinne einer Nachjustierung der herausgeformten, das Denken, Fühlen und Handeln einer Person bestimmenden Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn.

 

Die mit Abstand stärkste, das Gehirn eines Menschen strukturierende Kraft erwächst aus seinem subjektiven Erleben, aus den gemachten Erfahrungen in der Beziehung zu ihm besonders bedeutsamen und nahestehenden Personen. Sehr häufig kommt es in diesen Beziehungen zu tiefgreifenden Verletzungen, die den gesamten weiteren Lebensweg bestimmen können. Besonders fest im Gehirn verankert werden dabei allerdings nicht die Verletzungen, Übergriffe oder Missbrauchserfahrungen, sondern die jeweiligen Lösungen, die das betreffende Kind, der Jugendliche oder später der Erwachsene zu deren Überwindung oder Bewältigung bereits gefunden hat. Einmal gemachte, ungünstige Erfahrungen können nur durch neue, günstigere Erfahrungen überlagert werden. Und einmal gefundene, in der aktuellen Situation brauchbare, aber langfristig ungünstige Bewältigungsstrategien können erst dann durch neue, günstigere ersetzt werden, wenn die alten Reaktions- und Verhaltensmuster unbrauchbar werden. Warum? Weil sich in dem bisherigen Beziehungssystem, das deren Aneignung und Aufrechterhaltung erforderlich gemacht hatte, eine grundlegende Veränderung vollzogen hat.

Diese Zusammenhänge wurden wohl schon zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte von einfühlsamen und ganzheitlich denkenden Personen erkannt. Aber als biologisches, naturwissenschaftlich erklärbares und mit objektiven Verfahren nachweisbares Geschehen kennen wir sie erst seit wenigen Jahren. In unserer heutigen, vom Bemühen um Objektivität und Wissenschaftlichkeit geprägten therapeutischen und pädagogischen Arbeit ist das ein kaum zu unterschätzender Quantensprung. Ein Paradigmenwechsel, der nicht nur die bisherige Praxis therapeutischer und pädagogischer Bemühungen grundlegend infrage stellt, sondern der nun auch wissenschaftlich und objektiv begründbare Ansätze für die künftige Arbeit von Therapeuten, Pädagogen und Beratern bietet.

Deshalb ist dieses von Christoph Klein und Ben Furman herausgegebene Buch so zeitgemäß, so grundlegend und so hilfreich. Denn was wir jetzt brauchen, sind überzeugende Praxisbeispiele dafür, wie gut es mit dem Ansatz der aktiven Unterstützung durch nahestehende Personen gelingt, tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen in den beziehungsgestaltenden Erfahrungen der Menschen innerhalb ihres Lebensumfeldes zu machen. Die zentrale Botschaft dieses Buches lautet, dass für wünschenswerte Veränderungen eben nicht nur die Ebene der das individuelle Verhalten steuernden inneren Einstellungen, Haltungen und Überzeugungen bedeutsam ist, sondern auch die Beteiligung und Mitwirkung der Gemeinschaft, in der das Individuum lebt und eingebunden ist.

Die Herausgeber begreifen das Buch als Appell an alle Experten, Fachkräfte und Helfer, ihre Aufgabe darin zu sehen, solche Räume der Begegnung möglich zu machen. Die Beiträge zeigen auf beeindruckende Weise, wie Heilung, Veränderung und Potenzialentfaltung wieder gelingen und wo wir im Dialog miteinander zu neuer Resonanz finden. Das kann weder durch verbale Überzeugungsarbeit noch durch Verhaltenskonditionierung gelingen, nicht durch das Inaussichtstellen von Belohnungen oder Bestrafungen und auch nicht durch neue Erfahrungen in einem sozialen Umfeld, das mit dem für die jungen Menschen bedeutsamen sozialen Beziehungsgefüge nichts zu tun hat.

Deshalb bin ich sehr froh, dass in diesem Buch so viele Verfahren und Möglichkeiten vorgestellt werden, die alle das gleiche Anliegen verfolgen. Die hier versammelten Ansätze zeigen uns viele Wege zur Stärkung einer Gemeinschaft, deren Zusammenhalt verloren zu gehen droht.

Aber überzeugen Sie sich selbst! Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse und Anregungen, die Sie aus der Lektüre gewinnen und die Sie in der Überzeugung stärken mögen, dass das, was wir uns alle wünschen, offenbar möglich ist – jedenfalls dann, wenn wir es anders umsetzen als bisher.

Dr. Gerald Hüther

Einführung

Liebe Leserin, lieber Leser,

lassen Sie uns an dieser Stelle erklären, was dieses Buch für Sie so lesenswert macht. Autoren und Autorinnen aus acht Ländern erzählen in dreizehn Beiträgen davon, wie in Familien, Therapie, Schule und Beratung, in der Kita, der Jugendhilfe, im Strafvollzug und in der Psychiatrie eine Netzwerke und Gemeinschaft stiftende Arbeit gelingt. Die vielfältige Zusammenarbeit, um die es geht, bezieht Familienmitglieder ebenso ein wie nahestehende Freunde, bedeutsame Gemeindemitglieder oder auch auf ähnliche Weise Betroffene. Das Buch zeigt, auf welche verbindende und Mut machende Weise die Kraft des Miteinander nutzbar wird. Dabei wird auch deutlich, wie diese Verbundenheit letztlich allen hilft.

In vielen Ländern werden die hier vorgestellten Ansätze, Verfahren und Methoden bereits in Kommunen, Schulbehörden, Jugendämtern und Kliniken praktiziert. Alle Autoren und Autorinnen sind Pioniere dieser Arbeitsweisen. Außerdem sind sie Teil eines internationalen Netzwerks, in dem diese innovativen und die Gemeinschaft stärkenden Herangehensweisen ständig weiterentwickelt werden. Ihre Vorgehensweisen sind dabei so altbewährt wie die afrikanische Weisheit, dass es ein ganzes Dorf braucht, damit sich Kinder gut entwickeln. Mit diesem Buch erhalten auch die Eltern Unterstützung. Diese Idee von Gemeinschaft ist indigenen oder auch stärker spirituell geprägten Kulturen schon immer vertraut. Daher finden sich auch in allen Beiträgen die »talking circles« wieder, eine Tradition indigener Kulturen, bei der sich eine Gemeinschaft im Kreis sitzend versammelt, um einander zuzuhören und zu besprechen, welche nächsten Schritte unternommen werden – sei es zur Unterstützung, zur Versöhnung oder zur Wiedergutmachung.

Wir sehen im Bereich der Sozialarbeit, der Schule und der Psychotherapie einen Trend innovativer Ansätze im Umgang mit den psychosozialen Herausforderungen unserer Zeit. Die neue Herangehensweise zeigt sich darin, dass Fachleute weniger davon überzeugt sind, alleine das Mittel oder die Lösung für das Problem eines Einzelnen, einer Familie oder einer Schulklasse zu kennen oder zu finden. Stattdessen machen sie sich alle miteinander auf die Suche nach Zusammenhängen und Möglichkeiten, etwas zu verändern. Dieses Buch ist eine vielstimmige Sammlung von solchen das »Dorf« einbeziehenden Ansätzen und Methoden im Umgang mit Problemlagen unterschiedlichster Art. Gesprächsrunden, Versammlungen und Netzwerktreffen schaffen Kontexte, in denen alle in Bewegung kommen, um gemeinsam Entwicklung zu ermöglichen. Hier erleben alle, dass sie wichtig sind, und nicht selten gilt: »Ohne euch geht es nicht!«

Als Fachleute haben wir gute Gründe, unseren Klienten diese Herangehensweise nicht nur zuzumuten, sondern auch zuzutrauen, statt sie im Glauben zu lassen, sie könnten uns die Verantwortung für ihre Entwicklung übergeben. Rat suchende Menschen trauen sich selbst oft weniger zu und glauben gleichzeitig, ein Experte wisse, was ihnen hilft. Aber das wissen wir nicht. Nicht zuletzt ist dieses Buch auch uns Fachkräften gewidmet, damit wir mutiger werden und uns üben, mehr im Dialog miteinander zu sein. Auch wir brauchen einander.

Das Buch passt in unsere Zeit. Als Gegenbewegung zur Individualisierung von Lebensentwürfen beobachten wir, dass der soziale Zusammenhalt und sein unersetzbarer Beitrag für psychische Gesundheit in unseren Hilfesystemen wieder mehr Beachtung findet. Sie werden lesen, auf welche Weise Kommunen, Klinikverwaltungen und gesetzgebende Parlamente dafür strukturell die Voraussetzungen geschaffen haben. Während der Arbeit an diesem Buch erleben wir weltweit die Auswirkungen des COVID-19-Virus. Quarantänemaßnahmen, Versammlungsverbote und Kontaktbeschränkungen sind für diejenigen besonders leidvoll, denen dadurch soziale Begegnungen abhandenkommen. In den Ländern mit den härtesten Ausgangsbeschränkungen traten abends Menschen auf ihre Balkone, Nachbarn musizierten zusammen oder applaudierten als Dank für das, was andere für die Gemeinschaft leisteten. Dieses Buch handelt von der existenziellen Erfahrung für uns Menschen, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Es ist ein systemisches Buch und im selben Jahr geschrieben, in dem nun auch in Deutschland die Systemische Therapie und ihr Menschenbild zur Grundlage einer Heilbehandlung anerkannt wurden. In den Leitlinien heißt es sinngemäß: Systemische Therapie fokussiert den sozialen Kontext und gibt zwischenmenschlichen Beziehungen eine besondere Relevanz. Die aktuelle Wirksamkeitsforschung der allgemeinen Psychotherapie bestätigt sie darin. Auch deshalb ist jetzt die Zeit gekommen, den Ansätzen und Methoden Aufmerksamkeit zu verschaffen, die wie Leuchttürme Orientierung dafür sind, die Türen des kleinen Beratungs-, Therapie- oder Klassenzimmers zu öffnen, um wirksamere Lösungen in der ganz eigenen soziokulturellen Lebenswelt unserer Klienten zu finden und zu zeigen, wie das ganze »Dorf« in Bewegung kommt.

Die Kraft des Miteinander ist ein Praxisbuch. Zur Veranschaulichung ihrer Vorgehensweise stellen alle Autoren und Autorinnen ihre Praxis anhand eines Fallbeispiels vor. Sie zeigen, wie sie es angehen, dass ein Wir-Gefühl entsteht und unter ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen zusammengearbeitet werden kann. Sie erzählen, wie ihre Ideen entstanden sind, wofür sich ihre Vorgehensweise eignet und was ihnen dadurch gelingt – häufig auch im Unterschied zu konventionellen Ansätzen und Methoden. Außerdem beziehen sich die Autoren in ihren Beiträgen aufeinander, um dem Buch selbst den Charakter eines Netzwerkes zu geben.

So ein Netzwerk braucht viele Knotenpunkte, Verbindungen und einen Rahmen, der Halt gibt. Dafür danken wir dem Berliner Zentrum für Präsenz und Kompetenz in Beziehungen (PUK) der Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH. Nun hoffen wir, dass wir Sie zur Lektüre inspirieren konnten, und freuen uns auf den Dialog mit Ihnen, um voneinander lernen zu können.

Christoph Klein und Ben Furman Berlin und Helsinki, im Januar 2021