Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten

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Bonifacius AmerbachAmerbach, Bonifacius (1495–1562)

(1495–1562)


Geb. 11.10.1495 in Basel, reformiert seit 1534, Vater: gelehrter Drucker, aus Amorbach nach Basel eingewandert; 1507–1513 humanistischer Bildungsgang in Schlettstadt und Basel; 1513 als Magister Artium nach Freiburg, wo er bis 1519 als Schüler und Hausgenosse des → ZasiusZasius, Ulrich (1461–1535) Jurisprudenz studiert; 1520–1524 Studium in Avignon (bei → AlciatAlciatus, Andreas (1492–1550) und Franz v. Ripa); 1525 Promotion in Avignon zum juris utriusque doctor; ab 1.5.1525 Professor des römischen Rechts in Basel, zeitweise einziger Lehrer der jur. Fakultät; Mitwirkung |26|bei Wiedererrichtung der Universität nach der Reformation in Basel (1529); 1535 Stadtsyndikus in Basel; 1536 übernimmt A. nach Erasmus’ Tod die Verwaltung des Nachlasses (Erasmus-Stiftung); 1548 legt A. die Professur aus gesundheitlichen Gründen nieder. Fünfmal war er Rektor der Universität Basel (1526, 1535, 1540, 1551, 1556), zweimal also noch, nachdem er die Professur niedergelegt hatte; gestorben ist er am 24. oder 25.4.1562 in Basel.

A. wird in der Literatur ein hervorragender Platz eingeräumt bei der Auseinandersetzung zwischen mos italicus und mos gallicus. Wenn seine Wirkungen auch auf Basel beschränkt blieben – er zog keine Schule nach sich –, so kann er doch als Beispiel eines Juristen zur Zeit des Humanismus angeführt werden.

Während seiner langen Studienzeit lernte A. bei → ZasiusZasius, Ulrich (1461–1535) und → AlciatAlciatus, Andreas (1492–1550) einerseits die neue Betrachtungsweise für das römische Recht kennen: Gegenüber der Anpassung dieses Rechts an die Gegenwart, wie sie die italienischen Kommentatoren betrieben hatten (mos italicus), trat die Arbeit an der Quelle, dem corpus iuris civilis, in den Vordergrund (mos gallicus). Andererseits wurde A. durch Franz v. Ripa die Bedeutung der mittelalterlichen Interpreten des römischen Rechts (Glossatoren und Kommentatoren) klar. In seiner Antrittsrede von 1525 (später gedruckt als „Defensio Interpretum iuris civilis“) hat er sein juristisches Konzept dargelegt. Keineswegs handelt es sich dabei um eine bloße Zurückwendung auf die italienische Dogmatik, sondern A. ist bemüht, eine Synthese zu finden, in der das Zurückgehen auf die Quellen die Beachtung der Meinungen ihrer Interpreten nicht ausschließt. A. will die Tradition der italienischen Rechtslehrer nicht abreißen lassen, er sieht aber deutlich deren Grenzen. Er hält ihnen zugute, daß sie in ihrer Zeit noch nicht zu besseren Ergebnissen kommen konnten. Wenn man aber berücksichtige, daß etwa → AccursiusAccursius (um 1185–1263) in einem weniger glücklichen und gelehrten Jahrhundert geschrieben habe, so müsse man zugeben, daß er Großes geleistet habe. Diese abwägende Haltung nimmt A. auch in seinen Vorlesungen und Rechtsgutachten ein: er verwendet die Glosse und die Kommentatoren, folgt ihnen aber nicht kritiklos und macht sich auch die quellenkritischen Arbeiten der zeitgenössischen Juristen zunutze.

Auch in der aequitas-Lehre, die oft als Prüfstein humanistischer Tendenzen in den Ansichten verschiedener Juristen herangezogen wird, weil dieser Problemkreis in der Rückbesinnung auf die Antike eine besondere Rolle spielt, bewahrt A. seine Selbständigkeit gegenüber den italienischen Juristen. In einer erhaltenen Vorlesung über Billigkeit |27|übernimmt er eine Definition von → OldendorpOldendorp, Johann (um 1488–1567). Auf Grund seiner eingehenden Beschäftigung mit griechischer Philosophie (bes. Aristoteles) wird aber diese aequitas im Ergebnis nicht wieder zu einem neuen starren Prinzip; Billigkeit ist für ihn nicht eine zweite Gruppe von Vorschriften neben Gewohnheits- und Gesetzesrecht, sondern sie bleibt eine Art von Recht, die nicht in Regeln oder Schemata zu fassen ist. Eine Bindung an das Recht (vornehmlich das corpus iuris civilis, aber auch das Lokalrecht) besteht insofern, als der Richter aufgefordert wird, immer zu fragen, wie wohl der Gesetzgeber entschieden hätte, wenn er das anstehende Problem ausdrücklich geregelt hätte. Neben seiner Beschäftigung als Rechtslehrer und Rechtsberater – u.a. erstellte er ein Gutachten zur Ehescheidung Heinrichs VIII. von England (1530) – hatte A. nach dem Tod seines Freundes Erasmus dessen Nachlaß zu verwalten und damit Arme und Bedürftige zu unterstützen. Er führte diese zeitraubende Arbeit mit großer Genauigkeit aus.

Wie in diesem Amt, so folgte ihm sein Sohn Basilius A. (1533–91) auch in den anderen Positionen nach. Beide A. haben keine Werke veröffentlicht. Sie sahen eine größere Notwendigkeit in der praktischen Arbeit, Lehre und Rechtsberatung. In ihren zahlreichen Briefen und Rechtsgutachten gewähren sie jedoch genügend Einblick in die Auffassungen und das Leben zweier humanistischer Juristen.

Literatur: Die Amerbachkorrespondenz, hrsg. und bearb. v. Alfred Hartmann und B.R. Jenny, Bd. I–XI, 1942–2010. – T. Burckardt-Biedermann: Bonifacius Amerbach und die Reformation, 1894. – U. Dill, B.R. Jenny: Aus der Werkstatt der Amerbach-Edition, 2000. – F. Elsener: Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, 1975, bes. 104–109. – M.P. Gilmore: Boniface Amerbach, in ders.: Humanists and Jurists. Six studies in the Renaissance, 1963, 146–177. – H.-R. Hagemann: Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach. Basler Rechtskultur zur Zeit des Humanismus, 1997. – A. Hartmann: Bonifacius Amerbach als Verwalter der Erasmusstiftung, in: Baseler Jahrbuch 1957, 7–28. – H. Jacob-Friesen u.a. (Hrsg.): Bonifacius Amerbach. 1495–1562, 1995. – G. Kisch: Bonifacius Amerbach, 1962 (wieder in ders.: Studien zur humanist. Jurispr., 1972, 127–150). – G. Kisch: Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter, in: Festg. f. M. Gerwig, 1960, 85–120 (wieder in ders.: Studien, s.o., 151–194). – G. Kisch: Amerbach und Vadian als Verteidiger des Bartolus, in ders.: Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz, 1969, 99–183. – G. Kisch: Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, 1960, 344–379. – G. Kisch: Humanismus und Jurisprudenz, 1955, bes. 37–76. – Hermann Lange: Macht und Recht, 2010, 208. – Elisabeth Koch: Die causa matrimonialis im Hause Amerbach/Fuchs, 1981. – Stintzing-Landsberg: GDtRW I, 209–212. – H. Thieme: Die beiden Amerbach, in: Studi in memoria di Paolo Koschaker, I, 1954, 137–177. – H.E. Troje: Graeca leguntur (= Forsch. z. neueren Privatrechtsgesch., 18), 210–216. – H.E. Troje: Ein Gutachten |28|von Charles Dumoulin zur causa matrimonialis im Hause Fuchs/Amerbach, in: FS f. H. Coing, hrsg. v N. Horn, I, 1982, 421–434. – H.E. Troje: Bonifacius Amerbach als juristisches Gewissen des Basler Rats – dargestellt anhand von drei seiner Gutachten, in: ZNR 19 (1997), S. 1–16. – Wieacker: PRG, 158. – ADB 1 (1875), 397f. (R. v. Stintzing). – HRG2 I (2008), 199f. (H.-R. Hagemann). – Jur.Univ. II, 166–168 (P. Pichonnaz). – NDB 1 (1953), 246f. (A. Hartmann). Bibliographie bis 1962 in: G. Kisch: Die Anfänge der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1459–1529, 1962, 352–354.

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Dominicus ArumaeusArumaeus, Dominicus (1579–1637)

(1579–1637)


Geboren 1579 in Leeuwarden, Westfriesland; calvinistische Familie; Studium ab 1593 in Franeker, Oxford, Rostock; in Jena ab 1599; 31. März 1600 Promotion und Hochzeit (seine Frau eine Tochter des Jenaer Professors Virgilius Pingitzer), 1602 außerordentlicher Professor; 1605 ordentlicher Professor zunächst für römisches Privatrecht, später deutsches Reichsstaatsrecht; gleichzeitig als Beisitzer am Jenaer Schöffenstuhl, später am Hofgericht; 1608, 1628, 1636 Rektor, 1618 Prorektor der Universität Jena; 1619 Senior (zweiter Rang), 1634 Ordinarius (erster Rang) der jur. Fakultät und damit Vorsitzender des Schöffenstuhles; Rat des Weimarischen Hofes; gestorben 24.2.1637 bei einer Fakultätssitzung.

Gegen Ende des 16. Jhs. begann das Reichsstaatsrecht, an den Universitäten als besondere Disziplin der Jurisprudenz gelehrt zu werden. A. setzte sich als „erster Lehrer des ius publicum in Jena“ (Conring) aus zwei Gründen für diese Entwicklung ein: Juristen, die in ihrem Beruf oft wichtige Stellungen in den fürstlichen Geheimen Räten und damit bei der Leitung des Staates innehatten, müßten schon auf der Universität im Staatsrecht ausgebildet werden. Entscheidend war für ihn aber seine Forderung an die Staatsrechtswissenschaft: Die Axiome des römischen Staatsrechts, die der deutschen Verfassungswirklichkeit |29|nicht mehr gerecht wurden, sollten einer realistischen Behandlung des tatsächlichen Verfassungsrechts im deutschen Reich weichen. Quellen des deutschen Staatsrechts konnten nicht mehr das Corpus Iuris Civilis oder die Lex Regia sein, sondern man mußte das positive Recht etwa der Goldenen Bulle oder der Wahlkapitulationen heranziehen. A. gab ab 1615 eine Sammlung von Abhandlungen (Diskursen) seiner Schüler heraus, die die Rechtsverhältnisse im Reich des beginnenden 17. Jhs. vor allem nach diesen „Reichsgrundgesetzen“ beurteilten.

 

Ganz aus seiner Feder stammt der „Commentarius iuridico-historico-politicus de Comitiis Romano-Germanici Imperii“ von 1630. Aus dieser historisch fundierten Beschreibung der Institution Reichstag kann man A.s Verfassungslehre herauskristallisieren. Der „Stammvater der deutschen Publizisten“ erscheint hier als ein Wegbereiter der Lehre von der doppelten Majestät. Es ist vor allem ein terminologischer Unterschied zu dieser erst später ausgebauten Lehre, wenn er nur die Gewalt des Kaisers als „maiestas“ bezeichnet. Sie ist entgegen dem absoluten Majestätsbegriff Bodins definiert als „summa unius in regenda Republica potestas“ und entsteht dem gewählten Kaiser (Imperator designatus) durch Errichtung der Wahlkapitulation. A. weist zwar die zu seiner Zeit noch verfochtene unveränderte Fortgeltung der Lex Regia in der das römische Volk alle Gewalt dem Kaiser übertragen hatte, zurück. Er sieht aber in der jeweiligen kaiserlichen Wahlkapitulation nichts anderes als die „Lex Regia Germanorum“. Hierin zeigt sich, wie er trotz seiner Ausrichtung auf die Gegenwart doch am Weiterleben des Imperium Romanum im römisch-deutschen Reich festhält. Die maiestas ist für ihn eingeteilt in Teil-Rechte die ursprünglich in der Hand der respublica oder des regnum liegen. Auch die beschränkte Übertragung dieser Majestätsrechte durch die Kapitulation gibt dem Kaiser die höchste Gewalt eines einzelnen, begründet also (nicht: begrenzt!) seine volle maiestas. Der Reichstag hat nach A.s Ansicht an der maiestas des Kaisers keinen Anteil. Er repräsentiert das Reich (durch das Kurfürstenkollegium) bei der Wahl des Kaisers und dessen Ausstattung mit Majestätsrechten. A. sucht hier nicht nach einer Lösung der Probleme, die sich für den Reichstag aus dem Erstarken der einzelnen Reichsstände ergaben. Ihm kam es auf die Betonung der kaiserlichen Machtstellung als Garantie für die Reichseinheit an. Deshalb qualifizierte er auch das Reich als eine Monarchie (hierin mit → AlthusiusAlthusius, Johannes (1557–1638) übereinstimmend). Festhaltend am Altüberkommenen sah er als Hauptaufgabe des Reichstages nur die Koordination der Einzelinteressen seiner Mitglieder.

|30|A.s Werk über die Goldene Bulle von 1617 steht am Übergang zu moderner Kommentierungsweise: Es umfaßt den gesamten Text dieser Urkunde, geht jedoch nicht abschnittsweise vor, sondern setzt sich aus verschiedenen Monographien zusammen.

Im ganzen muß man A. einordnen zwischen den meist katholischen oder lutherischen strengen Monarchisten (→ ReinkingkReinkingk, Dietrich (1590–1664)) und den Monarchomachen, die den Herrscher in völliger Abhängigkeit vom Volk sehen. Seine Ansicht von der Reichsverfassung kann daher nicht als rein konservativ bezeichnet werden. Wenn er auch die Volkssouveränitätslehre des → AlthusiusAlthusius, Johannes (1557–1638) nicht übernimmt, wenn er auch darauf verzichtet, die Machtverhältnisse von Kaiser und Reichstag in einem Zahlenproporz anzugeben, wie es Zeitgenossen versuchten, wenn er auch die Abhängigkeit des Kaisers vom Reichstag nicht ausspricht, so läßt sich doch nicht leugnen, daß er durch die realistische Behandlung seines Stoffes Ansätze schuf, die dann von seiner „Pflanzschule der deutschen Publizistik“ (vor allem → LimnaeusLimnäus, Johannes (1592–1663)) zu einer durchaus nicht konservativen Lehre weiterentwickelt werden konnten. Es ist sogar denkbar, daß → PufendorfsPufendorf, Samuel (1632–1694) Ansicht, das Reich sei überhaupt nicht in eine der klassischen Verfassungsformen einzuordnen, auf A. zurückgeht. Sieht man die Befruchtung der neuen Reichsstaatsrechtswissenschaft als A.s Verdienst an, so wird dieses Verdienst noch vergrößert, wenn man bedenkt, daß er noch unter dem Einfluß des Humanismus stand (häufig finden sich Zitate römischer Schriftsteller in seinen Werken) und daß er – ein Kind seiner Zeit – mit theologisch-biblischen Argumenten arbeitete.

Hauptwerke: Tractatus methodicus de mora 1603. – Exercitationes Iustinianeae ad Institutiones, 1607. – Decisionum et Sententiarum libri II, 1612. – Disputationes ad praecipuas Pandectarum et Codicis leges, consuetudines feudales, quatuor Institutionum libros, 1613, 21620, 31628, 41665 und 51672 bearb. v. E.F. Schröter. – Discursus academici de iure publico, Bd. 1: 1615 (1621), Bd. II–V: 1620–1623. – Discursus academici ad Auream Bullam, 1617, 21619, 31663 mit Zusätzen v. E.F. Schröter. – Commentarius iuridico-historico-politicus de comitiis Romano-Germanici Imperii, 1630, 21635, 31660.

Literatur: Geschichte der Universität Jena. 1548/58–1958. Festgabe zum 400jährigen Universitätsjubiläum, hrsg. v. einem Kollektiv d. Hist. Inst. d. Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Leitung v. M. Steinmetz, 1. Bd., 1958, 89f. – R. Hoke: Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Zivilistik im 17. Jh., in: Der Staat 15 (1976), 211–230 (219–224). – R. Hoke: Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnäus, 1968, 27–38, 80–83. – W. Pauly/M. Siebinger: Dominicus Arumaeus (1579–1637) und Johannes Limnäus (1592–1663): Wegbereiter der Wiss. |31|vom öff. Recht in Deutschland, in: G. Lingelbach (Hrsg.): Rechtsgelehrte der Univ. Jena aus vier Jh.en, 2012, 33–50. – J.S. Pütter: Litteratur des teutschen Staatsrechts, I, 1776 (Ndr. 1965), 165–170. – M. Schmoeckel: Dominik Arumaeus und die Entstehung des öff. Rechts als rechtswiss. Lehrfach in Jena, in: R. v. Friedeburg u.a. (Hrsg.): Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jh., 2015, 85–127. – Friedrich Herrmann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, 1966, bes. 451–466, 482–494. – Stintzing-Landsberg: GDtRW I, bes. 719–721. – Stolleis: Gesch., I, 214f. – ADB I (1875), 614f. (T. Muther). – C. Strohm: Calvinismus und Recht, 2008, 413ff. – HRG2 I (2008), 316f. (R. Hoke). – Jur., 41f. (M. Stolleis). – Jur.Univ. II, 329–331 (M. Stolleis).

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John AustinAustin, John (1790–1859)

(1790–1859)

Geboren am 3.3.1790 in Creeting Mill bei Ipswich, Suffolk. 1814 beginnt A. mit dem Studium der Rechtswissenschaft und wird 1818 als plädierender Anwalt (barrister) zugelassen. 1819 heiratet er Sarah Taylor und läßt sich mit ihr in Westminster nieder, wo sie Nachbarn und Freunde von → Jeremy BenthamBentham, Jeremy (1748–1832), James Mill und John Stuart Mill werden. A. sucht den Kontakt zu → BenthamBentham, Jeremy (1748–1832), dessen Theorie des Utilitarismus und Kritik am überlieferten englischen Recht die Basis für A.s spätere Rechtstheorie bilden; eine enge Freundschaft entwickelt sich zwischen A. und seinem Schüler John Stuart Mill.

A.s schwache Gesundheit und sein fehlendes couragiertes Auftreten bewirken, daß ihm beruflicher Erfolg als Anwalt versagt bleibt. 1825 gibt er seinen Anwaltsberuf auf. Sein Interesse gilt ohnehin weniger der Praxis der Rechtsanwendung als vielmehr der politischen Philosophie und Rechtstheorie. Er rezipiert die Schriften von → HobbesHobbes, Thomas (1588–1679), → LockeLocke, John (1632–1704), Paley, Hume und vor allem die Theorie → BenthamsBentham, Jeremy (1748–1832). Sein Interesse an einer wissenschaftlichen und analytischen Behandlung der juristischen Materie scheint A. für den neu eingerichteten Lehrstuhl für „Jurisprudence“ an der Londoner Universität zu prädestinieren, auf den er dann auch 1826 berufen wird. Da der Bau der Universität noch andauert, bereitet sich A. in Bonn auf seine Lehrtätigkeit vor und widmet sich dort u.a. dem Studium der Institutionen des Gaius und der Lektüre von → SavignySavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861), → HugoHugo, Gustav (1764–1844), Falck, → ThibautThibaut, Anton Friedrich Justus (1772–1840), Mühlenbruch und Kant. Da der geringe Grad wissenschaftlicher Rationalisierung der englischen Rechtsmaterie von ihm stets scharf kritisiert wird, inspirieren |32|ihn Systematik und analytische Schärfe der rezipierten Werke um so mehr. Beeindruckt von Aufbau und Methodik des Studiums der Jurisprudenz an deutschen Universitäten, das sich grundlegend von der rechtlichen Ausbildung in England unterscheidet, wird das Leben eines Gelehrten für A. zur Chiffre für ein gelungenes und gutes Leben: „I was born out of time and place. I should have been a schoolman of the twelfth century or a German professor“.

A.s 1829 an der Londoner Universität aufgenommene Lehrtätigkeit wird zum Mißerfolg, und bereits 1832 ist er gezwungen, seinen Lehrstuhl wieder aufzugeben, da die Studenten ausbleiben. Sein trockener, rhetorisch ungelenker Stil und die analytisch genauen Begriffsdefinitionen werden seinen Zuhörern zur Qual. „Jurisprudence“ als rechtstheoretische und rechtsphilosophische Grundlegung des Rechts hatte keinen Platz in der rein auf die Praxis ausgerichteten Ausbildung englischer Studenten. 1832 veröffentlicht A. seine einleitenden Vorlesungen unter dem Titel „The Province of Jurisprudence Determined“, doch die erhoffte Resonanz stellt sich nicht ein. Sein akademischer Mißerfolg wird zum persönlichen Desaster, von dem er sich nicht mehr erholt. Es folgen Jahre der Krankheit und Depression; Melancholie und ein Gefühl des Scheiterns beherrschen fortan A.s Grundstimmung. Als Mitglied einer königlichen Untersuchungskommission zur Modernisierung des Strafrechts findet A. keine Unterstützung für seine weitgehenden Reformvorschläge und kehrt auch dieser Tätigkeit wieder den Rücken. 1836 wird A. zum Beauftragten für rechtliche Reformen auf der als Kronkolonie verwalteten Insel Malta. Obwohl seine Reformvorschläge zum Teil umgesetzt werden, stößt seine Tätigkeit auf Malta auch auf massive Kritik, und als A. Malta verläßt, ist er einmal mehr gesundheitlich und psychisch angeschlagen. Da es A. in England, dem Ort seiner Mißerfolge, nicht aushält, leben die Austins in den folgenden Jahren im Ausland, davon einige Jahre in Dresden und mehrere Sommer in Karlsbad, ab 1843 in Paris. In diesen Jahren gelingt es A. nicht, seine begonnene Rechtstheorie weiterzuführen. Eine Wiederauflage von „The Province …“ lehnt er mit der Begründung ab, weitreichende Revisionen seien erforderlich. Die revolutionären Unruhen in Paris im Jahre 1848 lassen die Austins nach England, Weybridge zurückkehren. In völliger Abkehr von den früheren radikaldemokratischen Ideen der „Benthamite Radicals“ ändert A. seine politische und rechtstheoretische Einstellung im Laufe der Jahre so fundamental, daß er in den letzten Jahren seines Lebens in Opposition zu seinem eigenen positivistischen Ansatz der zwanziger und dreißiger Jahre steht und |33|sich der Position der Historischen Schule (→ MaineMaine, Sir Henry James Sumner (1822–1888)) annähert. Seine Wende zum Konservatismus dokumentiert der 1859 erschienene Aufsatz „A Plea for the Constitution“. A. stirbt am 17.12.1859 in Weybridge. Die ihr verbleibenden Jahre nutzt Sarah, um mit großem Einsatz eine erweiterte Neuauflage des Vorlesungsmaterials ihres Mannes zu bewirken und sichert ihm damit posthum den Ruf als eines der großen Rechtsphilosophen, der ihm sein ganzes Leben lang verwehrt geblieben war.

A.s theoretische Arbeit ist von der Idee angeleitet, die Jurisprudenz als Wissenschaft zu etablieren. Er unterteilt die Regeln menschlichen Verhaltens in die Gesetze Gottes, sittliche Regeln des Zusammenlebens und positives Recht. Die Frage, wie die Regeln menschlichen Verhaltens sein sollen, beantwortet Austin mit einem von → BenthamBentham, Jeremy (1748–1832) übernommenen Utilitarismus: eine Handlung ist dann sittlich geboten, wenn sie sich zur Optimierung des Glücks einer größtmöglichen Zahl von Menschen als nützlich erweist. In seiner rechtstheoretischen Analyse konzentriert sich A. jedoch allein auf das vorgefundene positive Recht. Gegenüber metaphysischen und vernunftrechtlichen Konzeptionen des Naturrechts, die seiner Ansicht nach mit der Annahme überpositiven Rechts die Unterschiede zwischen Recht, Moral und Religion verwischen, versucht A. den Gegenstand seiner Untersuchung, das positive Recht, scharf abzugrenzen und einer eigenen systematischen Behandlung zu unterziehen. In seiner Befehlstheorie des Rechts („command theory“) stellt sich das positive Recht als faktisch wirkendes System von Imperativen dar. Rechtsnormen und -regeln sind Befehle, bei deren Mißachtung ein angedrohtes Übel wirksam wird, was dazu führt, daß Befehlen gewohnheitsmäßig gehorcht wird, um Sanktionen zu vermeiden. Die spezifische Differenz des positiven Rechts gegenüber anderen Regeln liegt in seinem Ursprung: Die Rechtsbefehle werden von dem Souverän erteilt, der allein durch seine gesetzgebende Kraft die Befehle mit Rechtsgültigkeit ausstattet. Existenz und Gültigkeit des Rechts wurzeln also nicht mehr im Naturrecht, da A. die Autorität des Souveräns und seiner Befehle nicht im Rückgriff auf eine übergeordnete Instanz als legitimiert begreift. Die Macht des Souveräns und der ihm untergeordneten politischen Institutionen basieren lediglich auf sozialen Gepflogenheiten, Brauch und Gewohnheit; Hierarchien bilden sich aus, indem Menschen anderen Menschen aus Gewohnheit Gehorsam leisten. An der Spitze der Hierarchie steht der Souverän, derjenige, der selbst niemandem gegenüber Gehorsam übt. Die rechtsetzende Macht des Souveräns ist nach A.s Theorie nicht wiederum |34|rechtlich zu beschränken und bedarf keiner rechtlichen Form. Der Souverän kann folglich auch kein illegitimes Rechts kreieren, d.h. jeder Akt der Rechtsetzung durch den Souverän führt notwendig zu einem legalen Rechtsbefehl.

 

Nicht die Auffassung, Gesetze seien Befehle eines Souveräns, ist neu an A.s Ansatz; seine rechtsgeschichtliche Bedeutung gründet vielmehr in der Abkehr von dem Gedanken, der Souverän verdanke seine Autorität wiederum einer übergeordneten Instanz. Damit ist die Grundidee einer positivistischen Rechtsauffassung formuliert: die Geltung des Rechts ist seine Faktizität. Recht wurzelt nicht in moralischen Vorbedingungen, sondern wird von Menschen durch Entscheidungen festgesetzt und dadurch gesellschaftliche Wirklichkeit.

Im deutschsprachigen Raum stehen den Vorstellungen der frühen englischen Positivisten Bierlings Juristische Prinzipienlehre, der Ansatz von Bergbohm und später → KelsensKelsen, Hans (1881–1973) Reine Rechtslehre nahe. Entscheidenden Einfluß hatte der rechtspositivistische Ansatz vor allem auf das anglo-amerikanische Recht. In den USA nahmen John Chipman Gray und Oliver Wendell Holmes die Ansätze A.s auf. Kritisiert wurde er hingegen von der Historischen Schule von → Henry MaineMaine, Sir Henry James Sumner (1822–1888). Im weitesten Sinne in der Tradition A.s stehen Theoretiker wie H.L.A. Hart, die sich mit sprachanalytischen Mitteln um eine Reformulierung des Rechtspositivismus bemühen.

Da A. das Recht allein durch die Sozialtatsachen der Über- und Unterordnung definiert, wird seine Theorie als reduktionistisch und als „naiver Positivismus“ kritisiert. Als reine Machttheorie des Rechts weist sie keinen systematischen Ort für Legitimitätserwägungen auf. Ein präziser Rechtsbegriff kann über die Analyse des Rechts als Befehl nicht erreicht werden, so daß das Recht normativ unterbestimmt bleibt. Da rechtliche Beschränkung und Aufteilung gesetzgebender Gewalt nach A.s Theorie nicht möglich sind, finden die im Laufe des 19. Jahrhunderts fortentwickelten Ideen der Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit keine theoretische Unterstützung in A.s Rechtslehre. Die Defizite der A.schen Theorie sind bereits daran zu erkennen, daß sie nicht in der Lage ist, der damaligen politischen Verfassung der Vereinigten Staaten durch eine adäquate theoretische Beschreibung gerecht zu werden.

Hauptwerke: The Province of Jurisprudence Determined, 1832, 21861. – Lectures on Jurisprudence, ed. by Sarah Austin, 2 vols., 1863. – Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, 3rd edition, revised and edited by R. Campbell, |35|2 vols., 31869, 41873, 51885, Nachdrucke 1895, 1911. – A Plea for the Constitution. London 1859.

Literatur: A. Agnelli: John Austin, alle origini del positivismo giuridico, 1959. – J.W. Brown: The Austinian Theory of Law, 1906. – G.B. Campbell: Analysis of Austin’s Lectures on Jurisprudence, 1905. – W.E. Conklin: The place of the people in John Austin’s structuralism, 2002. – R.A. Eastwood/G.W. Keeton: The Austinian Theories of Law and Sovereignty, 1929. – M. Freemann/ P. Mindus, P. (Hrsg.): The Legacy of John Austin’s Jurisprudence, 2013. – L. Hamburger/J. Hamburger: Troubled Lives. John and Sarah Austin, 1985. – H.L.A. Hart: Der Begriff des Rechts, 1973. – Ders.: Introduction, in: J. Austin, The province of jurisprudence determined …, 1954, 1998, I ff. – O. Höffe: Politische Gerechtigkeit, 1989, 110–153. – P.J. King: Utilitarian Jurisprudence in America. The Influence of Bentham and Austin on American Legal Thought in the Nineteenth Century, 1986. – W. Löwenhaupt: Politischer Utilitarismus und bürgerliches Rechtsdenken, 1972. – J.U. Lewis: John Austin’s Concept of „Having a Legal Obligation“, in: Western Ontario Law Review 14 (1975), 51. – C.A.W. Manning: Austin To-day, in: Modern Theories of Law, hrsg. von I. Jennings, 1933. – J.S. Mill: Austin on Jurisprudence, in: Dissertations and Discussions, 1875. – W.L. Morison: John Austin, 1982. – Ders.: Some Myth About Positivism, in: Yale Law Journal 68 (1958), 212. – H. Morris: Verbal Disputes and the Legal Philosophy of John Austin, in: University of California Law Review 7 (1959/60), 27 – E. Ruben: John Austin’s Political Pamphlets 1824–1859, in: Perspectives in Jurisprudence, hrsg. von E. Attwool, 1977. – W.E. Rumble: Divine Law, Utilitarian Ethics and Positivist Jurisprudence: A Study of the Legal Philosophy of John Austin, in: American Journal of Jurisprudence 24 (1979), 139. – Ders.: Doing Austin Justice: The Reception of John Austin’s Philosophy of Law in Nineteenth-Century England, 2005. – A.B. Schwarz: John Austin und die deutsche Rechtswissenschaft seiner Zeit. – Ders: Einflüsse deutscher Zivilistik im Ausland, beides in: Rechtsgeschichte und Gegenwart, hrsg. von H. Thieme/F. Wieacker, 1960. – A.W.B. Simpson: Biographical Dictionary of the Common Law, 1984. – R.S. Summers: The New Analytical Jurists, in: New York University Law Review 41 (1966), 861. – C. Trapper: Austin on Sanctions, in: Cambridge Law Journal, 1963, 270. – (ohne Verfasserangabe): Hart, Austin, and the Concept of a Legal System: The Primacy of Sanctions, in: Yale Law Journal 84 (1975), 584. – M. Warnock (Hg.): Utilitarianism and On Liberty: including Mill’s ‚Essay on Bentham‘ and selections from the writings of Jeremy Bentham and John Austin, 2003. – M. Zwanzger: Anti-Naturrecht made in England? John Austin, der frühe engl. Rechtspositivismus und das Naturrecht, in: Naturrecht und Staat in der Neuzeit. D. Klippel z. 70. Geb., 2013, 375ff. – Jur., 48f. (K. Lerch) – Jur.Univ. III, 111–115 (G. Robles).

N. Dearth