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DIE KLANGLICHEN EXTREME DES MAERZMUSIK-FESTIVALS

Alex Ross

Der österreichische Komponist Peter Ablinger sitzt auf einem Stuhl auf der Bühne einer leeren Konzerthalle und beginnt, die Zeit anzusagen. „Beim dritten Schlag wird es genau zwanzig Uhr sein“, sagt er und hält sich damit an die heilige Formel der BBC-Zeitansage. Dabei begleitet er sich selbst mit einem einfachen c-Moll-Akkord auf dem Keyboard. Nachdem er zwanzig Minuten so weitergemacht hat, überlässt Ablinger die Bühne der jungen deutschen Schauspielerin Salome Manyak, die ihre Ansagen zu einem atmosphärisch piepsenden Soundtrack des finnischen Experimentalmusikers Olli Aarni macht. Dieses Ritual dauert fast zweiundsiebzig Stunden, wobei ein ständig wechselndes Team aus Künstler*innen, Kurator*innen, Komponist*innen, Sänger*innen und DJs die Zeit auf Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch, Farsi, Oromo, Mandarin sowie zwölf weiteren Sprachen ansagen. Eine wechselnde Auswahl aufgezeichneter, zumeist elektronischer Tracks sorgt dabei für die Begleitung. Die meisten der Rezitator*innen bewahren ein sprödes, kühles Auftreten, obgleich ihre Websites etwas Stürmischeres erwarten lassen. Der schwedische Tänzer und Kostümbildner Björn Ivan Ekemark zum Beispiel lässt in keinster Weise erahnen, dass er auch unter dem Namen Ivanka Tramp auftritt und eine „klebrige und viszerale Kuchen-Sitz-Performance-Gruppe“ namens analkollaps leitet.

Wir sind natürlich in Berlin, und zwar beim Finale von MaerzMusik, einem jährlichen Bacchanal klanglicher Extreme unter der Schirmherrschaft der Berliner Festspiele. Die diesjährige Ausgabe wurde ausschließlich online gestreamt, wodurch man sie im bequemen Alltagsumfeld des amerikanischen Zuhauses rezipieren konnte. Wie in Europa üblich, gab es eine imposante, wenngleich vage Leitidee: „Zeitfragen“. Der Schwerpunkt des Programms lag auf Erfahrungen, die über konventionelle Zeitrahmen hinauswuchern und das Bewusstsein überfluten. Das eindrücklichste Beispiel hierfür lieferte Éliane Radigues Trilogie de la Mort (1988–1993), eine dreistündige Klanglandschaft aus düster-hypnotischem Elektrogedröhne, das sich wie ein unentzifferbares, der Zeit entrücktes Monument anfühlte.

Doch MaerzMusik hatte mehr zu bieten als die Flucht aus ästhetischen Normen. Bei einem solch hochkarätigen und auskömmlich finanzierten Festival wie diesem wird die Zeit zu einer politischen Frage: Wer kommt zu Wort und wie lange? Auch im europäischen Kulturraum wird die lange Zeit unbestrittene Dominanz der weißen, männlichen Perspektive hinterfragt – fast ebenso stark wie in Amerika. Und so hat das von Kurator Berno Odo Polzer geleitete Festival MaerzMusik sich deutlich von den üblichen Verdächtigen abgewendet. Stattdessen war der afroamerikanische Komponist und Wissenschaftler George E. Lewis eingeladen, ein Konzert zu organisieren, das Schwarzen Komponist*innen gewidmet ist. Mehrere Veranstaltungen würdigten den vielseitigen ägyptisch-amerikanischen Komponisten Halim El-Dabh, der 2017 im Alter von sechsundneunzig Jahren verstarb. Zwei Berliner Experimentalgruppen, PHØNIX16 und noiserkroiser, präsentierten einen Multimedia-Abend in Zusammenarbeit mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, einem bolivianischen Ensemble, das traditionelle Instrumente aus den Anden in neue Kontexte überführt.

Der stets überragende Lewis, der an der Columbia University lehrt und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin ist, hat die deutsche Neue Musik mit der Frage der Race konfrontiert. Vor einigen Jahren stellte er Statistiken zusammen, aus denen hervorging, dass bei den ehrwürdigen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik in sieben Jahrzehnten nur zwei Schwarze Komponist*innen vertreten waren – das entspricht 0,04 Prozent aller ausgewählten Kompositionen. Lewis hat daraufhin nicht nur für eine größere quantitative Vielfalt plädiert, sondern auch für eine andere Vision der Musikkultur selbst – nämlich die einer „kreolisierten“ Welt, in der Geschichten und Identitäten frei zirkulieren. Das Wort „kreolisch“ wird gemeinhin oft verwendet, um die „Vermischung“ verschiedener Races zu kennzeichnen, bezeichnet für Lewis aber – ebenso wie für postkoloniale Theoretiker*innen, die den Begriff übernommen haben – ein viel umfassenderes Zusammenfließen unterschiedlicher Sprachen und Werte.

Der junge Schweizer Komponist und Schlagzeuger Jessie Cox, der bei Lewis an der Columbia University studiert, veranschaulicht, wie eine solche Mix-Zukunft aussehen und klingen könnte. Cox wuchs in der mehrheitlich deutschsprachigen Schweizer Stadt Biel auf, seine Familie hat Wurzeln in Trinidad und Tobago. Schon früh lernte er Djembe und lateinamerikanische Rhythmen und widmete sich später einem gründlichen Studium der modernen Komposition. Bei MaerzMusik trat er im Rahmen der Hommage an El-Dabh am Schlagzeug auf und präsentierte mit Gitarrist Nicola Hein und Sheng-Spieler Wu Wei das teilweise improvisierte Stück Sound is Where Drums Meet. Cox trat auch in einem Programm des Ensemble Modern mit dem Titel Afro-Modernism in Contemporary Music auf, das auch Werke von Hannah Kendall, Alvin Singleton, Daniel Kidane, Andile Khumalo und Tania León vorstellte.

Am deutlichsten offenbarte sich die Idee einer kreolisierten Musik in Sound Is Where Drums Meet, in dem tief verwurzelte Welttraditionen implizit miteinander verschmolzen (die Sheng, ein chinesisches Instrument mit durchschlagender Zunge, eine Art Mundorgel, ist mindestens dreitausend Jahre alt). Das Stück war jedoch keineswegs eine ethno-musikwissenschaftliche Übung; vielmehr bedienten sich die Interpret*innen einer experimentellen Lingua franca, die von zarten Klangfarben bis hin zu furiosen Anfällen im kollektiven Pandämonium reichte und mich in manchen Momenten an Duos von Max Roach und Cecil Taylor erinnerte. Nicht weniger beeindruckend war Existence lies In-Between, Cox’ Beitrag zum Ensemble-Modern-Programm. Dabei handelt es sich um eine vollständig notierte Partitur, die den Interpret*innen dennoch Freiheiten lässt. So wird beispielsweise die Bassklarinette manchmal aufgefordert, „wild, frei, jazzig“ in der Art von Marshall Allen, dem langjährigen Saxofonisten des Sun Ra Arkestra, zu spielen. Cox’ Stil könnte man als dynamischen Pointillismus bezeichnen, bei dem hingehauchte Instrumentalgeräusche in klagende Glissandi übergehen, um im Ansturm rasender Figurationen zu kulminieren.

Dennoch schienen beide Stücke in getrennten Welten zu verweilen: das eine in der experimentellen Zone, das andere im Konzertsaal. Online hat Cox bereits Projekte durchgeführt, die solche Unterscheidungen aufheben, indem sie ihre eigenen, virtuellen Akustikräume erschaffen. So präsentierte er kurz nach seinem Besuch in Berlin in Zusammenarbeit mit dem ISSUE Project Room eine 90-minütige Arbeit namens The Sound of Listening, die das Publikum zum Besuch diverser „Räume“ einlädt, in denen sich verschiedene musikalische Aktivitäten abspielen. Dabei herrscht eine nachdenkliche Stimmung, die frei schweifenden Gedanken viel Raum gibt: Das Eröffnungssolo der Bassistin Kathryn Schulmeister etwa wirkt wie eine rastlos suchende Meditation. Weitaus hektischer wirkt Breathing, eine Art Video-Arie, die Cox im November für die „Songbook“-Reihe der Long Beach Opera aufnahm. Der Schwarze Bassbariton Derrell Acon singt dabei mit vor Schmerz und Wut gebrochener Stimme, während er durch Stadt- und Waldlandschaften wandert. Am Ende atmet er aus, während Vogelgezwitscher die Tonspur füllt – eine idyllische Wendung, die ihn ebenso zu erstaunen scheint wie die Zuschauer*innen.

Inmitten der allgemeinen Tendenz zur Ad-libitum-Ekstase bei MaerzMusik – die Veranstaltung mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos schwoll zu einem beeindruckend apokalyptischen Getöse an – bot die Uraufführung von Jürg Freys Streichquartett Nr. 4 eine Oase der konzentrierten Stille. Frey, der aus Aarau in der Schweiz stammt – etwa fünfundvierzig Meilen von Cox’ Heimatstadt Biel entfernt –, schreibt Kammermusik, die dort anzuknüpfen scheint, wo Schostakowitsch aufgehört hat: in einem Bereich, in dem die romantischen Harmonien zu schönen, halbverschütteten Ruinen verkommen sind. Das Streichquartett Nr. 4 ist besonders aufgrund seiner Coda bemerkenswert, in der ein weiches, tiefes Cis mehr als hundert Mal wie eine gedämpfte Uhr auf dem Cello gezupft wird, während Geigen und Bratsche nach geisterhaften Akkorden greifen.

Das epische Finale des Festivals, die Zeitansage, bot ganz eigene umnebelnde Freuden. Mit dem Titel TIMEPIECE knüpfte es an Ablingers Werk TIM Song von 2012 an. In der ersten Stunde trat Lewis selbst als Rezitator auf; einige Stunden später begleitete das Quatuor Bozzini die Rezitator*innen mit Michael Oesterles Consolations, das der Stimmung nach Freys Quartett nicht unähnlich ist. Weit nach Mitternacht übernahm dann die irische Komponistin und Performerin Jennifer Walshe die Sendung und sorgte, ganz nach ihrer Gewohnheit, für Verwirrung. Sie stellte auf die Dublin-Zeit um, die seit 1916 nicht mehr gilt, und wich mit Ansagen wie „Beim dritten Glockenschlag wird es arsch Uhr sein“ vom Drehbuch ab. Vor allem aber war es faszinierend, die Uhrzeit in so vielen Sprachen zu hören – eine Vielfalt, die von der Weltoffenheit Berlins zeugt. Dem deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder zufolge sollten die verschiedenen Kulturen der Welt auf ihre Eigenheiten stolz sein und gleichzeitig nach einer höheren Wahrheit in der gemeinsamen Menschlichkeit suchen. Für ungefähr einen Tag schien diese Utopie Wirklichkeit zu werden, denn die Menschen vieler Nationen waren sich zumindest in einem Punkt einig: der Zeit.

Alex Ross ist Musikkritiker und schreibt seit 1996 für The New Yorker. Der Beitrag „The Sonic Extremes of the MaerzMusik Festival“ (Die klanglichen Extreme des MaerzMusik-Festivals) ist zuerst am 19. April 2021 unter dem Titel „The Noise of Time“ (Der Lärm der Zeit) in der Printausgabe von The New Yorker erschienen.

36 PUNKTE ZUM MASSLOSEN SCHAFFEN UNSERER WERKE

Signa Köstler

Liebe Kolleg*innen,

ich wurde gebeten, heute und hier einen Impuls zu geben. Ich habe die ehrenwerte Aufgabe, Mut zur Maßlosigkeit einzuflößen.

Ich muss mich in Zeiten wie diesen an Schriftsteller*innen wie Georges Bataille klammern und erkennen, dass (ich zitiere) „unser bestimmendes Moment der Überfluss ist, die Überfülle an Energie, und unser Ausgangspunkt ist die Sonne, die nichts als Verschwendung ist“.

In meiner Vorstellung fordert die Kunst an sich eine Grenzenlosigkeit.

Gegenüber dieser Forderung fühle ich mich gering, denn das Grenzenlose hat keinen Meister und seine Arbeit ist nie vollendet.

Es ist gänzlich unbequem, das Unmögliche zu begehren, aber das Mögliche erbleicht im Vergleich.

Das maßlose Schaffen ist eine ungesunde Besessenheit, egal, unter welchen Bedingungen, und ja, unsere Leidenschaften beuten uns aus und werden uns schließlich fressen, aber sind sie nicht das schönere Raubtier als die Biester, die uns sonst erbeuten?

Also 36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke:

1.Wir müssen unsere Werke an der äußersten Front aufbauen. Die Grenzen sind zu verletzen.

2.Wir müssen mit Verlusten rechnen, denn schädliche Elemente dürfen nicht verbannt werden. Wer am Messer leckt, zerschneidet sich die Zunge.

3.Unser Blick muss bis über den Überblick hinaus reichen, um sich dort zu verlieren. Wir haben keinen Anspruch darauf, unser Werk vollends zu kennen.

4.Wir schaffen mit vollstem Ernst. Auch wenn es lächerlich erscheint.

5.Wir müssen uns weder erklären noch rechtfertigen. Wir müssen auch gar nicht dazu imstande sein.

6.Wir dürfen uns pathetisch im schlechten Geschmack suhlen, denn was das heißt, weiß eh keiner.

7.Wir sind verpflichtet und verdammt zum maßlosen Schaffen. Keine Ruhe, keine Vollkommenheit, keine Erlösung … Weiter.

8.Das Werk muss um jeden Preis geschaffen und durchgeführt werden. Ohne Verspätung und ohne Beschränkung.

9.Wenn die Zeit knapp wird und Verstärkung fehlt, müssen wir Medikamente nehmen.

10.Wir müssen alle Aspekte des Werks in seiner Produktion und Präsentation kennen und unseren Einfluss gelten lassen. Unseren Produzenten müssen wir drohen, wenn sie uns beschränken. Unsere Dramaturgen müssen wir würgen, wenn sie uns durchkreuzen.

11.Wir bauen ein Modell, 1:1, akribisch bis ins letzte Detail. Mit Küche, Klo und Schlafzimmer.

12.Wir stecken unser Bühnenbild in Brand, wenn es notwendig ist.

13.Wir archivieren alle unsere Spuren und schießen Millionen Fotografien.

14.Wir schreiben die Geschichte wie ein Gen, denn sie hat sich zu entfalten. Unvorhersehbar und ohne Drehbuch.

15.Die Fiktion ist unzerbrechlich und endet nie. Die Realität ist sowieso ein Irrtum.

16.Immer müssen 53 Handlungen gleichzeitig geschehen. Zwar miteinander verbunden, aber nicht auf einmal wahrzunehmen.

17.Weil die Kunst ein Ausnahmezustand ist, verlangen wir volle, unbedingte Konzentration und stetige Wachsamkeit vom Publikum.

18.Unser Anliegen ist mit dem Alltag des Publikums unvereinbar. Es fordert gänzlich seine Freude und überlässt sie der Langeweile und dem Unbehagen.

19.Das Publikum wird die Treppen auf und ab gejagt, und in einen Raum nach dem anderen. Denn wer den Weg verliert, lernt ihn kennen.

20.Wir müssen beim Publikum betteln und drängen, um seine Haare, Nägel und Körperflüssigkeiten zu erlangen. Auch diese sind zu archivieren.

21.Wir müssen das Publikum beschenken und ernähren. Wir müssen in seine Gläser spucken. Wir lassen sie auch wetten, aber wir behalten den Gewinn.

22.Wir müssen das Publikum berühren, und manchmal auch schlagen.

23.Das Publikum muss in unseren Werken schlafen. Ihr Schlaf muss überwacht werden.

24.Wir müssen das Publikum (das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum) zu Hause und bei ihrer Arbeit aufsuchen.

25.Wir schulden dem Publikum das Maßlose.

26.Wir müssen bis zur Erschöpfung spielen. Tage, Wochen, Monate ohne Pause. Jeder Augenblick zählt in der fanatischen Verzweiflung des Werks.

27.Schmerz, Müdigkeit, Harndrang, Hunger und Durst sind uneingeschränkt dem Werk zu widmen.

28.Wir müssen in unseren Werken kollabieren, dort, wo uns jeder sieht.

29.Wir müssen uns schämen und unsere Scham preisgeben, bis zum Himmel stinken und kotzen einfach so.

30.Wir sind völlig indiskret.

31.Nur ungern entschuldigen wir uns.

32.Wir lügen wilder als die Pferde rennen können.

33.Wir müssen uns die Knochen brechen, die Zähne ausschlagen, die Augen verätzen, die Haut verbrennen, die Finger zerquetschen, die Genitalien elektrifizieren. Wir müssen uns vergiften und den Verstand verlieren.

34.Wir müssen unsere Mitspieler lieben und unbedingt vertrauen.

35.Wir müssen geduldig sein.

36.Wenn wir uns vom Werk zurückziehen, sind wir erschöpft, desorientiert, frigid, hustend und alternd.

Signa Köstler ist Performerin und Mitgründerin der Performancegruppe SIGNA. „36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke“ war ihre Eröffnungsrede am 19. Mai 2012 beim Künstler*innengipfel des Theatertreffens.

„ERFOLG IST IMMER EIN DESASTER“

William Kentridge im Gespräch mit Christiane Peitz

2016 wurde eine umfangreiche Schau aus dem vielfältigen Werk des Künstlers William Kentridge erstmals in Berlin von den Berliner Festspielen präsentiert: im Martin-Gropius-Bau (12. Mai bis 21. August 2016) und im Haus der Berliner Festspiele im Rahmen des Festivals Foreign Affairs (5. bis 17. Juli 2016). Kentridge ist nicht nur bildender Künstler, sondern auch Filmemacher, Regisseur und ein großer Erzähler. Seit mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten bewegt sich sein Schaffen durch unterschiedliche künstlerische Disziplinen.

Im Mittelpunkt seines Denkens steht die bildnerische Arbeit. Sie war Ausgangspunkt für eine große, von Wulf Herzogenrath kuratierte Ausstellung mit dem Titel „NO IT IS !“ im Martin-Gropius-Bau, mit Zeichnungen über die berühmten, Georges Méliès gewidmeten Animationsfilme von 2003 und Drawings for Projection (1989–2011) bis hin zu dem monumentalen filmischen Fries More Sweetly Play the Dance (2015) und der Rauminstallation The Refusal of Time, die 2012 erstmals auf der documenta zu sehen war. Die 45 Meter breite Filmprojektion More Sweetly Play The Dance war nicht nur im Martin-Gropius-Bau, sondern auch an der Fassade des Hauses der Berliner Festspiele zu erleben. Im Festspielhaus gab es außerdem weitere Filminstallationen des Künstlers zu sehen, und er präsentierte seine transdisziplinäre Lecture „Drawing Lessons“ auf der großen Bühne. 2012 als Vorlesungsreihe in Harvard entstanden, sind sie Reflektionen der eigenen ästhetischen Praxis, die sowohl vom Leben im Studio, von Kentridges Wertschätzung der Schatten und der Missverständnisse als auch von Kolonialgeschichte und dem politischen Umfeld zwischen Apartheid und Gegenwart erzählen. Das folgende Interview führte Christiane Peitz für Der Tagesspiegel.

Christiane Peitz:

Mr. Kentridge, Sie sagen, Ihren Erfolg verdanken Sie Ihrem Scheitern. Wie meinen Sie das?

William Kentridge:

Wahrscheinlich kann man jede Biografie so erzählen. Man ist, wer man ist, weil man mit diesem oder jenem scheiterte. Ich bin gescheitert bei meinen Versuchen, in Öl zu malen, Schauspieler zu werden, Filmemacher zu werden. Eines Tages fand ich mich im Atelier wieder, jetzt mache ich alles, malen, spielen, filmen. Ich profitiere von Dada, davon, dass diese Anti-Kunst den Raum der Kunst in alle Richtungen geöffnet hat. Mit 15 wollte ich Dirigent werden. Dann erfuhr ich aber, dass man dafür Noten lesen muss, also wurde es nichts. Jetzt inszeniere ich Opern, das ist fast wie Dirigieren, ohne Noten lesen zu können.

CP:Sie zeichnen vor der Kamera, machen ein Foto von der Zeichnung, ändern sie, machen wieder ein Foto: Wie kamen Sie zu dieser umständlichen Animationstechnik?

WK:Ich machte normale Filme mit Schauspieler*innen, in einem davon gab es eine kurze animierte Kohlezeichnung. Ein Freund von mir meinte, warum machst du nicht einen vollständigen Film nur auf diese Weise? Ich erwiderte: Bist du verrückt, weißt du, wie lange das dauert? Oft sind es sechs oder acht Monate für einen Zehn-Minuten-Film.

CP:Was geschieht auf diesen zahllosen Wegen zwischen Zeichnung und Kamera?

WK:Ich gehe weg von der Zeichnung, drehe mich um, mache zwei Fotos, gehe wieder zurück und habe jedes Mal einen frischen Blick auf das Bild. Kunst ist vielleicht genau das: dass man die Dinge immer neu sieht. Das Gehen hat etwas Repetitives. Man beginnt zu zählen, die Zeit wird zur Entfernung, zur Maßeinheit. Es ist ein sehr produktiver Raum für neue Ideen.

CP:In den Drawing Lessons erzählen Sie, wie Sie als Neunjähriger an Sommernachmittagen in Johannesburg die sich ständig verändernden Gewitterwolken beobachtet haben. Die vor dem Übermalen verwischte Kohle in Ihren Filmen erinnert daran.

WK:Alle Kinder gucken gerne in die Wolken und schauen, welche Formen sie annehmen. Und wenn man erst mal einen alten Mann oder einen Hundekopf identifiziert hat, sieht man nur noch diese eine konkrete Gestalt. Wir können nicht anders: Wir wollen der Welt Sinn verleihen.

CP:Hat Ihre Technik des Übermalens auch einen politischen Aspekt? Die Wirklichkeit – die Apartheid in Südafrika – wurde übertüncht, aber sie hinterließ Spuren?

WK:Und es gibt ständig Bewegung, etwas, was die Gesellschaft wie eine Maschine im Inneren antreibt, wie eine Maschine, und sie dazu bringt, unzufrieden zu sein, zu protestieren und die Dinge verändern zu wollen.

CP:Ihre Eltern arbeiteten als Anwälte. Sie verteidigten die Schwarzen, Opfer der Apartheid. Mit sechs entdeckten Sie auf dem Schreibtisch Ihres Vaters eine Schachtel mit Fotos von Leichen, Beweismaterial für einen Prozess. Ein Schlüsselmoment?

WK:Höchstens im Rückblick. Ich dachte, es ist eine Schachtel Schokolade, aber da waren diese Bilder von Menschen, die erschossen worden waren. Erst als ich mich fragte, warum in meinem Animationsfilm Felix in Exile solche Bilder auftauchen, fiel die Schachtel mir wieder ein. Damals war es ein Moment der Beschämung. Nicht dass ich mich persönlich geschämt hätte, es war die Scham der Welt.

CP:Würden Sie sich selber einen politischen Künstler nennen?

WK:Nur insofern, als ich ein polemisches Verhältnis zur Politik als Provisorium habe und mir ihrer Ungewissheit bewusst bin. Das Fehlen jeder politischen Botschaft in meinen Werken ist Ausdruck meiner Skepsis gegenüber jeglicher Gewissheit. Erfolg ist immer ein Desaster.

CP:Ihre Filmfiguren reden nie, es gibt Musik, Gesang, aber keinen Dialog. Misstrauen Sie der Sprache?

WK:Nein, ich kann ganz gut reden, anfangs war Jura durchaus eine Option. Aber mein Vater – er ist 93 Jahre alt und bei guter Gesundheit – war ein derart guter Anwalt, dass es keine gute Idee gewesen wäre, in seine Fußstapfen zu treten. Meine jüngere Tochter ist eine gute Anwältin geworden, die Begabung hat eine Generation übersprungen. Außerdem bin ich ein schlechter Dialogschreiber. Und vor allem gibt es nichts Komplizierteres, als Mundbewegungen zu animieren. Wiederholte Bewegung ist weit schwerer zu zeichnen als Transformation: Es ist leichter, ein Telefon in eine Katze zu verwandeln, als das Telefon umzudrehen.

CP:Sie arbeiten mit Kohle, mit Scherenschnitten, fast immer schwarzweiß. Warum kaum Farbe?

WK:Eine Frage des Temperaments. Es gibt Künstler*innen, die denken in Farbe, für mich ist Farbe eher Dekor. Ich arbeite gern mit Farbe, die schon da ist, der Farbe auf Landkarten zum Beispiel. Aber wenn ich selber Farben auf einer Palette mische, kommt immer das Gleiche heraus und nie das, was ich möchte. In meinen Operninszenierungen gibt es fantastische Farben, aber die verdanke ich den Kostümbildner*innen.

CP:Und warum schicken Sie einen in Ihren Installationen gern in dunkle Räume?

WK:Es geht nicht anders, wegen der Filmprojektionen.

CP:Nur praktische Gründe? Sie zitieren oft Platons Höhlengleichnis.

WK:Wir sind alle Kinder der Aufklärung, jedenfalls hier im Westen. Das Höhlengleichnis ist eine Art Gründungsmythos der Aufklärung. Wir müssen alle ins Licht kommen, es bedarf aber einer Autorität, die uns Gefangene aus der dunklen Höhle dorthin führt. Und weil es nur zu unserem Besten ist, kann auch Gewalt angewendet werden. Nehmen wir Libyen: Amerikaner und Briten retten die Libyer vor dem dunklen Zeitalter Gaddafis, indem sie töten und die Infrastruktur in die Luft jagen. Und dann sind wir überrascht, wenn es nicht in der Demokratie endet, sondern in einer Katastrophe. Missionierung, erzwungenes Bewusstsein, all das lässt sich auf Platon zurückführen. Was die Zukunft Südafrikas nach der Apartheid betrifft, bin ich übrigens verhalten pessimistisch.

CP:Sie ziehen alte Technologien den neuen vor, zeichnen Schreibmaschinen, alte Telefone …

WK:… aber ich benutze auch digitale Techniken, zum Ausstellungskatalog wird es eine App geben! Abgesehen davon ist es schöner, eine Schreibmaschine zu zeichnen als einen modernen Computer. Die Schwärze einer alten Schreibmaschine und die Schwärze des Kohlestifts, das passt gut zusammen. Sie hat eine klare Form, die in hunderten Varianten existiert: Ich könnte ein Jahr damit zubringen, Schreibmaschinen zu zeichnen. (Schaut auf sein Smartphone): Beim Smartphone ist die Reflexion auf der glänzenden dunklen Oberfläche künstlerisch vielleicht interessant, viel mehr aber auch nicht.

CP:Sie treten oft selber vor der Kamera auf, manchmal sogar doppelt, oder Sie zeichnen sich selbst. Warum so persönlich?

WK:Ich bin kein Schriftsteller, der es vermag, sich in die Psyche anderer hineinzuversetzen. Es geht mir aber nicht darum, Ich zu sagen, ich bin nur der Ausgangspunkt, alles andere wäre zu beliebig. Könnte ich auch Kunst machen, wie eine 30-jährige Schwarze Südafrikanerin sie kreiert? Höchstens als Pastiche, als Collage.

CP:Eine Frage der Ehrlichkeit?

WK:Nein, es ist nichts Moralisches, nur die praktische Frage des Ausgangspunkts. Das Inauthentische interessiert mich ohnehin mehr, das Ich rückt schnell in den Hintergrund. Meinen Film Felix in Exile

CP:… in dem Ihr gezeichnetes Alter Ego die Hauptrolle spielt …

WK:… habe ich deshalb begonnen, weil ich es mochte, dass die Wörter im Titel fast ein Anagramm sind. Ich hatte nicht vor, etwas über die Entfremdung oder Einsamkeit einer Person zu machen. Mir gefiel einfach das Buchstabenspiel, der Anblick der beiden Wörter untereinander.

CP:Ihre Familie stammt aus Litauen, Kentridge kommt von Kantrovich. Sie wuchsen als Nachfahre jüdisch-osteuropäischer Migrant*innen in Südafrika auf, wie hat das Ihre Arbeit geprägt?

WK:Ich bin am Rand der Gesellschaft aufgewachsen, nicht im Zentrum, mit dem Bewusstsein, dass die Geschichte turbulent verläuft und dass wir mit vielen Traditionen verbunden sind, nicht nur mit einer. Deshalb misstraue ich allen großen Theorien, bin skeptisch gegenüber Autoritäten. Ich halte die Welt für provisorisch und für absurd. Diese Respektlosigkeit entsteht fast von selber, wenn man ständig bemerkt, wie sehr sich die tatsächlich erlebte Welt von dem unterscheidet, was die Autoritäten über sie behaupten. Über die Minderwertigkeit eines Teils der südafrikanischen Bevölkerung zum Beispiel: Es ist vollkommen irrational, dass dein Schicksal von deiner Hautfarbe abhängt. Oder die Behauptung, unsere siebenjährige Dürre wäre von Frauen verursacht worden, die Miniröcke tragen und damit die Götter erzürnen. Wie gesagt, absurd!

CP:Stimmt es, dass Sie auch deutsche Vorfahren haben?

WK:Bei meiner Großmutter väterlicherseits gab es deutsche Juden aus Polen, die über Großbritannien nach Südafrika kamen. Komischerweise ist die deutsche Kultur sehr wichtig für mich geworden, ich verstehe selber nicht ganz, warum.

CP:Sie haben Hegel gelesen, kürzlich gab es in Berlin eine Ausstellung über Ihre Verbindungen zu Dürer. Als Junge hörten Sie mit Ihrem Vater Franz Schuberts Winterreise, mit Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore …

WK:… und ich habe den Faust mit der Handspring Puppet Company gemacht, später Georg Büchners Woyzeck inszeniert, Die Zauberflöte und kürzlich Alban Bergs Lulu. Die frühe Moderne, die das Soziale und das Menschliche im Blick behielt, ist mir näher als die Abstraktion und die Emanzipation der Farbe. Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Beckmann – George Grosz hat mich schon als Student interessiert. Aber ich müsste mich wohl einer Psychotherapie unterziehen, um herauszufinden, was mich damals Tausende Meilen von Deutschland entfernt an der Winterreise so faszinierte.

CP: Ihre Mutter verließ dann den Raum.

WK:Sie konnte es nicht ertragen. Sie war neun bei Kriegsbeginn, alles Deutsche war ihr verleidet. Es war die Generation, die sich nicht in der Lage sah, ein deutsches Auto zu kaufen, und erst in den Siebzigern wieder nach Deutschland reiste. In der jüdischen Community von Johannesburg war das weit verbreitet. Meine Mutter hätte nie eine Wagner-Oper besucht oder einen Liederabend.

CP:Berlin haben Sie zum ersten Mal 1981 besucht, wie war das?

WK:Wir sahen (auf Deutsch:) Die Macht des Schicksals, außerdem Brecht am Berliner Ensemble. Brecht war wichtig in Südafrika, sein Theater galt als Modell für politisches Theater mit radikalen Wurzeln. Das marxistische Gedankengut war uns vertraut. Ich sage gerne: Die beiden großen Rabbis des 19. Jahrhunderts waren Karl Marx und Sigmund Freud. Ihr Gedankengut hat mich geprägt, ohne dass ich ein Marxist oder ein Freudianer wäre.

CP:Und wie haben Sie Berlin als Stadt wahrgenommen?

WK:Der Zweite Weltkrieg war allgegenwärtig. Die Hälfte der Häuser war zerstört, die andere Hälfte voller Einschusslöcher. In Westberlin waren die Fassaden zwar repariert, aber man konnte es immer noch sehen. Das ist jetzt vollkommen anders. Ich wohne in einem Hotel unweit vom Checkpoint Charlie, der ehemalige Grenzübergang ist eine Disney World geworden, mit Trabi-Safaris, verrückt. Ich suche immer nach den Spuren der Vergangenheit, auch beim Pergamon-Altar gucke ich sofort, was ist alter Marmor, was ist ergänzt. Der schwedische Zimmermann, der den Elefanten in der Ausstellung hier gebaut hat, wollte kein deutsches Eichenholz verwenden. Ich dachte, ist das schwedischer Chauvinismus? Nein, es hat praktische Gründe, deutsche Eiche ist voller Schrapnell-Splitter.

CP:Heute noch?

WK:Die großen alten Bäume sind mit Metallsplittern aus dem Zweiten Weltkrieg gespickt, sie beschädigen das Sägeblatt, wenn man das Holz bearbeitet. Die deutsche Geschichte ist lebendig, sie steckt in den Wunden der Bäume, die nicht heilen wollen. Fast wie die Wunde von Amfortas: Noch 300 Jahre lang wird der Krieg in den Bäumen stecken.

CP:Im Martin-Gropius-Bau ist auch Ihre Rauminstallation The Refusal of Time zu sehen. Metronome, Uhren, das Zählen der Bilder bei Ihren Filmen: Was haben Sie im Lauf der Jahre über die Zeit herausgefunden?

WK:Am Ende geht es um Schicksal, weil das Leben endlich ist. Auch darum, was wir gern ungeschehen machen würden, die Dinge, die wir lieber nicht gesagt, die Mails, die wir lieber nicht verschickt hätten. Alles mündet in einem schwarzen Loch, alle Bilder, alles Leben, die Zeit selbst wird verschlungen. Der Sarg, in dem wir enden, ist das Urbild dieses schwarzen Lochs. Bleibt etwas von der Seele? Damit befasst sich die Stringtheorie, aber auch die Wissenschaftler*innen sind Poet*innen, die den Gedanken nicht ertragen, dass nichts bleibt.

(Auf Kentridges Smartphone ertönen Glockenschläge.)

CP:Da ist sie, die Zeit.

WK:Ich habe die Uhr gestellt. 45 Minuten Interview, wie vereinbart.

CP:In den Drawing Lessons schreiben Sie „Torschlusspanik“, deutsch, in Versalien.

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561 p. 169 illustrations
ISBN:
9783957494023
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