Alle wichtigen Bücher handeln von Gott

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Alle wichtigen Bücher handeln von Gott
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Fuldaer Hochschulschriften

Fuldaer Hochschulschriften

Im Auftrag der Theologischen Fakultät Fulda herausgegeben von Jörg Disse

in Zusammenarbeit mit Richard Hartmann

und Bernd Willmes

Markus Tomberg (Hrsg.)

Alle wichtigen Bücher

handeln von Gott

Religiöse Spuren in

aktueller Kinder- und Jugendliteratur

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Gestaltung: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-03964-6 (Print)

978-3-429-04870-9 (PDF)

978-3-429-06289-7 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

Markus Tomberg

Gestatten: Gott! Religion in der Kinder- und Jugendliteratur unserer Zeit. Befund, Deutung und Perspektiven für religiöses Lernen

Georg Langenhorst

Adam und Eva, Hazel Grace und andere Protagonisten aktueller Jugendliteratur im Religionsunterricht – unterrichtspraktische Erfahrungen und Reflexionen

Anne Holterhues

Von „Harry Christmas“ bis zum „Haus des Teufels“ – religiöse Elemente in aktueller Fantasy-Literatur am Beispiel von J. K. Rowlings „Harry Potter“ und Cornelia Funkes „Tintenwelt“

Christina Heidler

Hoppla, hier kommt: G. Ott. Was sich von Kinder- und Jugendliteratur theologisch lernen lässt

Markus Tomberg

Register

Autorenverzeichnis

Vorwort

„Wovon handeln Bücher eigentlich?“1 Thomas, der an einem „Buch von allen Dingen“2 schreibt, gibt sich nicht mit kleinen Fragen und speziellen Themenbereichen ab. Ihn interessiert das Grundsätzliche. Deshalb ein Buch von allen Dingen. Deshalb die Frage nach dem, was ein Buch zum Buch macht.

Für Thomas liegen die Dinge zudem komplizierter als für andere Menschen. Alle Dinge: Zu denen gehört auch das Unsichtbare. „Thomas sah Dinge, die sonst niemand sah.“3 Die Antwort seines Vaters auf die grundsätzliche Frage nach dem Wesen des Buches kann deshalb kaum verwundern: „‚Alle wichtigen Bücher handeln von Gott‘“,4 so seine Meinung, die Thomas’ Frage, die auch die unwichtigen Bücher einschließt, natürlich nicht beantwortet, sondern eine Spannung offenbart. Aus dieser Spannung speist sich Guus Kuijers fulminantes Kinderbuch „Das Buch von allen Dingen“, das tatsächlich auch von Gott handelt5 ebenso wie vom „Herr[n] Jesus“6, in dem Engel Tränen vergießen7 und Gottesdienste den Geruch des Todes atmen.8

Und natürlich gibt es jede Menge Bücherschränke.9 Kuijers „Das Buch von allen Dingen“ intoniert so zahlreiche Themen, die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur zu einem religionspädagogisch hochinteressanten Forschungsgebiet machen. Religiöse Themen begegnen intertextuell vernetzt, Texte eröffnen Resonanzräume für andere Texte und schließen die Bibel dabei nicht aus, sondern gerade ein – und spielen sie ein in aktuell relevante Bedeutungszusammenhänge und Lebenswelten. Umgekehrt spiegelt Literatur diese Welten, markiert Zusammenhänge, macht Verborgenes sichtbar und auf Abseitiges aufmerksam. Sie erweist sich damit sowohl didaktisch und als auch zeitdiagnostisch von großem Wert.

Für Kinder- und Jugendliteratur gilt dies in besonderem Maße, ist sie doch gleichsam von Haus aus didaktisch konfiguriert. Sie zielt auf die Lebens- und Lesewelten heranwachsender Menschen, will Orientierung geben und Entspannung ermöglichen – und das nah am Puls der Leserinnen und Leser wie der Welt, in der sie leben. Und erstaunlich unbefangen widmet sich diese Literatur inzwischen religiösen Fragen, experimentiert mit religiöser Sprache und sieht in der Welt des Religiösen eine Option, mit der jugendliche Leser zu konfrontieren lohnt.

Das Kontaktstudium der Theologischen Fakultät Fulda hat sich deshalb im Sommersemester 2015 der Kinder- und Jugendliteratur gewidmet. Die vier Vorlesungen sind in diesem Band in überarbeiteter und bibliographisch ergänzter Form zusammengetragen: Georg Langenhorst sichtet aktuelle kinder- und jugendliterarische Werke und gibt wichtige Hinweise zum Forschungsstand der religionspädagogischen Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur. Anne Holterhues gewährt am Beispiel von Jutta Richters Erzählung „Der Anfang von Allem“ sowie John Greens Roman „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ religionspädagogisch reflektierte Einsicht in die Praxis des jugendliterarischen Religionsunterrichts. Christina Heidler nimmt das Phänomen der derzeit sehr beliebten Fantasy-Literatur in den Blick und analysiert die „Tintenwelt“-Trilogie von Cornelia Funke und die Welt der „Harry-Potter“-Romane von Joanne K. Rowling. Markus Tomberg schließlich untersucht den Beitrag von Kinder- und Jugendliteratur für den theologischen Diskurs der Gegenwart und fragt nach der Wahrheitsfähigkeit fiktionaler Texte. Ein von Konstanze Kortüm erarbeitetes Register der in diesem Band aufgeführten kinder- und jugendliterarischen Texte soll die praktische Arbeit mit diesem Buch erleichtern.

„Das Buch von allen Dingen“ endet mit einem Vorleseklub und einer ernüchternden Erkenntnis. Thomas hat es nicht leicht mit seinem strengreligiösen Vater, der die Bibel wörtlich nimmt und dem das Strafen leicht von der Hand geht. Und auch der Herr Jesus kann ihm da nicht helfen. „‚Kannst du Papa helfen?‘“, fragt Thomas. Und Jesus antwortet:

„‚Ich fürchte, nein.‘ Das war schade, aber Thomas sah ein, dass es bei manchen Menschen schwierig war, sie zu erlösen. Man konnte vom Herrn Jesus nichts Unmögliches verlangen.“10

Diese und weitere literarische Provokationen zu entdecken, an- und aufzunehmen lädt der Band ein – sie machen Bücher zwar nicht generell, auf jeden Fall aber religionspädagogisch zu relevanten Büchern!

Fulda, im Februar 2016

Markus Tomberg

1 Guus KUIJER: Das Buch von allen Dingen. Hamburg : Oetinger, 2011, S. 9.

2 Ebd., S. 8, Herv. i. Orig.

3 Ebd.

4 Ebd., S. 9.

5 Vgl. ebd., S. 16 f. u. ö.

6 Ebd., S. 23 u. ö.

7 Vgl. ebd., S. 14 u. 17.

8 Ebd., S. 12.

9 Ebd., S. 21. Vgl. Wolfgang LÖFFLER: Bibliotheken als Motiv der Fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. In: Jörg KNOBLOCH ; Gudrun STENZEL (Hrsg.): Zauberland und Tintenwelt: Fantastik in der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim : Juventa, 2006 (Beiträge Jugendliteratur und Medien ; 17. Beiheft), S. 98–108.

10 Ebd., S. 93.

Gestatten: Gott! Religion in der Kinder- und Jugendliteratur unserer Zeit

Befund, Deutung und Perspektiven für religiöses Lernen

Georg Langenhorst

Drei Blitzlichter aus der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur zu Beginn:


Im Jahr 2013 erscheint in der bewährten Reihe kinderphilosophischer Foto-Text-Bücher der Band „Was, wenn Gott einer, keiner oder viele ist?“ In zwölf Gegensatzpaaren zeigen Oscar Brenifier und Jacques Desprès auf, wie sich die Menschen in den unterschiedlichen Religionen und Denkwelten Gott vorstellen. Auf jeweils einer Doppelseite werden solche Vorstellungen einander gegenübergestellt und kurz charakterisiert. Die für die Buchreihe typischen, futuristisch anmutenden Computergrafiken setzen die jeweiligen Gottesbilder in verfremdende, aber erkenntniserleichternde Illustrationen um. Am Ende des Buches – nach der nicht wertenden Aneinanderreihung verschiedener Vorstellungen – steht die Frage: „Und du?“1 Sie regt Kinder dazu an, sich über eigene tragfähige Gottesvorstellungen selbst Gedanken zu machen.
Und erneut 2015: Der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis3 des Jahres 2015 wird dem norwegischen Illustrator und Autor Stian Hole verliehen. In seinem für Kinder ab sechs Jahren (aber auch für Erwachsene) geeigneten Bilderbuch „Annas Himmel“4 wagt er sich an eine Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, die tröstet – ohne kitschig zu werden; ernsthaft ist – ohne zu überfordern; symbolisch ist – ohne in esoterische Beliebigkeit abzugleiten. In farbintensiven, mal realistischen, mal surrealistischen Illustrationen webt er in die Stunden des Abschieds von der verstorbenen Mutter kindliche Überzeugungen vom Himmel und Jenseits ein. Erinnerungen, Gegenstände, die an die Mutter erinnern, Vorausblicke auf den anstehenden Weg zur Bestattung, Visionen von einem Wiedersehen in einer endgültigen Gemeinschaft: All das wird meisterhaft und zaubergetränkt in wenigen Worten und in immer wieder neu im Detail zu entdeckenden Bildern erzählt. In die stets nur angedeuteten, nie aufgedrängten Sinnangebote werden feinfühlig christliche Vorstellungen mit aufgenommen.

Eines haben diese drei blitzartig aufgerufenen Szenarien gemeinsam: Heutige Autorinnen und Autoren sowohl von Kinder- als auch von Jugendliteratur integrieren religiöse Dimensionen völlig selbstverständlich in ihre Werke. Die Frage nach Gott; die Darstellung einer mehr und mehr pluralen religiösen Landschaft in unserer Lebenswelt; die Auseinandersetzung mit Leiden und Tod – damit sind die drei wichtigsten Themenfelder benannt, innerhalb derer sich Religion in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur spiegelt.5 Entscheidend zur Einordnung: Religion wird dabei nicht zu einem Hauptfeld dieser Literatur. Bemerkenswert ist vielmehr, dass Religion ein Bereich unter vielen ist, der sich in solchen Texten finden lässt.

 

1.Religion in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur: Ein Überblick

Dieser Befund erweist sich vor allem deshalb als so brisant, weil er eben alles andere als selbstverständlich ist. Seit den 1960er Jahren galt für lange Zeit, dass Religion – außerhalb der eindeutig ausgewiesenen katechetischen Literatur der kirchlichen Verlage – im Kinder- und Jugendbuch keine Rolle mehr spielte. Es schien vielmehr so, als habe die Kinder- und Jugendliteratur „seit den sechziger Jahren“ einen „wichtigen Themenbereich verloren: den religiösen“.6 Dafür gab es freilich gute Gründe: Die religiöse Kinder- und Jugendliteratur der 1950er, 1960er und 1970er Jahre war weder ästhetisch noch pädagogisch, geschweige denn theologisch oder ethisch auf der Höhe der Zeit. Man blieb weitgehend alten Vorstellungen verhaftet, die wieder und wieder aufgekocht wurden, verlor so aber völlig den Kontakt zur gegenwärtigen Lebens- und Lesewelt des Zielpublikums.

In seiner 1968 veröffentlichten Schrift „Zwischen Verkündigung und Kitsch“ kommt der evangelische Religionspädagoge Friedrich Hahn zu einem ernüchternden Ergebnis: Religiöse „Probleme und spezifisch christliche Fragestellungen“ spielten in dem von ihm überschauten Zeitraum „nur eine untergeordnete Rolle“. Und wenn doch, dann geschehe die Auseinandersetzung „in einer diese Probleme verharmlosenden, ja verflachenden Weise“.7 Ähnliche Wahrnehmungen und Wertungen finden sich immer wieder in den Untersuchungen über den Stellenwert von Religion in der Kinder- und Jugendliteratur in den Folgejahren. Der katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas spricht etwa von „steriler Harmlosigkeit und literarischer Inferiorität“ derartiger Werke,8 Gottfried Hierzenberger moniert die Häufung von „Worthülsen und Sprachklischees in religiösen Kinderbüchern“9, und zahlreiche weitere Beispiele für derartige Äußerungen ließen sich nennen. Religion in der autonomen, nicht kirchlich gebundenen Kinder- und Jugendliteratur – dieses Thema lag für mehrere Jahrzehnte weitgehend brach. Nur konsequent: Es handelte sich im Blick auf die Primärliteratur, im Blick auf die literaturwissenschaftliche Beachtung, aber auch um ein „in der Religionspädagogik vernachlässigtes Thema“10.

Die drei Blitzlichter aus der aktuellen Szene der Kinder-und Jugendliteratur haben schon gezeigt: Dieser Befund gilt heute nicht mehr, im Gegenteil. Spätestens seit Jutta Richters sehr erfolgreichem Kinderbuch „Der Hund mit dem gelben Herzen oder die Geschichte vom Gegenteil“ (1998) betrat mit „Gott“ „ein neuer Protagonist“ die Bühne der Kinder- und Jugendliteratur. Seitdem kann man mit der Berliner Literaturwissenschaftlerin Gundel Mattenklott von einem regelrechten „Boom der Religion in der Kinder- und Jugendliteratur“11 sprechen. Hier „hat sich in den vergangenen Jahren ganz offenbar etwas verändert“, gibt es doch „einen regelrechten Trend zum religiösen Kinder- und Jugendbuch“, so auch die Feststellung im Vorwort der 2007 erschienenen Ausgabe der Zeitschrift „Bulletin Jugend & Literatur“ zum Thema „Und was glaubst du?“.12

Unterschiedlichste Autorinnen und Autoren gestalten

auf ganz individuelle Weise ihren Zugang zu Religion. Der

Bogen spannt sich weit:13


Da finden sich fiktionale Ausgestaltungen von biblischen Erzählungen, sei dies im Blick auf alttestamentliche Themen (etwa Ulrich Hub „An der Arche um Acht“, 2007; Jutta Richter „Der Anfang von allem“, 2008; Heinz Janisch „Wie war das am Anfang?“, 2009; Jutta Koslowski „Ester“, 2011; Linda Wolfsgruber „Arche“, 2013);
oder neutestamentliche Stoffe (wie zum Beispiel Alois Prinz „Der erste Christ. Die Lebensgeschichte des Apostels Paulus“, 2007; Arnulf Zitelmann „Ich, Tobit, erzähle diese Geschichte“, 2009; Doris Dörrie „Der verlorene Otto“, 2011; Alois Prinz „Jesus von Nazaret“, 2013; Rose Lagercrantz ; Jutta Bauer „Das Weihnachtskind“, 2015).
Völlig eigenständig erfolgt die direkte Auseinandersetzung mit Gott,15 die fast immer in konkrete Problemstellungen aus dem heutigen Lebensalltag eingebettet wird (vgl. nur Johann Hinrich Claussen „Moritz und der liebe Gott“, 2004; Elisabeth Zöller „Lara Lustig und der liebe Gott“, 2006; Danielle Proskar „Karo und der liebe Gott“, 2009 ; Rafik Schami „‚Wie sehe ich aus?‘, fragte Gott“, 2011; Marie-Hélène Delval/Barbara Nascimbeni „Wie siehst du aus, Gott?“, 2011 ; Kitty Crowther „Der kleine Mann und Gott“, 2012).
Eine traditionelle Verortung der religiösen Dimension ist die Frage nach dem Sinn von Tod und Sterben,16 häufig gekoppelt mit der direkt benannten Theodizeefrage (vgl. Sally Nicholls „Wie man unsterblich wird“, 2008; Jürg Schubinger „Als der Tod zu uns kam“, 2011; Peter Carnavas „Die wichtigen Dinge“, 2011; John Green „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“, 2012; Rosemarie Eichinger „Eine Sonne für Oma“, 2013; Kai Lüftner ; Katja Gehrmann „Für immer“, 2013; Marjolijn Hof „Opi Kas, die Zimtziegen und ich“, 2015).

In diesen – und weiteren – Themenfeldern bietet die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur zahlreiche reizvolle Zugänge zu Religion in all ihren Erscheinungsformen und Varianten an. Die Art und Weise, wie Religion in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur dargestellt oder mit eingeschrieben wird, umfasst dabei eine große Spannweite im Blick auf Ernsthaftigkeit und Traditionstreue, Kreativität und Klischeebehaftung, Poetizität und Formwahl. Eine Gewichtung des Befundes wird vor allem von den vorgängigen Wertungsbrillen der Betrachter abhängen: Wer vor allem Bestätigung des kirchlich verfassten Glaubens sucht, wird neben dem Gesuchten18 viel oberflächlich-unverbindliche Synkretismen finden. Wer sich primär für neue herausfordernde Bilder und Vorstellungen19 interessiert, wird neben manchen erhofften Kreativfundstücken viele langweilig-altbekannte Stereotype entdecken.

Zwei thematische Untersuchungen sollen die präsentierten Überblicke exemplarisch vertiefen. Zum einen geht es um die Darstellung von Alterität, in diesem Fall von kinder- und jugendliterarischen Annäherungen an die Weltreligionen. Konkretisiert werden diese Ausführungen durch einen besonderen Blick auf die neueren Spiegelungen des Judentums.


2.Alterität konkret: Literarische Annäherungen an die Weltreligionen

Literatur kann – so der Paderborner Germanist Michael Hofmann – grundsätzlich „als Einübung in die Erfahrung von Alterität und Differenz überhaupt begriffen werden“20. Es gibt, schreibt er in seiner „Einführung“ in die „Interkulturelle Literaturwissenschaft“, eine „besondere Affinität von Literatur zu Problemen und Möglichkeiten interkultureller Begegnung“21. Diese Affinität gibt es sicherlich, aber sie erstreckt sich nicht nur auf den Bereich der interkulturellen, sondern eben auch auf das spezifische Feld der interreligiösen Begegnung.

a. Interreligiöse Öffnungen

Im Rahmen der aufgezeigten neuen Präsenz von Religion im deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuch findet sich nun immer deutlicher eine interreligiöse Öffnung, ein in sich ganz neuartiges Phänomen, das seit etwa 20 Jahren zu verzeichnen ist und mehr und mehr zunimmt. Das Andere, das Fremde tritt hier immer deutlicher ins Blickfeld und spiegelt die immer selbstverständlicher werdende, eben nicht nur kulturelle, sondern auch religiöse Pluralität in den Ländern des deutschsprachigen Raums. Diese

führung. Paderborn : Wilhelm Fink Verlag, 2006, S. 5. Entwicklungen schlagen sich auch im Sachbuchbereich22 nieder, die Konzentration gilt hier aber dem Bereich von Fiktion.

Zunächst fällt eine Reihe von Büchern ins Auge, in denen die Pluralität, das breite Nebeneinander verschiedener Religionen, selbst zum Thema wird. In Marie Desplechins Roman „Ich, Gott und Onkel Frederic“ (1994, dt. 1998) führt Christoph mit seinem Onkel Frederic Gespräche darüber, ob es Gott gibt, wenn ja, wie man ihn sich vorstellen kann, und warum es so viele verschiedene Religionen gibt: „Gott hat mich von klein auf fasziniert“23, gibt Christoph in wenig kindgemäßer Sprache gleich zu Anfang zu erkennen, und diese Faszination lässt er sich auch durch all seine Gespräche mit verschiedenen Bezugspersonen nicht austreiben. Auch im Kinderbuch „Gott zieht um“, das Irma Krauß 2003 veröffentlichte, rückt die religiöse Frage ins Zentrum, freilich auffälligerweise im Buch einer Autorin, die zwar selbst aus christlicher Tradition stammt, auf das Feld der Religion aber eher aus Distanz denn aus klarer Position zugeht. Der Bau einer Moschee in der Nachbarschaft wird für die Brüder Jörg und Märten zum Anlass, ganz neu über Gott und die Welt nachzudenken. Sie beschränken sich dabei jedoch weitgehend auf die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die „einen gemeinsamen Gott verehren“, schließlich gilt doch: „Das ist doch derselbe! Gott und Allah. […] Und die Juden sagen Jahwe.“24 Das Buch schließt mit der Einsicht, dass man Gott – zumindest „kleinen Stückchen von ihm“25 – hier bei uns auf ganz unterschiedliche Weise begegnen kann.

Die Mehrzahl der interreligiös sensiblen Kinder- und Jugendbücher unserer Zeit versucht die Pluralität unserer Gesellschaft auch in eine Pluralität der Erzählperspektiven umzusetzen. Georg Schwikarts Buch „Gott hat viele Namen“, 1993 erstveröffentlicht, erlebte noch bis 2008 Neuauflagen. In ihm erzählen sieben Kinder aus unterschiedlichen Teilen der Welt von ihrem jeweils eigenen Glauben. Die Positionen und Erfahrungen bleiben gleichwertig nebeneinander stehen. Ähnlich in der von Katharina Ebinger herausgegebenen Sammlung von „Fünf Erlebnisse[n] mit den Weltreligionen“, publiziert unter der Überschrift „Mensch sucht Sinn“ (2004), in Victoria Krabbes „Sara will es wissen: Eine Geschichte über die 5 Weltreligionen“ (2008) oder in Christiane Thiels „Mein Gott und ich : Ein Roman über die Weltreligionen“ (2009). Diese Bücher versuchen, die Pluralität der Religionen greifbar und verständlich zu machen, sie narrativ in den Alltag heutiger Kinder und Jugendlicher hineinzuholen. Selbst noch Michael Schmidt-Salomons heftig umstrittenes Provokationsbuch „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel : Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen“ (2007) bestätigt dieses neue Interesse für die Weltreligionen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, auch wenn es alle Religionen ablehnt. Wo die erstgenannten Bücher darauf abzielen, die fremden Welten verständlich zu machen, setzt Schmidt-Salomon darauf, die fremden Welten aller Religionen in ihrer Fremdheit noch zu steigern, um sie letztlich zurückweisen zu können.

 

b. Der Prototyp: Catherine Cléments „Theos Reise“

An einem herausragenden Beispiel kann man dieses neue Interesse der Kinder- und Jugendliteratur für das Nebeneinander der Weltreligionen besonders anschaulich verdeutlichen. Der 1997 erstveröffentlichte Jugendroman „Theos Reise“ der Französin Catherine Clément (* 1939) wurde zu einem Welterfolg. Der 700 Seiten starke, insgesamt mit religionswissenschaftlichem Bildungswissen schwer befrachtete „Roman über die Religionen der Welt“ stellt uns in der Rahmenhandlung als Identifikationsfigur Theo vor. Theo ist 14 Jahre alt, Sohn einer griechisch-französischen Familie, wie selbstverständlich befreundet mit einer Schwarzafrikanerin, nicht-religiös erzogen, verwurzelt in einem kritischen, wissenschaftlich orientierten Weltbild – und in dieser Mischung ein Vertreter heutiger jugendlicher Lesender. Theo erkrankt an einer rätselhaften und lebensbedrohlichen Krankheit, für welche die europäische Schulmedizin kein Heilungsmittel kennt. In dieser Situation nimmt sich seine Tante Marthe seiner an, eine Millionärin und erfahrene Weltreisende. Sie hofft, dass er auf einer Weltreise zu den zentralen Entstehungs- und Wirkungsstätten der großen Religionen Heilung finden kann. Die Reise führt die beiden in alle Kontinente (bis auf Australien) und zu allen zentralen Stätten der Weltreligionen, die Theo neugierig und kritisch zugleich kennen lernt. Am Ende hat Theo ein belastendes Familiengeheimnis aufgedeckt: Die vor ihm geheim gehaltene Zwillingsschwester starb bei seiner Geburt. Er selbst aber ist von seiner Krankheit tatsächlich genesen.

Zahlreiche konzeptionelle Entscheidungen verhindern, dass der insgesamt zu stark bildungsüberladene, zu stark didaktisierte Roman letztlich dennoch gelingt.


Verzicht auf den Versuch einer objektiven Schilderung der Religionen, stattdessen subjektiv vermittelte Eindrücke durch Begegnungen mit Vertretern dieser Religionen – wobei es sich transparent eingestanden durchweg um dialogoffene Repräsentanten handelt: „Ich lern immer nur die Besten kennen, nie die Schlimmsten“, erkennt Theo, worauf seine Tante zu bedenken gibt: „Die Schlimmsten würden auch nicht mit dir reden. Sie würden keinesfalls hinnehmen, dass jemand alle Religionen zugleich verstehen will.“26 In Bezug auf die Darstellung der Einzelreligionen ist diese literarische Vorentscheidung nachvollziehbar. Aber: Hilft die Ausblendung der intoleranten Aspekte?
Polyperspektivität : Sämtliche Religionen werden aus mehr als einer Perspektive dargestellt. Unterschiedliche Gläubige betonen unterschiedliche Aspekte, und sowohl Theo als auch seine Tante kommentieren und fragen auf je eigene Weise. Diese Breite der Darstellung lässt Raum für differenzierte Zugänge.
Kulturelle und gesellschaftliche Verankerung: Die Religionen werden nicht als zeit- und raumlose Phänomene dargestellt, sondern angebunden sowohl an die jeweilige gesellschaftspolitische Gegenwart der Kernländer als auch an geographische und historische Gegebenheiten zur Gründungszeit sowie im Laufe der Geschichte. Interkulturalität und Interreligiosität durchdringen einander.
Zurückhaltung in Wertung und Hierarchisierung der Religionen untereinander zugunsten einer grundsätzlichen Achtung der Glaubensüberzeugungen. Die jeder Religion inhärente Wahrheitsfrage wird als unbeantwortbar zurückgewiesen. Diese Vorgaben sind zwar gut gemeint, lassen Jugendlichen aber nur die Alternative des brav-folgenden Abnickens dieser Position oder die der eigenen Abweichung. Kann man Toleranz „verordnen“?
Durchgängig positive Bewertung der Grunddimension „Religion“. Religionen spielen nicht nur für ihre jeweiligen Repräsentantinnen und Vertreter eine wichtige lebensgestaltende Rolle, die Begegnung mit diesen Religionen führt zudem zu einer letztlichen Gesundung des Protagonisten Theo.

Bei all den gelungenen Aspekten darf nicht verschwiegen werden, dass die pädagogische Absicht dieses „Roman-Sachbuchs“27 nicht nur die erzählerische Phantasie in enge Grenzen gießt, sondern auch den Grundeindruck trübt. Wenn das Miteinander der Religionen so harmonisch ist, wo liegt dann das Problem? Wenn alle Religionen im Kern so gut sind, warum dann die endlose Geschichte der Religionskriege? Wenn man die Religionen so objektiv und gleichberechtigt wie Theo erleben kann, warum dann die Notwendigkeit zur Entscheidung zu einer eigenen lebenstragenden Religion?

c. Anfänge einer deutsch-muslimischen Kinder- und Jugendliteratur Erst ganz allmählich bildet sich eine literarische Tradition aus, die man die neue „deutsch-muslimische Literatur“28 nennen kann. Wie in der „Erwachsenenliteratur“ finden sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur erste vorsichtige Aufbrüche. Maria Regina Kaiser schildert bereits 1999 in dem Jugendbuch „Wohin ich gehöre“ anhand des Schicksals der 16-jährigen Gülten den Konflikt von deutschtürkischen Mädchen zwischen zwei Kulturen, die hier freilich noch wenig religiös geprägt werden. Karin König hatte schon 1988 in „Oya : Fremde Heimat Türkei“ diesen interkulturellen Konflikt im Medium Jugendbuch nachhaltig thematisiert. Vor allem in Randa Abdel-Fattahs Roman „Und meine Welt steht Kopf“ (2007), dann auch in Aygen-Sibel Celiks Romanen „Seidenhaar“ (2007) und „Seidenweg : Sinems Entscheidung“ (2012) werden diese interkulturellen Konflikte – auffälligerweise ausschließlich aus der Sicht von Mädchen – weitergeschrieben, immer wieder auch mit nicht im Zentrum stehenden Seitenblicken auf spezifisch religiöse Fragen. Ganz offensichtlich scheut die zarte Pflanze der deutsch-muslimischen Literatur auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur – zumindest zunächst – eine Konzentration auf religiöse Fragestellungen.

Zwei Seitentraditionen gehen hier eigene Wege. In der ersten erfolgt der Zugang zur Beziehung von Islam und Christentum im Medium des historischen Romans, oft im Sinne der trialogischen Verbundenheit der drei abrahamischen Religionen29 mit Seitenblicken auf das Judentum. Kirsten Boies „Alhambra“ aus dem Jahr 2007 kann hier genauso genannt werden wie Mirjam Presslers Lessing-Neuadaptation „Nathan und seine Kinder“ (2009) oder Titus Müllers Roman „Der Kuss des Feindes“ (2012). In der Rückprojektion in die Vergangenheit lassen sich explizit religiöse Fragen offensichtlich leichter in Romanhandlungen integrieren, weil die doppelte strukturelle Fremdheit von Raum und Zeit dann auch die Fremdheit von Religion aufnehmen kann. Über den Islam heute und hier wird dabei nichts gesagt.

Das ist ganz anders bei der zweiten hier zu nennenden Nebenlinie. Auf der anderen Seite liegen nämlich erste Bücher vor, in denen eine Art Einweisung in die religiöse Welt des Islam sich der Narration bedient. In einer ersten Welle wurden solche erzählerischen Einführungen in den Islam aus der objektiven Distanz der Religionswissenschaft präsentiert, vorgelegt von aus dem Christentum stammenden und um interreligiöse Verständigung bemühten Autorinnen und Verfassern. Georg Schwikarts Kinderbuch „Julia und Ibrahim“ aus dem Jahr 1993, versehen mit dem Untertitel „Christen und Muslime lernen einander kennen“, gehört in diese Kategorie, später Monika Tworuschkas Bücher wie „Mohammed : Die Geschichte des Propheten“30 (2000) oder „Der geheimnisvolle Besucher“ (2001), dann Michael Landgrafs „Salam Mirjam : Eine Begegnung mit dem Islam“ (2008). 2015 erschien ein weiterer Versuch, älteren Kindern und Jugendlichen „das unbekannte Leben des Propheten“ zu erschließen, so der Untertitel des Buches „Mohammed“ des Islamwissenschaftlers Lorenz Just. Das Problem all dieser Bücher: Sie nehmen fiktionale Elemente auf und mischen diese mit der Gattung des Sachbuches. Das Ergebnis ist jedoch eher ein „weder – noch“ als ein „sowohl – als auch“. Sie wecken das Bedürfnis nach beidem: nach guten Sachbüchern und guten Jugendromanen. Beiden Ansprüchen genügen sie nicht. Deshalb bleibt auch ihr Einsatz sowohl in der Leseals auch in der Vermittlungspraxis gering.

Inzwischen haben muslimische Verfasserinnen und muslimische Verlage selbst diese Idee aufgegriffen. Der seit 2010 aktive Freiburger Salam Verlag etwa setzt sich – so die zwischenzeitlich im Internet lesbare Verlagsauskunft – explizit das Ziel, „die religiöse Erziehung von muslimischen Kindern in Deutschland zu vertiefen“ und dabei „die freie und ästhetische religiöse Erziehung zu fördern“. In Nadia Doukalis Buch „Muhammad, Prophet des Friedens“ oder Bärbel Manaar Drechslers „Yusuf, der Prophet“, beide 2011 publiziert, findet sich so eine Art erzählerische Einweisung in die religiösen Grundlagen des Islam, die der explizit katechetischen Literatur des Christentums gleichen. In der unmittelbaren Wissens-Vermittlung mögen sie ihr Potential entfalten, literarisch bleiben sie bemüht und wenig bedeutsam.