a tempo - Das Lebensmagazin

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From the series: a tempo - Das Lebensmagazin #25
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a tempo - Das Lebensmagazin
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1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

3 – editorial An der Hecke des Paradieses von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch Kann Intelligenz künstlich sein? Edwin Hübner im Gespräch mit Martin Lintz

5 – thema Beuys, wer bist du? von Albert Vinzens

6 – augenblicke social plastics. Kann das weg oder wird das Kunst? von Uschi Groß

7 – herzräume Rotkäppchen von Brigitte Werner

8 – erlesen Claus-Peter Lieckfeld «Die Wiederkommer» gelesen von Gerhard Trommer

9 – mensch & kosmos Allen ein Freund sein von Wolfgang Held

10 – alltagslyrik – überall ist poesie Sonne sagen – Sonne sein von Christa Ludwig

11 – kalendarium Mai 2021von Jean-Claude Lin

12 – was mich antreibt An einem Sonnabend von Simone Lambert

13 – unterwegs Gefühle und Gelassenheit von Daniel Seex und Jean-Claude Lin

14 – sprechstunde So gesund macht uns das Meer von Markus Sommer

15 – blicke groß in die geschichte Ein Licht, das nie erlosch. Der griechische Unabhängigkeitskampf von Konstantin Sakkas

16 – von der rolle Wes Andersons fabelhafte Welt Der Film «Grand Budapest Hotel» von Elisabeth Weller

17 – hörenswert Mit allen Registern: Charles Marie Widor von Thomas Neuerer

18 – wundersame zusammenhänge Fülle – nicht Mangel von Albert Vinzens

19 – literaratur für junge leser Jochem Myjer: «Die Gorgel und das Geheimnis des Gletschers» gelesen von Simone Lambert

20 – mit kindern leben Oma auf dem Spielplatz von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft

21 – sehenswert Schönheit und Gewalt gesehen von Konstantin Sakkas

22 – eine seite lebenskunst Ich habe den Menschen gesehen. Zum 150. Geburtstag von Christian Morgenstern von David Marc Hoffmann

23 – sudoku & preisrätsel

24 – tierisch gut lernen Doch lieber ein Nestflüchter sein? von Renée Herrnkind und Franziska Viviane Zobel

25 – suchen & finden

26 – ad hoc Manchmal werden Wünsche wahr … von Ulrike Geist

27 – bücher des monats

28 – impressum

3 – editorial

AN DER HECKE DES PARADIESES

Liebe Leserin, lieber Leser!

Das Kehren ist für mich eine überaus befriedigende Tätigkeit. Ohne den Lärm eines Staubsaugers, mit einem einfachen, aber guten Besen, den Dreck, die Krümel, den Staub in einem Zimmer zu beseitigen, empfinde ich als sinngebende, erfüllende Tätigkeit. Unter meinen Sohlen knirscht es dann nicht mehr auf dem Parkett oder den Fliesen und in den Ecken wie unter dem Bett oder den Regalen sammeln sich keine Staubflusen mehr. Mit Christian Morgenstern, der 1902 unter seinen Aphorismen notierte: «Kunst heißt Ordnung schaffen – dies Wort Nietzsches fällt mir auf Schritt und Tritt ein, seit ich wieder in Italien bin.» kann ich mich sogar als Künstler wähnen.

Der große Vorzug am Kehren ist, dass ich nicht mal nach Italien reisen muss, um diese Kunst erfahren zu können. Ich brauche nur meine vier Wände, einen Boden ohne Teppich und einen Besen – und die Energie, um den Besen zu führen, ist die ganz eigene hervorgebrachte. Das ist wohl ein kleiner, stiller Unterschied zum Staubsauger, zur Maschine überhaupt, dass ein Werkzeug in seiner einfachen Gestalt nur die Selbstenergie des Menschen braucht. Vielleicht konnten in früheren Jahrhunderten die Menschen, die einem Handwerk ohne den Lärm einer Maschine nachgingen, ob als Gärtner, Schuhmacher, Schmied, Schreiner oder Maurer, eher ein spirituelles Leben führen als heutzutage jene, die lärmende Maschinen steuern müssen. 1891 notierte Christian Morgenstern: «Die Kunst hat einst ihre Mission vollendet, wenn sie die Menschen wieder zur Natur zurückgeführt hat.» Ob die Kunst danach tatsächlich keine Aufgabe mehr innehat, sei einmal dahingestellt. Für das Wirken eines Künstlers wie Joseph Beuys muss das eine wesentliche Triebfeder gewesen sein.

Erst um die zwanzig Jahre alt war der am 6. Mai 1871 in München geborene Christian Morgenstern damals. Noch keine dreiundvierzig Jahre alt starb er am 31. März 1914. Was er anstrebte, wonach er stets verlangte, hat er unauslöschlich in sein Werk und Leben eingeschrieben: «Mir ist mein ganzes Leben zu Mut, als ginge mein Weg oft an der Hecke des Paradieses vorbei. Dann streift mich warmer Hauch, dann mein, ich, Rosen zu sehn und zu atmen, ein süßer Ton rührt mich zu Tränen, auf der Stirn liegt es mir wie eine liebe, friedegebende Hand – sekundenlang. So streife ich oft vorbei an der Hecke des Paradieses …». Im Paradies werde ich wohl keinen Besen mehr brauchen, aber vielleicht doch eine Gitarre, um den Gesang der Dichter zu begleiten.

Seien Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in diesem hoffentlich wonnigen Mai von Herzen gegrüßt!

Ihr




4 – im gespräch

kann intelligenz künstlich sein?

EDWIN Hübner im Gespräch mit MArtin lintz

Fotos: Wolfgang Schmidt

Gegenwärtige Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI), der Robotertechnik und der Biotechnologie beflügeln die Fantasien von Wissenschaftlern und Zukunftsforschern, wecken vielfach aber auch Ängste – und rufen Fragen nach den Konsequenzen für Mensch und Gesellschaft und ihrem Selbstverständnis hervor. Während Vertreter des Transhumanis­mus davon träumen, dass der Mensch durch Gehirn-Computer-Schnittstellen und durch Hochladen des Bewusstseins in digitale Speicher seine Intelligenz exponentiell steigern könne, eine Verschmelzung von Mensch und Maschine möglich sei und letztlich eine neue Spezies entstehe, äußerten führende KI-Forscher angesichts der drohenden Gefahren jüngst die Sorge, dass es in fünfzig Jahren keine Menschen mehr gebe.

Wie sind diese Entwicklungen einzuschätzen? Was bedeuten sie für den Einzelnen und die Gesellschaft der Zukunft? Darüber sprach ich mit dem Medienpädagogen und Mathematiker Edwin Hübner, der über diese Fragen vor Kurzem seine umfassende und tiefgreifende Studie Menschlicher Geist und Künstliche Intelligenz. Die Entwicklung des Humanen inmitten einer digitalen Welt veröffentlicht hat.


Martin Lintz | Lieber Herr Hübner, Sie leiten Ihr Buch mit der düsteren Prognose von Wissenschaftlern ein, der Mensch sei als biologisches Modell schon bald überholt und werde in seiner bisherigen Form dann nicht mehr existieren. Wie real ist diese Gefahr?

 

Edwin Hübner | Die Gefahr liegt vor allem in solchen Vorstellungen, denn sie treiben die technische Entwicklung in die Richtung dieser Anschauung. Dahinter steckt das Menschenbild, der Mensch sei eine Art Maschine. Denkt man ihn maschinell und glaubt, ihn durch Maschinen verbessern zu können, geht leicht das rein Menschliche verloren; der Mensch macht sich selbst zur Maschine. Das ist die eigentliche Gefahr: dass wir so werden, wie wir uns denken. Man schaut nicht mehr, was der Mensch denn ist. Dann kann es passieren, dass man die Gesellschaft zu einer mechanischen umbaut und sie inhuman wird. Die Ideo­logien des 20. Jahrhunderts (etwa in Deutschland, Russland, China) mit ihrem jeweiligen Menschenbild hatten furchtbare Konsequenzen. So auch hier: Hat man die Vorstellung, die Evolution gehe mit den Maschinen weiter, dann lebt man in dem Glauben, dass nicht viel verloren ist, wenn der Mensch verschwindet. Maschinen sind etwas Großartiges, aber wir müssen uns der Maschinenwelt mit der Erkenntnisfrage gegenüberstellen: Wer ist der Mensch wirklich?

ML | Droht sich also der Mensch durch die innere Haltung, mit der er die technische Entwicklung vorantreibt, letztlich selbst abzuschaffen?

EH | Ja, das würde ich so sehen. Die technische Entwicklung hat einzigartige Ergebnisse gebracht. Wenn man einen gelähmten Menschen mit einem Exoskelett versehen kann und er dann wieder in der Lage ist zu gehen oder man einem Tetraplegiker einen Chip ins Gehirn implantiert und er einen Roboterarm steuern kann, sind das bewundernswerte Errungenschaften! Das Problem ist nur: Sehe ich den Menschen als Roboter an – oder bekommen wir auch seinen geistigen und seelischen Anteil in den Blick? Erweitern wir die Naturwissenschaft zu einer Seelen- und einer Geisteswissenschaft, in der man spirituelle Aspekte mitbedenkt?

ML | Wenn KI – so die Vorstellung des Transhumanismus – selbst denken, selbst lernen und sich eigenständig weiterentwickeln kann, geht auch eine eigene Evolution mit ihr einher, und sie könnte den Menschen überholen … Treibt die digitale Technologie dadurch die Frage nach dem menschlichen Selbstverständnis auf die Spitze?

EH | Durchaus. Zum einen stellt uns die Gegenwart, direkt und indirekt, die Frage: Was halten wir vom Menschen? Zum anderen ist das Wort «Künstliche Intelligenz» irre­führend. Was heißt es denn, wenn ich sage, das «Zeug» soll denken? Welche Anteile enthält das Denken tatsächlich? Lassen wir das Dogma weg, dass das Gehirn das Denken erzeugt. Das Gehirn ist vielmehr das Organ des Denkens, wie mein Arm ein Organ meines Leibes ist. Niemand behauptet, die Armbewegung sei die Ursache dafür, dass ich die Kaffeetasse nehme. Sondern ich habe den Wunsch, die Tasse zu nehmen, und mein Arm ist das ausführende Organ. Ähnlich ist es mit dem Denken und dem Gehirn. Im Denken ist immer auch ein zukünftiges Moment. Ein digitales, programmiertes Gerät dagegen (das gilt auch für die leistungsfähigsten Computer) besteht aus vergangenem Denken. Ein Heer von Ingenieuren hat jahrelang beispielsweise an Textverarbeitungsprodukten gearbeitet; das ist geronnenes, fertiges, zu Ende gekommenes Denken. Das kann ich nicht mit dem gegenwärtigen Denken vergleichen.

Bei der KI trainiere ich künstliche neuronale Netze, habe gigantisch viele Daten, die ich mit statistischen Verfahren untersuche; dann bekomme ich relative Häufigkeiten heraus – die nehme ich und sage: Aha, so war es in der Vergangenheit, so wird es in der Zukunft auch sein. Ich projiziere Vergangenheit in die Zukunft. Alle Maschinen sind immer nur geronnene Vergangenheit, haben keine Zukunft. Deswegen ist es illusorisch zu glauben, sie könnten die Evolution weiterführen. Der Mensch hingegen hat sein altes, logisches Verstandesdenken nach außen gelegt – das wird jetzt von Maschinen übernommen –, um frei zu sein für ein neues, spirituelles Denken. Es ist unsere Aufgabe, dass wir Menschen die Evolution weiter­führen – eine innere, spirituelle Evolution.

ML | Wie können wir diese neue Evolution, die Spiritualität entwickeln?

EH | Hier ist für mich das Denken die zentrale Fähigkeit des Menschen. Denken ist nicht einfach linear, sondern hat verschiedene Stufen. Ich habe, wenn ich etwa durch die Stadt laufe, eine Art assoziatives, träumerisches Denken. Durchdenke ich einen mathematischen Beweis, bin ich dagegen hoch­konzentriert; das ist eine linear-logische Art des Denkens. Darüber hinaus gibt es auch eine bildhafte, imaginative Form. Man kann das Denken so weiterführen, dass es fähig wird, geistige Zusammenhänge in der Natur und im Leben wie in einem Bild zusammenzufassen. Es macht einen geistigen Zusammenhang verstehbar, gibt Einsicht. Das wäre eine neue, bildhafte Stufe des Denkens.

In seiner Gegenform haben wir das überall in unserer Kultur: Ich werde von Millionen Bildern überschwemmt, doch die kommen mir von außen entgegen, also nehme ich sie mehr oder weniger passiv auf. Ich muss lernen, dass ich die Bilder mache. Das ist zunächst Fantasie und kann dann zu einer exakten, bildhaften Geisterfahrung werden.

ML | Für den Einzelnen ist das ein langer Prozess des inneren, kreativen Übens. Doch das Verhältnis von Mensch und Maschine ist ja auch eine gesellschaftliche Frage. Kann dieses andere Denken denn gesellschaftlich gefördert werden?

EH | Ich glaube, dass es nur vom Einzelnen ausgehen kann. Das lässt sich nicht verordnen, es ist ein freier Akt. Bildung spielt hier eine enorm wichtige Rolle. Mache ich Schule so, dass die Kinder zu innerer Aktivität angeregt werden? Gibt sie Freiräume für eigenes Denken, für kreative Prozesse? Habe ich in der Schule Künstlerisches? Kunst ist keine Nebensache! In ihr kann ich experimentieren, an bild­haftem Empfinden und Denken üben. Künstlerisches Denken ist auch ein Denken, nur anders als das mathematische. Hier muss in der Schule noch viel geleistet werden. Oft verderben wir bei Kindern diese Fähigkeit, sodass sie die Lust am Denken verlieren. Medien und Computerspiele tragen viel dazu bei, dass Kinder von Handys und Smartphones eher abhängig werden, als sie souverän zu handhaben.


ML | Spielt dabei die Medienpädagogik eine wichtige Rolle, um Medien sinnvoll einzusetzen und sich den Gestaltungsraum zu bewahren?

EH | Die Gestaltungskraft wird vor allem im künstlerischen Unterricht geübt. Medienpädagogik beginnt genau dort, weil im Künstlerisch-Handwerklichen und im künstlerisch gehandhabten Unterricht die Persönlichkeit ausgebildet wird. Dann sollten die Schülerinnen und Schüler ver­stehen, wie die Geräte funktionieren, sollten mal eine Hardware konstruiert, eine logische Schaltung gebaut, eine Programmiersprache kennengelernt haben und wissen, wie das Internet und eine Suchmaschine prinzipiell funktionieren. Auch praktische Medienarbeit gehört dazu: selber einen Film zu drehen, ein Radio-Feature oder Ähnliches zu machen. Davon sind wir an vielen Schulen aber noch ziemlich weit entfernt.

ML | Im Zuge der Coronakrise ist «Digitalisierung» das Schlag- und Zauberwort schlechthin. Allenthalben wird kritisiert, Schulen seien nicht genügend digitalisiert, und gefordert, alle Klassenzimmer und Kinder mit entsprechenden Geräten auszustatten … Und durch die Mediennutzung wird der Digitalisierung sehr viel Raum gegeben. Aber sorgt das schon für einen anderen Medienumgang, oder schafft es nur eine größere Abhängigkeit?

EH | Ich fürchte: Letzteres. Wir müssen unterscheiden zwischen dem Einsatz technischer Geräte, weil ich einen Unterrichts­inhalt vermitteln will – das ist Mediendidaktik – und Medienpädagogik, wo das Medium der Inhalt ist und es darum geht, das Medium zu verstehen. Die Mediendidaktik zerstört auf Dauer alles gesunde Lernen. Auch die Coronakrise zeigt mir klar, dass Medien­didaktik im großen Maßstab nicht funktioniert. Man kann sich in die Tasche lügen und sagen: «Großartig, das geht alles!» Aber schaut man genau hin, muss man feststellen, dass es unsere Kultur zerstört. Ich mache gerade digital Physikdidaktik mit Studierenden – ein Unsinn! Ich will ihnen zeigen, dass man an Physik Spaß haben kann, aber wie sollen sie das merken, wenn sie nur auf den Bildschirm schauen und dort irgendwelche Experimente ansehen? Man muss ein Experiment selbst fühlen! Man sieht nicht nur etwas, sondern fühlt auch was, riecht vielleicht was, und man muss sich unmittelbar austauschen können.

ML | Was uns auch wieder zum Anfangsthema führt, zum Transhumanismus, der nur die Steigerung und Optimierung der intellektuellen Leistung im Blick hat. Liegt hier nicht ein ganz reduziertes Menschenbild vor, das die volle Bandbreite menschlicher Fähigkeiten und Ausdrucksformen – Gefühle, Kreativität, Wille – übersieht und auf den Intellekt verengt?

EH | Ja, so könnte man sagen. Wir müssen endlich von der dogmatischen Festlegung weg, dass es keine Seele und keinen Geist gibt. Die Maschine kann keine Seele haben, doch der Mensch hat eine. Und er hat einen Geist. Wir kommen nur weiter, wenn wir den reinen Materialismus wirklich überwinden. Transhumanismus glaubt, der Mensch sei eine Art Maschine, und indem ich sie ver­bessere, kann ich das Denken ums Trillionenfache verbessern … Man wird schmerzlich lernen müssen, dass der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht. Nur von hier aus wird die Entwicklung ihren Fortschritt zum Menschlichen, Humanen nehmen.

ML | Wenn die technischen Geräte immer stärker im Alltag eingesetzt werden, etwa als Roboter in der Altenpflege: Wird man dann bemerken, dass ihnen das Entscheidende fehlt? Dass man es nur mit einer Maschine zu tun hat und nicht mit einem menschlichen Gegenüber?

EH | Das merkt man in allen Bereichen. Etwa im computerbetriebenen Hochfrequenzhandel der Börse; zwischendurch gibt es Abstürze, Milliarden Dollar lösen sich in kurzer Zeit in Luft auf, und man muss mühsam rekonstruieren, was eigentlich passiert ist. KI-Systeme haben ihre Grenzen. Wenn etwas Neues kommt, versteht man nicht mehr, was hier passiert. Das ist unser Problem: Wir geben unsere Verantwortung an Maschinen ab. Und wenn wir die Herrschaft über die Maschinen nicht wieder zurückgewinnen, besteht tatsächlich die Gefahr, dass wir uns selbst ausrotten. Man denke nur an die Kopplung von KI mit Militärgerät. Aber es gibt Dinge, die eine Maschine nicht kann, nämlich jemanden gern zu haben. Die Liebe ist die Fähigkeit des Menschen. Wir müssen daher auch die Bereiche finanziell gut ausstatten, wo menschliche Zuwendung gebraucht wird: Altenpflege, Kindergärten, Schulen – alles, wo Menschen sozial miteinander zu tun haben. Es geht darum, eine Kultur zu entwickeln, in der der Mensch sein ureigenstes Moment zum Tragen bringen kann.

ML | Gehört zum Menschsein eben nicht auch seine Unvollkommenheit hinzu? Dass er nicht beliebig optimiert werden kann, sondern auch gebrechlich wird, altert und stirbt?

EH | Der Transhumanismus will den Körper überwinden, aber nicht die Körperlichkeit, er will im Irdischen bleiben. Der Geist des Menschen ist unsterblich (wobei ich mir als Geist nicht irgendein Gespenst in der Ecke vorstellen darf, sondern das, wo mir das Wesen der Dinge, ihr Sinn, klar wird; da ist der Geist in mir). Und das Altern – wenn wir merken, dass wir uns verwandelt haben – gehört zum Menschsein unbedingt dazu. Für diesen Geist des Menschen gibt es tatsächlich eine weitere Existenz, und für ihn gab es auch eine Existenz vor dem Leben. Mit diesem Gedanken sieht man vieles anders. Für den menschlichen Geist sind auch Alter und Tod Möglichkeiten, an denen er sich weiterent­wickeln kann. Wenn ich nachts schlafe, habe ich auch kein Bewusstsein mehr – und was sich doch alles nachts abspielt! Man beobachtet es vielleicht an sich selbst: Man schläft mit einem Problem ein, träumt womöglich von der Lösung, und am nächsten Tag kann man das Problem tatsächlich lösen. Da ist im Schlaf etwas passiert … So ist es auch im großen Schlaf, im Tod. Da kommt man zu dem heute vielfach verpönten Gedanken der Reinkarnation. Bringen wir das Denken zu neuen Stufen, können solche Anschauungen auch zum Erlebnis werden und uns zur Selbsterkenntnis führen. In allen digitalen Technologien entdecken wir uns eigentlich selbst. Wir sind gezwungen, der technologischen Entwicklung, die außerhalb von uns stattfindet – und die ich auch gut finde −, eine innere, seelische Entwicklung zur Seite zu stellen, uns durch die äußere Entwicklung zu vertiefen. Wenn das geleistet wird, haben wir das ausgleichende Gewicht zu dem, was wir in die technische Entwicklung investieren. Wir müssen unsere eigenen Fähigkeiten schulen.

 

Edwin Hübner Menschlicher Geist und Künstliche Intelligenz Die Entwicklung des Humanen inmitten einer digitalen Welt 431 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. 1. Auflage 2020 ISBN 978-3-7725-2955-9 Verlag Freies Geistesleben


5 – thema

beuys, wer bist du?

von Albert Vinzens

Ob der etablierte Kunstbetrieb den Geburtstag von Joseph Beuys (12. Mai 1921 – 23. Januar 1986) ignorieren würde, fragte ich mich im Vorfeld der Ereignisse, hat Beuys selbst diesen Betrieb doch permanent attackiert und gesprengt. Oder würde er einfach vergessen gehen? Auch das hielt ich für möglich – heute sind andere Künstler en vogue, und die sozialen Impulse von Beuys sind irgendwie verpufft. Vielleicht in hundert oder hundertfünfzig Jahren, dann wird man ihn feiern, aber jetzt?

Nun, die mythischen Bilder und verstörenden Aktionen des Künstlers, seine rätselhaften Inszenierungen und sein radebrechender Stil im Denken und Sprechen sind in aller Munde. Beuys’ Werk provoziert, auch ohne den Meister. Der geheimnisumwitterte Mann mit der Anglerweste und dem Filzhut hat sich in unser Bewusstsein eingenistet, und zur Zeit verschaffen sich überall Beuysversteher Gehör. Mir scheint eine Frage wichtiger zu sein als ein vorschnelles Verstehen: Wer war Joseph Beuys? Noch konkreter: Beuys, wer bist du? Statt sich dieser Frage zu stellen, wird verehrt – oder fragmentiert. Die Zeitschrift Der Spiegel und mit ihr eine ganze Phalanx von Redakteuren haben das Wissen über Joseph Beuys in Einzelteile zerlegt, fehlt nur leider das geistige Band. Einerseits wird er als «begnadeter Zeichner, Bildhauer, Aktionskünstler» anerkannt, andererseits als «Populist», «Querdenker» oder «Geister­gläubiger» abgetan. Im deutschen Feuilleton ist sogar vom «Auschwitz­leugner», «Rechtsradikalen» und «Ewigen Hilterjungen» Beuys die Rede.

Wenn Joseph Beuys vom Denken als einem plastischem Prozess sprach, hatte er nicht Fragmentierung im Sinn, sondern Integration, Partizipation. Das Denken in Subjekt und Objekt, wie es gegen ihn positionert wird, als stünden wir mitten in den napoleonischen Kriegen, hat dieser, für den die Welt aus lauter Subjekten bestand, zu überwinden versucht. Jetzt soll die Erinnerung an ihn verteufelt und sein Einsatz für Ideenzusammenhänge demontiert werden. Anselm Kiefers Umgang mit dem deutschen Erbe sei reflektiert, lesen wir, deshalb wird er als «ungefährlich» eingestuft. Beuys ist, wie ich meine, abgründiger als Kiefer – noch abgründiger. Das Leben und die Kunst von Beuys sind wie die Dramen von Shakespeare, bei deren Figuren lange unklar bleibt, ob sie gut oder böse sind. Shakespeare steht deshalb im Ruf eines großen Künstlers, während die Kritik bei Beuys alles vom Tisch fegt, was sie nicht versteht und vielleicht auch gar nicht verstehen will.

Die durch die französische Aufklärung geschulten Rationalisten haben ihre Grenzen, gerade auch dann, wenn sie glauben entscheiden zu können, was Kunst sei und was nicht – oder, wo in Joseph Beuys ein dunkler Romantiker stecke und warum er gefährlich für die Demokratie sei. Zu erkennen, dass ihr radikal rationalistisches Vorgehen selbst Gefahren in sich birgt, wenn sie einzig den Verstand gelten lassen, vebietet ihnen ihr eigener blinder Fleck. Dies zeigt sich besonders dann, wenn es um Lebendiges geht. Die 7000 Eichen von Beuys, diese Pflanzaktion in Kassel im Rahmen der documenta 7, wird als deutschtümelnder Größenwahn eines Mytho­manen verstanden, während die Produktion von Waffen und Panzern, wie solche in Kassel massenweise produziert werden, als Beitrag zum Weltfrieden interpretiert wird. Beuysbäume eine Lebensbedrohung – Waffenproduktion ein Friedenswerk. Das klingt nicht nur nach verkehrter Welt.

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