Read the book: «Aus meinem Leben. Zweiter Teil», page 14

Bebel August
Font:

Meinungsdifferenzen

Die geschilderten Vorgänge hatten zwischen Liebknecht und mir abermals eine Meinungsverschiedenheit hervorgerufen. Liebknecht hatte die Ansicht, Napoleon wolle den Krieg, Bismarck habe aber nicht den Mut, den hingeworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen. So schrieb er am 13. Juli im „Volksstaat“: „Das Frankreich des Bonaparte hat dem Preußen des Bismarck die Kriegsfrage gestellt, und wenn letzteres sich nicht zu einem schimpflichen Rückzug entschließt, ist der Krieg unvermeidlich.“ Am 16. Juli schrieb er: „Der Mutige weicht zurück – vor dem Stärkeren. Die Hohenzollernkandidatur ist gegenüber der drohenden Haltung Bonapartes zurückgezogen worden; es bleibt Friede, und der großmächtige Norddeutsche Bund, der Deutschland Achtung im Ausland verschaffen sollte, hat mit derselben Demut, wie weiland in der Luxemburger Affäre, vor dem französischen Kaiserreich die Segel gestrichen.“

Ich vertrat den entgegengesetzten Standpunkt. Wohl habe Napoleon den Krieg erklärt, aber er sei nach meinem Gefühl in eine Falle getappt, die Bismarck ihm gestellt; letzterer wolle den Krieg, und er habe sein Ziel erreicht. Ich war über die Auffassung des „Volksstaat“ im höchsten Grade erregt, es kam zu lebhaften Erörterungen zwischen Liebknecht und mir, und erst auf eine Intervention Geibs kam es zu einer Verständigung zwischen uns. Vom 20. Juli ab vertrat der „Volksstaat“ eine Auffassung, die auch ich durchaus teilte.

Ohne Ahnung, daß ein Krieg ausbrechen werde, hatten wir zum 17. Juli eine Landesversammlung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei nach Chemnitz einberufen. Natürlich mußten wir nunmehr zur Kriegsfrage Stellung nehmen. Dieses geschah durch folgende Resolution, die Liebknecht und ich vorschlugen und die einstimmig angenommen wurde.

„Die Landesversammlung protestiert gegen jeden nicht im Interesse der Freiheit und Humanität geführten Krieg, als einen Hohn auf die moderne Kultur. Die Landesversammlung protestiert gegen einen Krieg, der nur im dynastischen Interesse geführt wird und das Leben von Hunderttausenden, den Wohlstand von Millionen auf das Spiel setzt, um den Ehrgeiz einiger Machthaber zu befriedigen. Die Versammlung begrüßt mit Freuden die Haltung der französischen Demokratie und insbesondere der sozialistischen Arbeiter, sie erklärt sich mit deren Bestrebungen gegen den Krieg vollständig einverstanden und erwartet, daß auch die deutsche Demokratie und die deutschen Arbeiter in diesem Sinne ihre Stimme erheben.“

Die Pariser Arbeiter hatten schon vor uns sich gegen den Krieg ausgesprochen. In ähnlichem Sinne wie wir erklärten sich die Arbeiter vieler Städte in öffentlichen Versammlungen, so unter anderen in Barmen, Berlin, Nürnberg, München, Königsberg, Fürth, Krefeld.

Anders dachte der Braunschweiger Parteiausschuß, der zum 16. Juli eine Volksversammlung einberufen hatte, in der er eine Resolution annehmen ließ, in der die Versammelten sich auf den Standpunkt stellten, daß Napoleon und die Majorität der Volksvertreter Frankreichs die frivolen Friedensbrecher und Ruhestörer Europas seien. Die deutsche Nation dagegen sei die beschimpfte, die angegriffene, deshalb müsse die Versammlung den Verteidigungskrieg als unvermeidliches Uebel anerkennen, sie fordere jedoch das gesamte Volk auf, mit allen Mitteln dahin zu wirken, daß dem Volke selbst die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden, wie überhaupt die vollste Selbstbestimmung werde. Dieser Auffassung des Parteiausschusses schlossen sich eine große Zahl Parteiorte, namentlich in Norddeutschland, an. Es war also eine starke Meinungsverschiedenheit in der Partei vorhanden.

* * * * *

Der Reichstag war zum 19. Juli einberufen worden. Als Liebknecht und ich am 18. von Chemnitz abreisten, waren bereits die Bahnen durch die Militärtransporte so in Anspruch genommen, daß wir auf dem Gößnitzer Bahnhof mehrere Stunden warten mußten, ehe wir weiterfahren konnten. Hier besprachen wir unsere im Reichstag zu beobachtende Taktik. Liebknecht war der Ansicht, wir müßten die Geldforderung strikte ablehnen, da beide Teile am Kriege schuld seien und wir für keinen Teil Partei ergreifen dürften. Ich erklärte dieses für einen Fehler. Nach Lage der Sache könnten wir allerdings für keinen der streitenden Teile Partei ergreifen. Dieser Eindruck würde aber gerade dann, und zwar zugunsten Napoleons, hervorgerufen, wenn wir gegen die Anleihe stimmten; es bliebe uns kein anderer Weg, als uns der Abstimmung zu enthalten. Schließlich ersuchte mich Liebknecht, den Entwurf einer Erklärung auszuarbeiten und am nächsten Tage mit nach Berlin zu bringen. Dies geschah. Nach einigen kleinen Aenderungen stimmte Liebknecht meinem Entwurf zu, auch sollte ich die Erklärung im Reichstag abgeben. In der Sitzung vom 21. Juli nahm ich das Wort: „Da, wie wir vernommen, es der Wunsch ist, die Tagesordnung ohne Debatte zu erledigen, so sind wir übereingekommen, keine Debatte zu provozieren, obgleich wir mit der Ansicht des Hauses in keiner Weise einverstanden sind. Wir sind entschlossen, in der vorliegenden Frage uns der Abstimmung zu enthalten, und werden unsere Motive in einer schriftlichen Erklärung zu den Akten des Hauses niederlegen.“

Simson als Präsident meinte: Das zu tun, könne er uns nicht hindern. Die Motivierung unseres Standpunktes lautete:

„Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern.

Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat.

Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern; denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbund zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft, als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Uebel, zu beseitigen.“

Die geforderten 120 Millionen Taler Kriegsanleihe wurden vom Reichstag bewilligt. Fritzsche, Hasenclever, Mende und Schweitzer stimmten dafür, Försterling hatte im Frühjahr sein Mandat für Chemnitz niedergelegt. In der Nachwahl war der Kreis den Hatzfeldtianern verloren gegangen. Als aber die Anleihe zur Zeichnung aufgelegt wurde, gab die deutsche Kapitalistenklasse der Welt ein trauriges Schauspiel. Obgleich das Geld mit 5 Prozent verzinst werden sollte und der Gläubiger für 100 Taler nur 88 zu geben brauchte, für die er aber nachher 100 Taler erhielt, wurden nur 68 Millionen Taler gezeichnet. Das war eine ungeheure Blamage. Anders in Frankreich. Dort wurden die geforderten 700 Millionen Franken voll gezeichnet, und zwar zu dem gleichen Zins, den Deutschland bot.

* * * * *

Unser Verhalten im Reichstag hatte die Differenzen zwischen uns und dem Parteiausschuß erweitert. Es kam zu sehr gereizten brieflichen Auseinandersetzungen, namentlich zwischen Liebknecht und dem Ausschuß, da Liebknecht nicht im Sinne des Ausschusses den „Volksstaat“ redigieren wollte. Vergebens mahnte Liebknecht zur Vernunft. Unter dem 26. Juli schrieb er an Bracke unter anderem: „Ich nehme Euch Euren patriotischen Eifer nicht übel. Aber seid auch Eurerseits tolerant. Wenn Ihr mit Bebels und meinem Verhalten auf dem Reichstag nicht einverstanden seid, so muß dieser Zwist jetzt um jeden Preis beigelegt oder wenigstens ein offener Ausbruch vermieden werden. Es darf in einem Moment, wie dem jetzigen, in der Partei nichts vorkommen, was wie Uneinigkeit aussähe, und ich beschwöre Euch, alles zu unterlassen, was die Differenzen verschärfen könnte.“

Diese Bitte war vergeblich. Schließlich war Liebknecht so verärgert, daß er drohte auszuwandern, die Wirtschaft und der nationale Paroxismus ekle ihn an. Auch mir wurden die Nörgeleien der Braunschweiger zu arg. Am 13. August schrieb ich nach dort: „Wenn der Ausschuß gegen Liebknecht vorgeht, verzichten wir auf jede fernere Mitarbeit am ‚Volksstaat‘. Nach Eurem Briefe (der an Liebknecht gerichtet war und Drohungen gegen ihn enthielt) scheint Ihr in eine Art von nationalem Paroxismus verfallen zu sein, scheint Ihr den Skandal und den Bruch in der Partei um jeden Preis zu wollen. Einen Verstoß gegen die Parteiprinzipien könnt Ihr in unserem Verhalten auf dem Reichstag nicht nachweisen. Statt Euch damit zu begnügen, daß keine Verschärfung des Konflikts eintritt, verlangt Ihr von Leuten, die eine feste Meinung haben, die Aenderung, die Verleugnung dieser Ansicht. Der ‚Volksstaat‘ hat sich gerade in den letzten Wochen streng als Parteiorgan gezeigt. Beweis: das einstimmige Wutgeheul unserer Gegner. Wollt Ihr auch in dieses nationalliberale Geheul mit einstimmen? Ihr sprecht von sächsischem Partikularismus. Und doch sind wir gerade in Sachsen gut sozialrepublikanisch, und wir betrachten alle den Krieg als einen dynastischen. Marx hat sich auch für uns erklärt.“

Am 1. September schrieb Liebknecht auf einen Brief von Bracke: „Nicht aus Furcht vor den Strebern habe ich Lust, wegzugehen, sondern aus Ekel vor dem patriotischen Dusel. Diese Krankheit muß ihren Verlauf nehmen, und während derselben bin ich hier sehr überflüssig, kann aber anderwärts sehr nützlich sein, zum Beispiel in Amerika. Doch es wird nicht so schlimm kommen, und ich werde nicht zu gehen brauchen.“

August Geib-Hamburg suchte abermals zu vermitteln. Aber erfolgreicher als alle Vermittlung wirkte der Gang der Ereignisse, der uns bald wieder in die gleiche Schlachtlinie trieb.

Erklärungen und Proklamationen

Am 17. Juli fand in Berlin ein großer Kriegsrat statt. Wie es mit den Kriegsaussichten für Preußen-Deutschland stand, zeigt eine Erklärung Moltkes, die dieser zugleich im Namen Roons abgab: „Preußen sei noch nie in der Lage gewesen, hinsichtlich seiner Heeresverfassung, Ausrüstung, Hilfsmittel usw. mit solchen Aussichten auf Erfolg einen Krieg anzunehmen wie gegenwärtig. Er sei sehr genau über den Fortschritt (er hätte sagen können die Zurückgebliebenheit. A.B.) der französischen Rüstungen informiert, und danach sei eine militärische Ueberrumpelung seitens Frankreichs nicht zu fürchten.“ Die Richtigkeit dieser Ansicht bestätigte sich sofort. In Deutschland glaubte man allgemein, der Kriegserklärung Napoleons werde ohne Verzug ein Einbruch der französischen Armee in deutsches Gebiet folgen. Man wartete vergebens. In Frankreich hatte die Kriegserklärung ein vollständiges Durcheinander hervorgerufen, kein einziges Armeekorps war auf Kriegsfuß, die Kopflosigkeit herrschte von oben bis unten. Anfang August standen bereits 380000 Deutsche 250000 Franzosen gegenüber. Und wie man in deutschliberalen Kreisen die Situation ansah, bewies ein Toast des Professor Biedermann in Leipzig auf einem studentischen Fest, in dem er bereits Ende Juli ausführte: Wir werden die französische Nation daniederwerfen, daß sie in einem Menschenalter nicht mehr an Krieg denken kann. Wir werden das tun, indem wir dafür Sorge tragen, daß der Leib Frankreichs etwas schmäler wird.

Hier wurde also bereits auf eine Annexion angespielt, noch ehe eine Schlacht geschlagen war. Man rechnete also absolut sicher mit dem Siege. In den offiziellen Aktenstücken lautete es um diese Zeit ganz anders! So wurde in der Thronrede, mit der der Reichstag am 19. Juli eröffnet worden war, gesagt, „daß man die Volkskraft zum Schutze unserer Unabhängigkeit aufrufe“, „Deutschland trage in sich selbst den Willen und die Kraft der Abwehr erneuter französischer Gewalttat“, man wende sich getrosten Mutes „an die Vaterlandsliebe und Opferfreudigkeit des deutschen Volkes mit dem Aufruf zur Verteidigung seiner Ehre und seiner Unabhängigkeit“. „Wir werden nach dem Beispiel unserer Väter“ – so lautete der Schluß – „für unsere Freiheit und für unser Recht gegen die Gewalttat fremder Eroberer kämpfen, und in diesem Kampfe, in dem wir kein anderes Ziel verfolgen, als den Frieden Europas dauernd zu sichern, wird Gott mit uns sein, wie er mit unseren Vätern war.“

Nach dieser feierlichen Erklärung – deren Verfasser Lothar Bucher war – handelte es sich also um einen Verteidigungs-, nicht um einen Eroberungskrieg, mit dem Zweck, für künftig den Frieden zu sichern.

Einen interessanten Satz enthielt aber noch die Thronrede; der Satz lautete:

„Das deutsche wie das französische Volk, beide die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes genießend und begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampf berufen als zu dem blutigen der Waffen.“

Bezeichnend für die Stimmung in den offiziellen Kreisen war auch die Proklamation des Königs von Preußen vom 11. August 1870, worin er anzeigte, daß er in Frankreich eingerückt sei und den Oberbefehl übernommen habe: „Ich führe Krieg mit den französischen Soldaten und nicht mit den Bürgern Frankreichs.“

Eine sehr günstige Beurteilung in unseren Kreisen fand die Proklamation des Prinzen Friedrich Karl:

„An die Soldaten der zweiten Armee!

Ihr betretet französischen Boden. Der Kaiser Napoleon hat ohne allen Grund an Deutschland den Krieg erklärt, er und seine Armee sind unsere Feinde. Das französische Volk ist nicht gefragt worden, ob es mit seinen deutschen Nachbarn einen blutigen Krieg führen wolle, ein Grund zur Feindschaft ist nicht vorhanden. Seid dessen eingedenk den friedlichen Bewohnern Frankreichs gegenüber, zeigt ihnen, daß in unserem Jahrhundert zwei Kulturvölker selbst im Kriege untereinander die Gebote der Menschlichkeit nicht vergessen, denkt stets daran, wie eure Eltern in der Heimat es empfinden würden, wenn ein Feind, was Gott verhüte, unsere Provinzen überschwemmte. Zeigt den Franzosen, daß das deutsche Volk nicht nur groß und tapfer, sondern auch gesittet und edelmütig dem Feinde gegenübersteht.“

Und bereits am 25. Juli hatte der König auf die laut gewordenen Kundgebungen ein Dankschreiben veröffentlicht, in dem es hieß:

„Die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, die einmütige Erhebung der deutschen Stämme und ihrer Fürsten hat alle Unterschiede und Gegensätze in sich beschlossen und versöhnt, und einig, wie kaum jemals zuvor, darf Deutschland in seiner Einmütigkeit, in seinem Recht die Bürgschaft finden, daß der Krieg ihm den dauernden Frieden bringen und daß aus der blutigen Saat eine von Gott gesegnete Ernte deutscher Freiheit und Einheit sprießen werde.“

Es ist zu beachten, wie in diesem Dankschreiben am Schluß die Freiheit vor die Einheit gesetzt ist. Das sollte mir später verhängnisvoll werden, als ich an dieses Versprechen in mehreren öffentlichen Versammlungen erinnerte.

Die Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses

Im „Volksstaat“ vom 30. Juli veröffentlichte der Parteiausschuß einen Aufruf, in dem der abweichende Standpunkt, der ihn damals von uns noch trennte, zum Ausdruck kam. Nachdem er die Partei zu energischer Tätigkeit aufgefordert, fuhr er fort: „Unsere Aufgabe ist es, bei der Geburt dieses, wie wir hoffen, ganz Deutschland umfassenden Staates bestimmend mitzuwirken, damit, wenn es möglich ist, nicht der dynastische Staat, sondern der sozialdemokratische Volksstaat (!!! A.B.) ins Dasein tritt; unsere Aufgabe ist es – mag der gewordene neue Staat bei der Geburt noch dynastische Färbung tragen —, ihm in ernstem, schwerem Kampfe den Stempel unserer Ideen aufzudrücken.“ Er hoffe, daß unsere Brüder mit Begeisterung und Mut uns bald zum Siege in Frankreich führten, doch solle man sich nicht vom Siegestaumel beherrschen lassen. Man müsse den Bruderkampf zwischen zwei Völkern bedauern, aber Deutschland sei unschuldig an dem Kriege; den Schuldigen werde die Strafe ereilen, dann aber gelte es, uns kräftig zu erhalten für den glorreicheren gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten der Erde. Sei Napoleon besiegt, werde das französische Volk freier aufatmen, und wir hätten alsdann unsere Machthaber daran zu erinnern, was dem Volke von Gottes und Rechts wegen gebühre und was zu fordern die unendlichen Opfer und Qualen des Krieges es doppelt und dreifach berechtigten.

Der Ausschuß ahnte in seinem Optimismus damals nicht, daß er das erste Opfer sein werde, das die Herrlichkeit des Sieges zu kosten bekommen werde. Die Armeen des Kaiserreichs wurden in rasch aufeinanderfolgenden Schlägen zu Boden geworfen, Deutschland sah ganze Armeen französischer Gefangener in seinen Gauen, deren Unterbringung und Verpflegung bald eine unbequeme Last wurde. Es kam die Schlacht bei Sedan, die Napoleon unter Umständen annahm, daß man fast glauben sollte, er habe absichtlich so manövriert, um als Gefangener nach Deutschland, nicht als geschlagener Kaiser nach Frankreich zu kommen. Als die Nachricht von seiner Gefangenschaft nach Deutschland kam, jubelte alles, wir mit. Alle Welt erhoffte das Ende des Krieges, dessen Schlachten mit ihren ungeheuren Verlusten an Menschenleben schon den Ueberdruß am Kriege erzeugt hatten. „Ich scheue mich, nach den Verlusten zu fragen“, schrieb der König von Preußen nach den Schlachten um Metz an die Königin. An den König von Württemberg telegraphierte er: „Die Verluste der letzten Schlacht (am 19. August) wie der vorhergehenden sind so bedeutend, daß die Siegesfreude sehr getrübt wird.“ Und die von Guido Weiß redigierte Berliner „Zukunft“ schrieb: „Vor dem bleichen Purpur des Todes beugen sich auch die im Purpur Geborenen. Eine Furcht überkommt selbst die Furchtlosen: Zu weit ausgegriffen hat die Sichel, zu reichlich gedüngt ist das Blachfeld.“

Doch der Krieg wütete weiter. Die Gefangennahme Napoleons bei Sedan beantwortete Paris mit der Erklärung der Republik, ein Ereignis, das namentlich im deutschen Hauptquartier sehr unangenehm berührte. Um Frankreich zu einer Republik zu machen, dafür hatte man den Krieg nicht begonnen. Man fürchtete das böse Beispiel, wie sich gezeigt hat, ohne Grund. Als die Nachricht von der Verkündung der Republik nach Deutschland kam, stürzte Liebknecht in größter Aufregung und mit Tränen in den Augen zu mir in meine Werkstatt, um mir das Ereignis zu verkünden. Er war frappiert über die Kühle, mit der ich die Nachricht aufnahm. Aber auch im Braunschweiger Ausschuß hatte die Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen und einen starken Gesinnungswechsel hervorgerufen. Jetzt waren mit einem Schlage alle Differenzen zwischen uns beseitigt. Sofortiger Friedensschluß mit der französischen Republik, Ersatz aller Kriegskosten, aber Verzicht auf jede Annexion waren die Forderungen, die wir jetzt gemeinsam erhoben. Aus dem Verteidigungskrieg war mittlerweile der Eroberungskrieg geworden. Was Biedermann schon Ende Juli angedeutet, wurde nach den vielen und raschen Siegen allgemeine Forderung der liberalen und konservativen Presse.

In einem Manifest, das der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation mit Bezug auf den Krieg erließ und der „Volksstaat“ am 7. August veröffentlichte, hieß es: „Das Kriegskomplott vom Juli 1870 ist nur eine verbesserte Auflage des Staatsstreichs vom Dezember 1851.“ Der Krieg habe so aberwitzig geschienen, daß Frankreich nicht daran glauben wollte, selbst die bürgerliche Opposition habe die Geldmittel verweigert. Die der Internationale angehörenden französischen Arbeiter hätten den Krieg als einen dynastischen Krieg verurteilt. „Welchen Verlauf auch immer der Krieg Louis Bonapartes mit Preußen nimmt, die Totenglocke des zweiten Kaiserreichs hat bereits in Paris geläutet. Es wird enden, wie es begonnen, mit einer Parodie.“ Auf deutscher Seite sei der Krieg ein Verteidigungskrieg, „aber welche Politik habe verschuldet, daß Deutschland in diese Lage komme?“ Die Kritik der Bismarckschen Politik, die hier folgte, mußte der „Volksstaat“ unterdrücken. „Wenn die deutschen Arbeiter es erlauben, daß der gegenwärtige Krieg seinen streng defensiven Charakter verliert und in einen Krieg gegen das französische Volk ausartet, wird Sieg oder Niederlage sich gleich verhängnisvoll erweisen.“ Der Generalrat weist alsdann darauf hin, daß in einem solchen Falle Rußland den Vorteil habe.

Im Sinne des Manifestes des Generalrats handelte jetzt der Braunschweiger Ausschuß, als er, datiert vom 5. September, einen Aufruf „An alle deutschen Arbeiter“ erließ. Mit Hinweis auf die neuesten Ereignisse in Frankreich erwarte er, daß die neue republikanische Regierung den Frieden mit Deutschland zu erreichen suche. Darin müßten die deutschen Arbeiter die Absichten der republikanischen Regierung unterstützen und einen ehrenvollen Frieden mit dem französischen Volke fordern, für den sie in Masse ihre Stimmen erheben sollten.

Der Ausschuß zitiert dann aus einem Briefe von Karl Marx – dessen Name aber nicht genannt wurde —, was folgen werde und folgen müsse, wenn man auf der Annexion von Elsaß-Lothringen bestehen bleibe. Das Zitat lautet:

„Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt ist oder ein Interesse daran hat, das deutsche Volk zu übertäuben, muß einsehen, daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt, wie der Krieg von 1866 den von 1870…. Durch den Verlauf des jetzigen Krieges sei der Schwerpunkt der kontinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt. Damit hafte größere Verantwortlichkeit auf der deutschen Arbeiterklasse.“

Der Ausschuß akzeptierte diese Auffassung, forderte zu Kundgebungen auf gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen und für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik. Der Aufruf schloß:

„Wenn wir jetzt sehen, wie wieder ein großes Volk seine Geschicke in seine Hände genommen, wenn wir heute die Republik nicht allein mehr sehen in der Schweiz und jenseits der Meere, sondern auch faktisch Republik in Spanien, Republik in Frankreich, so lasset uns ausbrechen in den Ruf, der, wenn es auch heute noch nicht sein kann, auch für Deutschland einst die Morgenröte der Freiheit verkünden wird, in den Jubelruf: Es lebe die Republik!“

Am 11. September hatte der „Volksstaat“ den hier erwähnten Ausruf abgedruckt, in der nächsten Nummer am 14. mußten bereits Liebknecht und ich eine Ansprache an die Parteigenossen veröffentlichen, in der wir anzeigten, daß der General Vogel v. Falckenstein in Hannover – wie sich herausstellte wider Recht und Gesetz – Befehl gegeben hatte, den Parteiausschuß, und zwar Bracke, Bonhorst, Spier, Kühn und den Buchdruckereibesitzer Sievers, mit Ketten gefesselt und unter starker militärischer Bedeckung nach der Festung Lötzen in Ostpreußen zu transportieren und dort zu internieren. Die den Verhafteten widerfahrene Behandlung war eine höchst brutale, um nicht zu sagen grausame; sie brauchten allein 36 Stunden, um nach Königsberg zu gelangen. Auf der Reise hielt man sie überall von seiten des Publikums für gefangene Landesverräter und behandelte sie danach. Wir forderten auf, daß bis auf weitere Anordnung der Kontrollkommission Briefe und Gelder an Geib-Hamburg gesandt werden sollten. Der Schluß lautete:

„Parteigenossen! Es ist ein schwerer Schlag, der die Partei getroffen, und es werden ihm vielleicht andere folgen.

Steht fest und unverzagt; in der Gefahr zeigt sich die echte Ueberzeugung, bewährt sich der rechte Mann.

Arbeitet kräftig für die Ausbreitung der Partei und unserer Prinzipien, aber seid vorsichtig im Reden, vorsichtig auch im Schreiben – die uns feindliche Gewalt sucht alles gegen uns zu benutzen.

Wirkt kräftig für Verbreitung des Parteiorgans, denn in ihm liegt in diesem Moment des geistigen Kampfes unsere Macht und unsere Stärke.

Es lebe der internationale Kampf des Proletariats! Hoch die sozialdemokratische Organisation!“

Die Nennung von Geibs Namen in unserer Ansprache genügte für Vogel v. Falckenstein, um auch diesen nach Lötzen schaffen zu lassen. Dasselbe Schicksal traf Johann Jacoby wegen einer Rede in Königsberg gegen die Annexion, und Gutsbesitzer Herbig, der Vorsitzender jener Versammlung gewesen war. Vogel v. Falckenstein handelte als Oberstkommandierender in Norddeutschland, das er gegen eine eventuelle Landung der Franzosen an den Nordküsten verteidigen sollte. In Ermanglung kriegerischer Taten verfiel er auf Polizeimaßregeln.

Die Verhaftung Jacobys und Herbigs machte in der liberalen Presse einen unangenehmen Eindruck. Ein linksliberales Blatt meinte: „Diese Handlungen paßten schlecht zu den großen Siegen und veranlaßten die Frage aufzuwerfen: ob nicht dem deutschen Volk an innerer Freiheit verloren gehe, was es an äußerem Ruhm gewonnen.“

Wir sahen das Tun und Treiben der Machthaber als selbstverständlich an. Es war eben eine Illusion des Parteiausschusses, daß er an eine freiheitliche Gestaltung in der neuen Ordnung glaubte, die derselbe Mann gewähren sollte, der sich bis dahin als der größte Feind jeder freiheitlichen, ich sage nicht einmal demokratischen Entwicklung gezeigt hatte, und der jetzt als Sieger dem neuen Reich den Kürassierstiefel in den Nacken setzte.

In Harburg wurden auch Bock und mehrere Genossen und in Halberstadt Naters verhaftet und ins Gefängnis gesetzt, um ihnen einen Prozeß wegen Verbreitung des Manifestes des Parteiausschusses zu machen. In Sachsen erließ das Generalgouvernement für das 12. Armeekorps Ende September eine Verordnung, wonach alle Volksversammlungen mit Rücksicht auf die Endziele des Kriegs verboten wurden. Ein Lichtblick in dieser Zeit war, daß in Kirchberg und in Mittweida (beide in Sachsen) die Stadtverordnetenwahlen für unsere Partei glänzend ausfielen. Auch war trotz des Krieges am 1. August in Crimmitschau ein täglich erscheinendes Parteiblatt, „Der Bürger- und Bauernfreund“, den Karl Hirsch redigierte, erschienen, und am nächsten 1. Februar folgte die „Chemnitzer Freie Presse“, die ebenfalls täglich herauskam. Der Unterschied zwischen uns und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein bestand auch darin, daß wir Neugründungen von Parteiblättern kein Hindernis in den Weg legten.

Anfang Oktober bedauerte die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“, daß man Liebknecht und mich nicht ebenfalls in Haft genommen habe wie den Braunschweiger Ausschuß, Johann Jacoby usw. Ihr Wunsch fand bald Erfüllung.

Die Kontrollkommission hatte den provisorischen neuen Ausschuß nach Dresden verlegt. Er wurde von den Genossen Knieling, Köhler und Otto Walster gebildet. Da wir wußten, daß bei der Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses eine große Menge Briefschaften beschlagnahmt worden waren, schrieb ich an Walster, der Sekretär im neuen Ausschuß war, er möge sich den Braunschweiger Vorgang als Warnung dienen lassen und keinen der Briefe aufheben. Aber wer diesen guten Rat nicht befolgte, war Walster. Als später – wie vorauszusehen war – auch bei ihm Durchsuchung stattfand, fiel sogar mein Warnungsbrief der Polizei in die Hände, der dann in die Akten des bevorstehenden Hochverratsprozesses wanderte.

* * * * *

Ein eigenartiges Intermezzo erlebten Liebknecht und ich Ende Oktober. Der 31. Oktober, der Reformationstag, an dem Luther seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schloßkirche schlug, ist in Sachsen ein Feiertag. Zwei Tage vor demselben erhielt ich einen eingeschriebenen Brief, worin Liebknecht und ich dringend ersucht wurden, in einer hochwichtigen Sache am 31. Oktober nach Mittweida zu kommen. Wir folgten der Einladung. Am Bahnhof wurden wir geheimnisvoll in Empfang genommen und um die halbe Stadt nach einer Restauration geführt, woselbst wir zu unserer Ueberraschung die gesamten Vertrauensmänner des oberen und unteren Erzgebirges versammelt fanden. Darauf wurde von einem Redner an uns die Frage gestellt, warum wir die Hände in den Schoß legten und nicht zum Losschlagen aufforderten, die Armee sei doch außerhalb des Landes, was im Lande sei, könne leicht überwältigt werden. Wir schüttelten über diese Naivität den Kopf. Ich nahm zunächst das Wort und bewies dem Redner das Unsinnige seines Verlangens. Liebknecht sprach sich selbstverständlich im gleichen Sinne aus. Es kostete uns keine Mühe, den Anwesenden die Richtigkeit unseres Standpunktes zu machen. Die Anwesenden waren gleich uns auf Einladung von zwei Parteigenossen nach Mittweida gekommen ohne Ahnung dessen, was man hier wollte.

Um dieselbe Zeit hielten die Züricher Parteigenossen eine öffentliche Versammlung ab, in der der damalige Staatsanwalt Parteigenosse Forrer eine Rede hielt, in der er folgende Resolutionen begründete:

„1. Unsere Sympathien gehören der französischen Republik! Möge es derselben gelingen, durch energischen Widerstand die Militärmacht Hohenzollern so zu schwächen, daß ihr ein baldiger Friede angeboten werden muß.

2. Wir sprechen unseren Parteigenossen in Deutschland und England (Marx und Engels) die wärmste Anerkennung aus. Namentlich seid Ihr, Brüder in Deutschland, trotz Verfolgung und Unterdrückung, trotz Kerker und Ketten als Männer für Eure Prinzipien eingestanden, und wir haben das feste Vertrauen auf Euch, Ihr werdet Eure Schuldigkeit tun und Euch der weltgeschichtlichen Aufgabe der Sozialdemokratie würdig erzeigen.“

Uns bereitete damals diese Anerkennung unserer Züricher Genossen eine große Genugtuung, und ich empfinde sie noch heute. Gegenwärtig ist der damalige Redner und Parteigenosse Forrer Mitglied des schweizerischen Bundesrats in Bern und war zeitweilig dessen Präsident. Selbstverständlich konnte er zu dieser Würde nicht als Sozialdemokrat gelangen. So weit ist man auch in der Schweiz noch nicht. Er rückte eben mit der Zeit, wie so mancher andere, von links nach rechts und kam dadurch zu Würden und Ehren.