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Dalmatinische Reise

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Mich verdrießt das gelbe Gesicht des Fremden. Ich kann mir denken, was er sich denkt. Ich stelle mir vor, was ich im Ausland über einen Offizier dächte, der an der Table d'hôte den Krieg erklärt.

Ich weiß, daß in den letzten Jahren wahre Wunder in unserem Heer geschehen sind. Auch wer kein Militarist ist, darf die großen Schöpfer und Ordner unserer neuen Armee bewundern. Nirgends in Österreich ist mehr Arbeit geleistet worden, nirgends mit reinerem Sinn. Aber ich kann nicht aufstehen, um dem gelben Fremden in sein höhnisches Gesicht zu sagen: Lachen Sie nicht, wir haben die besten Generäle! Denn ich wäre stumm, wenn er mir antwortet: Sehr angenehm, aber warum erziehen sie dann ihre kleinen Leutnants nicht besser? Es hat mir den ganzen Abend verdorben.

6

Der schönste Tag. Kalt und klar. Jetzt ist's wieder die gelbe Stadt am blauen Meer.

In den Gassen gebummelt, in Kirchen und Palästen. Dazwischen ein paar Besuche gemacht. So mit einem Bein in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Zukunft. Denn das ist das Merkwürdige hier: es gibt keine Gegenwart! Überall steht groß: Es war einmal! Und in den Menschen treibts stark: Es wird einst wieder sein! In Erinnerung und in Erwartung leben sie hier. Von gestern auf morgen. Aber kein Heute haben sie. Eine tote Stadt, mit einer ungeborenen Stadt im Schoß.

Im Kreuzgang der Franziskaner. Man sieht auf eine wunderbar heitere Terrasse, über die der alte Campanile ragt. Die dünnen Säulchen, das lieblichste Maßwerk! Eine Statue des heiligen Franziskus in der Mitte des stillen Hofs, ein Bäumchen in der Ecke, mit Orangen schwer behangen, und blühende Rosen, gelb und rot. Ein junger Frater, mit lachenden Augen und blühenden Wangen, stark und derb, schlurft lässig auf und ab, in der Sonne. Vögel schreien. Und der unwahrscheinlich blau knallende Himmel.

Durch die Klausur, auf enger Stiege den Berg hinan, kommt man noch in einen zweiten Hof. Ganz klein, ganz still. Ein alter Brunnen unter einem Dach, Bäume, der Gang, die Mauern, eine Sonnenuhr, der Himmel. Und alles wie versunken, wie verstorben. Kein Laut, kein Hauch. Hier sind die Vögel still und der Wind verstummt. Nur die liebe Sonne scheint unverschämt herein.

Auch die Dominikaner, vor der Porta Ploce, haben einen wunderschönen Klosterhof. In ihrer Kirche wird ein Tizian und ein Vasari gezeigt, und der Mönch, der mich führt, ist besonders stolz auf einen Nicolo Ragusano. Mir geht's wie vor dem Tizian und dem Rafael im Dom (die wohl übrigens beide bloße Kopien sind): ich erschrecke fast, wie mir mit den Jahren alle Fähigkeit, mich in tote Bilder einzufühlen, entkommen ist; nur mein Verstand schaut sie noch an.

Aber vor dem Palast der Rektoren und vor der Dogana könnte ich tagelang stehen. Die haben das ewige Leben. Hier ist der unsterbliche Sinn eines großen Geschlechts aufbewahrt.

Man vergleicht sie gern mit dem Dogenpalast. Ich finde sie ganz anders. Sie sind gar nicht kokett, sie wollen nicht gefallen, sie schmeicheln nicht, sondern in ihrer festen Schönheit stehen sie da, kriegerisch zur Welt hin, um ihr einmal zu zeigen, was das Rechte ist; und die Lust, so zu sein, wie sie sind, lacht aus ihren stolzen Augen. Und ich erkenne hier wieder, daß die Menschheit in zwei Rassen geschieden ist: eine, die sein muß, was sie ist, die sich gar nicht denken kann, anders zu sein, die nichts braucht, weil sie alles an sich selbst hat, und so lange sie sich hat, weder Wunsch noch Furcht kennt, die Rasse der sicheren einsamen unschuldigen Heiden, die keine Gerechtigkeit kennen in ihrem starken Gewissen, Luft und Raum um sich fordern, keine Nähe vertragen; und eine der immer Fragenden, ewig an sich Zweifelnden, niemals Gewissen, die sich schämen, so zu sein, wie sie sind, die sich wünschen, anders zu sein, als sie sind, die sich fürchten, so zu sein, wie sie sind, die jeden bewundern, der anders ist, die jeden beneiden, der anders ist, die schmeicheln, die für sich um Verzeihung bitten, die gefallen möchten, die Rasse der aus Scham Anmutigen, aus Angst Mitleidigen, aus Neid Reuigen, der Suchenden und Irrenden, der an sich selber kranken, schlecht träumenden, vor sich selber flüchtigen Sünder. Und zwischen diesen beiden Rassen, zwischen den Menschen, denen in ihrem eigenen Wesen wohl ist, und den Menschen, denen vor ihrem eigenen Wesen bang ist, kann niemals Friede sein. Der Spaß aber ist nun, daß jedes Zeichen, das die erste von sich gibt, immer von der zweiten gleich ergriffen und als Maske vorgebunden wird.

Und ich frage mich in einem fort: Ist der Palast der Rektoren gelb, oder ist er braun, oder ist er grau? Mit einem Glanz unsagbarer Farben hat die Zeit den alten Stein überzogen. Abgelegene Spitzen, wie sie auf den Inseln hier noch in Klöstern bewahrt werden, lang verborgenes Pergament und in uralten Truhen erblaßte Meßgewänder haben manchmal dieses Leuchten von verschossenem Gold. Fünf große Säulen, mit fünf üppigen Kapitälen; und jedes ist anders, als hätte jedes allein den ganzen Reichtum der Welt für sich ausgeschöpft! Denn Größe hat das, daß sie sich verschwenden kann, ohne Furcht, sich zu verlieren. Uns schwindelt in dieser Fülle wuchernder, schwelgender, strotzender Details, aber man tritt zwei Schritte weg, und die reinste Heiterkeit nimmt alles in sich auf. Denn alles dient hier, und ein einziger großer Wille spielt damit.

Auf diesen steinernen Bänken saßen die Senatoren. Hier saß der Rektor, der, immer für einen Monat nur erwählt, in dieser Zeit den Palast nicht verlassen durfte, der Gefangene seiner Macht. Bis dann, 1806, die Franzosen vor der Stadt standen, da blies die Marseillaise das alte Gesetz hinweg, es zerbrach; diesen großen Moment, in dem sich alle Vergangenheit noch einmal versammelt, aber aus der Sehnsucht der Armen schon die Zukunft aufspringt, hat Ivo Vojnovič in seiner Ragusäischen Trilogie mit der höchsten Leidenschaft, sein Bruder Lujo im ersten Bande seines Pad Dubrovnika mit einer nicht weniger künstlerischen Gelehrsamkeit dargestellt. (Der Fall Ragusas. Von Dr. Lujo Knez Vojnovic. Erster Band: 1797-1806. Zweiter Band: 1807-1815. Agram, Verlag der Aktien-Typographie, 1908. Ein solches Werk über Toledo wäre längst ins Deutsche übersetzt.)

Der Palast, 1388 aufgebaut, 1435 abgebrannt, kaum erneut 1462 wieder und nochmals 1483 durch Feuer zerstört, hat diese Gestalt seit vierhundert Jahren. Die Dogana ist jünger. Und alles an ihr ist jung. Überall hat sie Jugend. Wäre das Problem gestellt: Drücke durch ein Gebäude das Wort Jung aus, es ließe sich nicht besser lösen. Allen festen Trotz und die lachende Verwegenheit und das arglose Glück der Jugend hat sie. Sie ist doch aus Jugend entstanden! Damals als in Europa rings das Erwachen der Menschheit geschah. Und man hat das Gefühl: so lange sie hier steht, kann in dieser alten Stadt die Jugend nicht erlöschen, so lange wird die Stadt immer wieder jung sein.

Die Dogana sieht, mit ihrer heiteren Loggia und den kleinen gotischen Fenstern unter dem skurilen heiligen Blasius in seiner anmutig umschlossenen Nische, ganz venezianisch aus. Die Jugend aber, von der sie glänzt, war eine slawische. Die Dogana ist 1520 vollendet und 1521 erschien die Judita des Spalatiners Marko Marulič, des Vaters der kroatischen Literatur. Der war, noch ganz lateinisch erzogen, ein strenger Gelehrter, der sich aber gelegentlich schon in heiteren Gedichten der heimischen Sprache gefiel. Und nun bekam auch hier die Jugend überall Mut. Wie jetzt die jungen Tschechen sich auf Europa stürzen, mit dieser ungeheuren Gier, ihrer Sprache die Gedanken und Gefühle der westlichen Völker anzueignen, so war damals alle Jugend hier von einer unbändigen Lust gequält, den ganzen Geist der neuen Zeit für ihre Stammesart zu erobern. Ihre Muttersprache wurde von ihr entdeckt. Da scholl es in dieser zierlichen Dogana von wagender Kraft! Denn unten war die Münze und das Zollamt, oben aber eine Art Klub, in dem sich die vornehme Welt mit den Schöngeistern traf. Hier saßen auch die beiden Akademien, die der Concordi und die der Oziosi. Hier klangen noch die Lieder der ragusäischen Troubadoure nach des Sisko Mencetic und des Gjore Drzič. Hier bildete sich an Nachahmungen italienischer Muster eine durchaus nationale Dichtung, lebensvoller als diese, von einem oft verwegenen Realismus und einer höchst merkwürdigen gesalzenen Heiterkeit, wovon des Ragusaner Goldschmieds Cubranovič berühmte Jegjupka und die Schäferspiele des Marin Drzič zeugen. Bis dann zuletzt der Große kommt, der die Frucht der langen Sehnsucht pflückt, der Vollender, der Erfüller: Ivan Gundulič. Von ihm ist das letzte Hirtenspiel, Dubravka, 1628, die Freiheit Ragusas feiernd. Und dann war es aus.

Auf dem Markt, ein paar Schritte vom Palast der Rektoren, ist sein Denkmal. (Von dem Bildhauer Rendič; 1893 enthüllt.) Im langen Mantel steht er da, die Hand mit dem Stift zum Dichten erhoben. Er wird wohl nicht so feierlich gewesen sein. Auch steht er zu hoch, auf einem umständlichen Postament mit langwierigen Reliefs. Ich hätte ihn lieber mitten unter den Menschen, wie der Goldoni in Venedig mitten drin in seinem Volke zu spazieren scheint.

(Die ragusäische Literatur hat der Grazer Professor Matthias Murko in der Teubnerischen »Kultur der Gegenwart«, Teil eins, Abteilung neun, vortrefflich dargestellt. Auch seiner »Geschichte der älteren südslawischen Literaturen« verdanke ich viel. Sie ist in den »Literaturen des Ostens«, Leipzig, Amelangs Verlag, erschienen, als zweiter Teil des fünften Bandes, dessen ersten Teil die ebenfalls sehr bemerkenswerte Geschichte der tschechischen Literatur von Jan Jakubec und Arne Novák bildet.)

Beim Landtagsabgeordneten Doktor Stefan Knezevič. Ein unendlich feiner stiller Mensch mit wunderschönen zärtlichen Augen. Er kommt mir sehr artig entgegen, doch erstaunt. Er scheint sich zu wundern, daß es da droben in Wien einen Menschen geben könnte, der Interesse, ja gar vielleicht ein wirkliches Gefühl für das vergessene Dalmatien hat. Es wird ihm anfangs schwer, sich gleich in einen Wiener zu finden, der kein Spion ist und nicht Verschwörungen entdecken will. Aber ich habe das an mir, daß man mir vertrauen muß. Die Menschen fühlen es doch durch, wenn einmal einer nichts als ein Mensch ist. Sie brauchen nur einige Zeit, um sich vom ersten Schrecken zu erholen. Bald aber wird er frei. Still fließt jetzt unser Gespräch dahin. Er hat eine leise Traurigkeit, die selbst anmutigen und fröhlichen Worten einen dunklen Ton gibt. Diese Menschen hier sitzen viel allein und sehnen sich ohne Hoffnung. Ihre große Vergangenheit steht hinter ihnen, die trostlose Gegenwart ängstigt sie. Wer sich der Väter würdig zeigen will, ist gleich verdächtig. Die Not ihres Volkes ergreift sie, sie möchten helfen, aber dies gilt für Hochverrat. Man traut ihnen nicht. Zuerst sollen sie jetzt einmal beweisen, daß sie Patrioten sind. Sie wollen es ja sein. Nur möchten sie doch auch leben dürfen. Dies aber will man ihnen erst gewähren, bis sie bewiesen haben werden, daß sie Patrioten sind. Inzwischen aber werden sie, weil man doch davon allein nicht existieren kann, längst verhungert sein.

 

Knezevič hat in Wien studiert und ist dann, als Lujo Vojnovič Minister in Montenegro war, dorthin berufen worden, um die Rechtspflege einzurichten. Dies ist ihm von unserer Regierung verweigert worden. Er hätte aufhören müssen, ein Österreicher zu sein. Und lieber hat er verzichtet. Man kann sich denken, wie schwer der junge Mensch, noch nicht dreißig Jahre alt, einer solchen Gelegenheit, einmal ins Große zu wirken, entsagt haben mag. Und müßten wir uns nicht vielmehr wünschen, in Montenegro einen zu haben, der als Student in Wien auf der Wieden gewohnt hat, der unsere Art kennt, mit dem wir uns verständigen können? Aber Goluchowski, unter dem auch dies geschah, hatte das Prinzip, im Großen und im Kleinen, Österreich überall verhaßt zu machen. Es war das einzige Prinzip, das er hatte. Und es war erfolgreich, man siehts auf dem Balkan.

Merkwürdig ist es überhaupt von einer Verwaltung, wenn sie, wie hier, um ihre Pflicht zu tun, immer erst Bedingungen stellt. Der Dalmatiner sagt: Wir brauchen Straßen, wir brauchen Bahnen, wir brauchen Schulen! Unsere Verwaltung antwortet ihm: Zeige zuerst, daß du ein Patriot bist! Notwendigkeiten werden so zu Belohnungen verwendet, die man sich erst jahrelang verdienen muß. Als ob ein Vater seinem Kinde sagte: Wenn du heuer brav sein wirst, kriegst du aufs Jahr zu essen! Ganz abgesehen davon, daß es mir nicht sehr gescheit scheint, einer Bevölkerung fortwährend den Patriotismus als eine so ganz besondere Kraftleistung hinzustellen; in anderen Ländern gilt er für selbstverständlich und darum ist er es auch. Wir haben übrigens diese Politik schon einmal erprobt: in der Lombardei.

Beim Apotheker Matej Sarič. Ein eifriger, beweglicher, tätiger Mann, dem die Lust an der Arbeit aus den Augen blitzt. Klein, elegant, klug, rasch und geschäftig. Überall sieht er in der Stadt Kraft versteckt, die nur den Ruf erwartet, sich regen und strecken zu dürfen; und im Handumdrehen baut er mir die Stadt um, hier noch ein Hotel, dort eine Strandpromenade, und sieht schon überall die Menschen fröhlich wimmeln! Schön ist der Plan, das Schlachthaus zu fällen und dort einen Strandweg bis zur Schwimmschule zu führen, um die Wette mit dem in Abbazia; und am Ende dann, in San Giacomo dort, mit dem Blick zum Meer und auf das waldige Lakroma, ein großes Hotel. Denn es ist nicht wahr, beteuert er mir, daß sie keine Fremden wollen, wie man ihnen in Wien nachsagt; nur von einer künstlichen Fremdenindustrie mögen sie nichts, die nach den Bedürfnissen der Eingeborenen nicht fragt und sie um allen Gewinn betrügt, weil sie sie nicht versteht und ihnen nicht traut! Und wieder die ewige Klage: man versteht uns nicht und will uns nicht verstehen, weil man uns nicht traut und überall Verschwörungen wittert, während wir uns wahrhaftig nichts anderes wünschen als ruhig arbeiten und verdienen zu können! Und sehr amüsant ist es nun, wie er mir den strebsamen Beamten schildert (er nennt ihn beim Namen), der eines Tages aus Wien nach Dalmatien kommt, von vornherein entschlossen, nach Wien zu berichten, was in Wien den größten Eindruck macht, also Verschwörungen, und der nun dreimal die Woche mit der italienischen, dreimal mit der serbischen Gefahr und am Sonntag mit der wachsenden Demokratie droht, um nur, als Retter hochverdient und hochbelobt, ins Ministerium berufen zu werden: Wir lachen ihn aus, aber in Wien scheint man ihm zu glauben.

Dieser Sarič war vor ein paar Jahren noch ein leidenschaftlicher Serbe. Heute gehört er zur serbokroatischen Koalition. Der Unterschied zwischen Serben und Kroaten scheint erloschen. Vor vier Jahren ging ich einst mit einem Freunde hier auf dem Stradone. Vor uns zwei große hochgewachsene junge Leute. Ich sagte: Sehen Sie doch, wie wunderschöne Menschen diese Serben sind! Da drehte der eine sich um, hielt mir die geballte Faust ins Gesicht und schrie, voll Wut: Nix Serbe, wir sind Kroaten, nix Serbe! Heute kann man überall in Dalmatien gefahrlos sagen, daß Serben und Kroaten bloß zwei verschiedene Namen für dieselbe Nation sind. Sie sprechen dieselbe Sprache, sie haben dieselbe Rasse und auch die Religion trennt sie nicht, da es ja doch auch katholische Serben gibt. Ein braver kroatischer Notar, neben dem ich neulich im Speisewagen saß, war freilich ganz entsetzt, als ich dies sagte. Aber auf meine Frage, was denn also der Unterschied zwischen den Serben und den Kroaten wäre, erklärte er mir: Die Kroaten sind schwarz-gelb, die Serben aber ungarisch gesinnt! Und konnte nicht begreifen, daß mir das nicht auszureichen schien, um zwei Nationen zu statuieren. Man wird wohl dabei bleiben dürfen, daß Serben und Kroaten von einer und derselben Nation sind, bloß mit verschiedenen Erlebnissen. Merkwürdig ist nur, daß sie selbst, miteinander und ineinander lebend, dies so lange verkennen konnten. Und merkwürdig auch, daß man, ihrer Verständigung nachgehend und die Vermittler suchend, fast immer zuletzt auf einen Schüler Masaryks stößt. Fast immer ist es einer, der als junger Mensch einmal nach Prag kam, bei Masaryk im Kolleg saß und, von ihm aufgeweckt, heimgekehrt überall die Botschaft der Versöhnung zu verkündigen begann. Schüler Masaryks haben Serben und Kroaten vereint und richten das zerschlagene Land jetzt zum Glauben an die Zukunft auf. So stark wirkt der einsame Slowak in Prag, der eine Mischung von Tolstoi und Walt Whitman, diesen ein Ketzer, jenen ein Asket und allen ein Schwärmer scheint, in die weite Welt hinaus.

Der Habitus dieser Kroaten ist: weiches dunkles Haar, meist ganz kurz geschnitten, ein kleiner Schnurrbart, ein gelbes, matt glänzendes Gesicht, eine schmale gerade Nase mit zuckenden Flügeln, die mandelförmigen Augen schief unter gesenkten Lidern blinzelnd, ermüdet und verschlafen, die Stimme weich und klagend.

Und innerlich: von einer unbestimmten Sehnsucht voll und tief im Herzen beklommen, mit dem einzigen Wunsch, still gehorchen zu dürfen.

Ich muß schon sagen, mir wären diese »Hochverräter« noch viel sympathischer, hätten sie nicht so stark den Trieb in sich, treue Diener zu sein. Und so hat vielleicht unsere Verwaltung doch einen propädeutischen Sinn: der unbekannte Geist, der über den Schicksalen der Welt sitzt, hat sie vielleicht ins Land geschickt, um diesen Menschen hier die knechtische Lust am Gehorsam auszutreiben. Und so sei sie gepriesen!

7

Nach Lakroma. Man fährt, vom alten Hafen weg, kaum eine halbe Stunde. Ich habe wieder das Gefühl, im Anblick der Stadt, sie sei nicht von Menschen erbaut, sondern aus der Erde gewachsen.

Dem Landenden wird ein weißes Kreuz sichtbar, und der Schiffer erzählt, daß hier einst ein Kriegsschiff explodiert und nur ein einziger Mann gerettet worden sei, der für ein schweres Verbrechen, das er verübt, ganz unten in Ketten lag. Die Geschichte höre ich immer wieder gern, weil sie so moralisch ist. Wie muß sich dieser brave Mann sein ganzes Leben lang über sein Verbrechen gefreut und es gesegnet haben!

Hier war schon 1023 ein Kloster. Und diese Benediktiner verstanden es dann überall, die Händel der Großen für sich auszunützen. Da war irgendein Zwist eines Königs Radoslav mit seinem Neffen Bodino, und der Schluß ist, daß der landflüchtige König das Kloster zum Erben macht, sein böser Neffe aber auch. Die geistliche Kunst besteht darin, sich so zwischen die Starken und Schwachen zu stellen, daß sie diese zu schützen, jenen zu drohen scheint, doch aber immer noch im rechten Moment wenden kann. – Auch Richard Löwenherz, aus einem Sturm an diesen Strand gerettet, hat dafür dem lieben Gott viel bezahlen müssen.

Wie mir diese Namen klingen! Richard Löwenherz, Kaiser Max, Kronprinz Rudolf. Im wilden Garten sage ich sie mir immer wieder vor. Ich weiß nicht, was ich eigentlich dabei fühle. Es sind nur Akkorde. Richard Löwenherz, Kaiser Max, Kronprinz Rudolf. Bis zu einem deutlichen Gefühl, das ich nennen könnte, wirds nicht klar. Nur wie wenn leise der Wind über eine Harfe ging, streichen die drei Namen über mich hin. Richard Löwenherz, Kaiser Max, Kronprinz Rudolf.

In Hietzing steht der Kaiser Max vor der Kirche. Immer wenn ich in die Stadt muß, fahre ich in der Elektrischen an ihm vorbei. Das Denkmal, von einem Johann Meixner, der mir sonst unbekannt ist, sagt nichts. Es stellt irgendeinen sehr österreichischen, gar nicht tragischen Herrn dar. Wenn man aber hier im Kloster durch seine Zimmer geht, sieht man ihn; da ist er noch selbst, der Kaiser Max von Mexiko. Sie sind ganz einfach, aber in jeder Ecke sitzt die Sehnsucht. Und draußen der Garten und drüben das Meer, in ungeheurer Einsamkeit. Aus den ganz kleinen Zellen sieht man überall ins Große. Und die Stimmen des Windes, der zornig in den Eichen haust, der Welle, die stöhnend an den Fels schlägt, rufen in die tiefe Stille herein.

Ich habe neulich einmal die sieben Bände durchgesehen, die vom Kaiser Max übrig sind. Reiseskizzen, Aphorismen, Gedichte. Besonders die Gedichte sind arg. Überall aber spricht ein Mensch, der sich immer wünscht, Großes und Schönes zu finden; und er glaubt, es müsse draußen irgendwo sein. Die stolzen Namen seiner Ahnen regen ihn auf, ihr Enkel zu sein will er sich verdienen, so sucht er ein würdiges Schicksal. Und rührend ist es, wie er sich immer mit dem Edelsten umgibt und durch Erinnerung an die Taten oder Werke bedeutender Menschen sich selbst ihnen zu nähern glaubt. Er war zu groß, Großes aus der Ferne zu bewundern; er hat daran teilnehmen wollen. Und dazu war er doch wieder nicht groß genug, er hatte nur den Wunsch nach Größe. Er hatte nur die Sehnsucht. Und so hat er, ein Schicksal suchend, zuletzt nur ein Abenteuer gefunden. Das war seine Tragik.

Der Kaiser Max und unsere Kaiserin Elisabeth, diese zwei großen Statuen der Sehnsucht stehen am Eingang unserer Generation. Wird an unserem Ausgang eine der Erfüllung stehen?

Da ist, unter Eichen und Kiefern, eine Mulde, in die vom Meer unterirdisch Wasser dringt: das Mare Morto. Ich strecke mich hier hin, es weht lau, der Stein glüht, unten gluckst es dumpf; und vor mir nichts als das blaue Meer. Mir wird warm und wohl, es denkt sich hier so gut.

Nein, das sind keine Verschwörer, dort in der alten Stadt; es sind keine Verräter. Sie haben keinen Wunsch als gut österreichisch sein zu können. Aber die Stadt dehnt sich, sie spürt ihre Kraft; und die Bauern, ringsherum, schicken ihre Söhne nach Amerika, die lernen dort, wie man heute das Land bestellt, und, heimgekehrt, erzählen sie davon. Doch die Bildung fehlt und die Maschinen fehlen und Städter und Bauer erkennen so, daß ihnen überall das Geld fehlt. Woher kriegen wir Geld? Wir selbst sind zu schwach und Wien hilft uns nicht. Ja wenn wir stärker wären! Wir sind zu wenige. Wir müssen uns mit anderen vereinigen. So setzt sich auch hier die wirtschaftliche Not ins nationale Gefühl um. Wenn die Menschen hungern, sagen sie: das Vaterland muß größer sein! Die Stadt dehnt sich, der Bauer will Maschinen, dies wird jetzt in das Wort gepreßt: Trialismus! Warum sind wir von unseren Brüdern getrennt? Wir Kroaten in Dalmatien und die Kroaten in Kroatien und Slawonien sind ein Volk, so wollen wir auch ein Reich sein! Wirtschaftliches Bedürfnis wird so zur politischen Leidenschaft. Ein habsburgisch gesinnter Staatsmann ließe sich das nicht entgehen. Er gewänne für Österreich ein Volk und hätte die ungarischen Rebellen geschlagen.

Nun sagen unsere Staatskünstler freilich: Solange die Menschen hier hungern, gehorchen sie noch am ehesten, brächten wir aber Geld ins Land und ließen Bürger und Bauern erstarken, oder würden gar Dalmatien und Kroatien ein Reich, so fängt sogleich die politische Romantik auszuschlagen an, ein kräftiges Bürgertum ist nicht zu regieren, davon haben wir in Böhmen genug, und wenn es sich erst wirtschaftlich und geistig zu fühlen beginnt, weiß niemand mehr, gegen wen sich die junge Kraft am Ende noch kehrt, während mit diesen Bettlern hier ein paar Gendarmen fertig werden, das ist sicherer, Not regiert man noch am leichtesten, denn wie den Menschen nicht mehr hungert, wird er frech, glauben Sie mir!

 

Diese Staatskünstler stecken nämlich noch ganz im alten Österreich, das seinen Sinn in Deutschland suchte. Seit es aber hinausgeworfen wurde, hat es nur die Wahl: entweder keinen Sinn mehr zu haben oder sich jetzt einen neuen zu suchen. Der kann nur auf dem Balkan sein. Jener, nach Norden und Westen gekehrt, hat es nicht nötig gehabt, sich um das verlorene Volk dort unten zu kümmern. Dieser braucht es. Denn nur mit starken Südslawen können wir auf dem Balkan stark sein. In ihrer Kraft ist unsere Zukunft. Aber unsere Staatskünstler wissen noch immer nicht, daß wir aus einem deutschen Östreich ein slawisches Westreich geworden sind. Vor dreiundvierzig Jahren ist das geschehen. Es wäre Zeit, sich daran zu gewöhnen…

Das Wasser gluckst im Schacht, die Kiefern biegt der Wind, der Stein glüht. Ich bin unruhig, in einem inneren Halbdunkel, zwischen Denken und Fühlen. So seltsam klingt es überall, die Seele der Insel scheint aus dem Schlaf zu reden. Und ich erwarte, jetzt und jetzt eine weiße Gestalt aus dem Lorbeer treten zu sehen. Wenn noch Götter wären? Die Götter der Griechen! Götter, die sich zu geliebten Irdischen neigen! Und immer das leise Singen, auf der ganzen Insel. Und drüben die roten Rosen. Und draußen das blaue Meer.

Solche Stunden, wenn der Wind weht, das Meer glänzt, die Sonne glüht, haben die sonderbare Macht, indem sie den Geist zu lichten oder gleichsam zu schleifen scheinen, daß er hell und schneidend wird, zugleich einen magischen Kreis um ihn zu ziehen, in dem alles traumhaft wird. Niemals sind wir bereiter, mit dem Verstande alles zu wagen, niemals kühner zu logischen Exzessen gestimmt, niemals so gewiß, jedes Geheimnis auszurechnen, niemals aber auch ahnungsvoller und mehr in Nacht vertieft. Während unser Verstand dann eine lachende Zuversicht hat, alle Fragen aufzustören, alle Rätsel abzuwickeln, werden wir über den Rand des Bewußtseins gedrängt und sind unsicher, was noch Realität, was schon Halluzination ist. Wirklichkeit erkennen wir für Wahn, und Wahn nimmt die Gewalt von Wirklichkeiten an. Niemals fühlen wir uns im Geiste so fest, aber der Boden unter ihm wankt. Wir wissen, daß wir im Recht sind, aber es könnte sein, daß es das Recht einer anderen Dimension wäre. Wir fühlen uns ungeheuer wach, aber so unwahrscheinlich wach, daß wir es bloß zu träumen fürchten. Und seltsam ist es, wie von dieser geheimnisvollen Erektion des Geistes nun auch unsere Sinnlichkeit mitgerissen wird. Das sinnlich Aufregende weiß zerstiebenden Wassers, mit leisen Fingern kitzelnden Windes und des verwirrenden Geruchs schwellender Blumen wirkt niemals stärker auf uns als in solchen Stunden der höchsten inneren Klarheit, wenn sich der Geist vom Körper zu lösen scheint und dieser nur noch einmal zum Abschied die Hände nach ihm hebt. Dann hat jede Rose das Gesicht einer Frau, Dryaden nicken nackt aus allen Bäumen und der Boden dampft überall vom Schweiß der Faune. Indem wir, entrückt, schon aufzufliegen glauben, hält uns noch einmal der süße Bann der Erde zurück. In solchen Stunden ist es, als machten wir an uns noch einmal die ganze Menschheit durch, vom Anbeginn des Urtiers, und ewig weiter, bis in unbekannte Fernen, vom Faun, der wir gewesen sind, bis zum Gott, der aus uns werden will. Und einen atemlosen Augenblick lang steht dann in uns die Ewigkeit versammelt.

Dem Heimkehrenden aber, der, solcher banger Seligkeit entkommen, noch einmal vom Kahn zu dem magischen Eiland zurückblickt, ist es wieder nur ein stiller, waldiger, verwilderter Garten…

Im Kahn fällt mir plötzlich ein: Warum setzen wir hier nicht einen unserer jungen Erzherzoge her? Den Erzherzog Eugen etwa, der sich in Innsbruck bewährt hat. Er wäre fähig, die Schönheit der Insel zu genießen, und hätte durch seine frische, leutselige, weltkluge Sinnesart bald das Zutrauen der Menschen. Sie sind zu oft getäuscht worden, um uns noch zu glauben. Sie lachen nur, wenn wieder ein Minister zum hundertstenmal die »Hebung Dalmatiens« verkündigen läßt. Sie wissen schon, daß es doch immer auf dem Papier bleibt. Aber käme nun, statt der Botschaft, auf die keiner mehr hört, ein lebendiger Mensch in ihre Stadt, um unter ihnen zu wohnen, ihre Sitten zu teilen und ihre Sorgen zu suchen, dies wäre vielleicht ein Zeichen für sie, woran sich alte Hoffnungen wieder aufrichten könnten. Und er hat es ja nicht so nötig, sich oben beliebt zu machen. Er müßte nicht immer daran denken, nur das nach Wien zu berichten, was man in Wien gerade zu hören wünscht. Er könnte wagen, einmal die Wahrheit zu sagen, ohne gleich verdächtig zu sein. Abends auf dem Stradone gehend, wie es seine Art ist, sich gern im Volke zu bewegen, oder ins Land zu den Bauern fahrend, schon um alte Waffen und ererbten Schmuck zu sehen, die Wünsche der Bürger hörend, mit diesen schönen Frauen scherzend, Fischern im Boot lauschend, die Geschichten aus der alten Zeit erzählen, fände dieser junge, dem Leben offene, wahrhafte Mensch den echten Sinn des verleumdeten Volkes bald heraus und hätte den Mut, Gerechtigkeit zu heischen. (Behutsam natürlich, denn wir haben Hofräte im Ministerium, denen auch ein Erzherzog noch lange kein genügender Patriot ist!) Und die Familien der alten Ragusäer, die sich jetzt in Einsamkeit verkriechen und verbittern, legten wieder ihren alten Prunk an, um bei seinen Festen zu glänzen, und sein froher Sinn, den Künsten zugetan, riefe die Jugend der Dichter und Maler herbei, die jetzt in ohnmächtiger Sehnsucht vergeht. Und der Saal, oben in der Dogana, wäre dann wieder von Freuden und Hoffnungen hell wie damals, in der unvergessenen Zeit des ersten Erwachens.

Da stößt der Kahn hart ans Ufer und rüttelt mich auf. Ich muß lachen, denn ich habe plötzlich in mir die Stimme Kolo Mosers gehört. Der las uns auf dem Semmering so gern eine Predigt des Abraham a Santa Clara vor, in der jeder Satz mit dem Ausruf schließt: O Narr! Und wie aus einem Grammophon klingt es mir: O Narr! Und klingt mir noch in einem fort nach, während ich durch die Stadt gehe, mit seiner vollen, tief gurrenden Stimme von verhaltener Lustigkeit: O Narr! – Kolo, was tust du? Kolo, Professor, Ritter des Franz-Josef-Ordens, was willst du von mir? Hebe dich hinweg und störe mich nicht in meinen patriotischen Phantasien!

Dreimal die Woche werden die Ragusa besuchenden, im Hotel Imperial abgefütterten Fremden in eine stoßende stinkende Barkasse gestopft und nach Cannosa geschleppt; noch drei Nächte lang träumt man dann nur von Öl. Dort müssen sie aussteigen und werden über steile Stufen in der Sonne zu der berühmten Platane getrieben; gehorsam geht jeder um diese herum, die Schritte zählend, um festzustellen, daß es wirklich fünfundzwanzig sind. Dann nimmt man jedem eine Krone ab und sie dürfen in den Garten der alten Grafen Gozze. Hier sind Zedern und Lorbeer und Palmen von seltener Art, und es wäre hier sehr schön. Schon aber wird der schwitzende Fremde wieder in die stinkende Schale gesteckt. Rote Rosen winken vom Fels, das blaue Meer glänzt, aber die ganze Welt riecht hier nach Öl. Einer liest vor, daß die Erinnerungen der Gozze zurück bis in das zehnte Jahrhundert gehen und wer alles aus dem kleinen Schloß schon über das Meer geblickt hat, Tegetthoff und Kaiser Max mit der Charlotte und unser alter Kaiser Franz, und daß die weiße Straße, die man dort sieht, nach dem Herzog von Ragusa, dem Marschall Marmont heißt, aber alle rümpfen die Nasen, denn alle diese feierlichen Namen schwimmen in Öl. Und man hat nach einiger Zeit das Gefühl, daß es überhaupt nur Öl gibt. Und dann unterhalten sich die Frauen. Ihr Hauptvergnügen ist, jede will der anderen beweisen, daß sie noch billiger eingekauft hat. Ein dickes, kommerzienrätliches, altes Weib, schwer mit Putz behangen, beschreibt, wie man es anstellen muß, um den armen Händlern auf dem Stradone die Preise zu drücken. Sie zeigt einen Ring, den sie gekauft hat, und läßt raten, um wie viel. Es ist nicht der Ring, der ihr Freude macht, sondern das Hochgefühl, den armen Albanesen übervorteilt zu haben. Ehrfurchtsvoll wird ihr zugehört.