Read the book: «Polly!»

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POLLY!

Ein Roman von

Stephen Goldin

Herausgegeben von Parsina Press

Übersetzung herausgegeben von Tektime

Polly! Copyright 2008 by Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung Copyright korhan hasim isik.

Titel original: Polly!

Übersetzerin: Martina Hillbrand

Gewidmet allen Göttinnen

—vergangen, gegenwärtig und zukünftig—

die durch mein Leben spaziert sind

1. Szene

Sein eigenes Husten weckte ihn auf.

Er wusste anfangs nicht einmal, wieso er hustete, aber dann drang der Geruch in sein Bewusstsein. Rauch. Die Luft war schwer mit all dem Rauch. Heißer, schwarzer Rauch. Der in schweren, unheilvollen Wellen auf ihn zu rollte.

Dann gab es da ein Geräusch. Es war ein Rauschen, wie ein Zug, der näher kommt, nur anders. Vielleicht ein Hurrikan oder ein Tornado, ein Sturm so laut, dass er beinahe ohrenbetäubend war. Gleichzeitig schmerzten seine Ohren. Vielleicht eine Veränderung im Luftdruck.

Dann wurde er sich bewusst, woran ihn das Geräusch erinnerte: ein dröhnender Ofen, industrieller Größe.

Feuer!

Seine Augen öffneten sich ruckartig, was ein großer Fehler war. Sofort begannen sie zu brennen und Tränen strömten heraus. Der Rauch und Ruß machten es fast unmöglich, zu sehen, und der Husten machte es fast unmöglich, zu Atem zu kommen.

Feuer, der größte Albtraum eines Buchladenbesitzers, und noch mehr, wenn er auf der oberen Etage über dem Laden wohnte. Er sah keine Flammen um sich, also musste das Feuer im Moment unten sein. Und seinen Lagerbestand auffressen.

Barbara! Barbara aufwecken.

Dann erinnerte er sich wieder. Da war keine Barbara, die er aufwecken könnte. Sie hatte ihn vor ein paar Tagen verlassen. Er war alleine.

Eine Stimme in ihm fragte sich, wieso er überhaupt weiterleben sollte. Einfach liegen bleiben und sterben und fertig. Aber die Stimme in seinem Kopf, die den Lebensinstinkt vertrat, gewann.

Welchen Rat bekam man immer für Feuer? Rauch steigt auf. Am Boden krabbeln um den Rauch nicht einatmen zu müssen. Aber galt das auch noch, wenn der Rauch aus dem unteren Stockwerk kam?

Er rollte sich aus seinem Bett auf seine Knie auf den Boden und begann zu krabbeln. Dann hielt er an. Wo war das Fenster? Er konnte nichts sehen. Er wusste, wie sein Bett zu dem Fenster stand, aber seine Gehirnwindungen waren blockiert. Er konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, aus welcher Seite des Bettes er gerollt war. Links oder rechts? Bewegte er sich auf das Fenster zu oder davon weg?

Vor ihm hörte er Glas zersplittern. Gut, er war in der richtigen Richtung unterwegs. Eine Stimme rief: „Ist hier drinnen jemand?“

Er versuchte, eine Antwort zu schreien, aber ein neuerliches Husten erstickte seine Worte, er konnte nur husten.

Aber das war genug für seinen Retter. „Ich höre Sie, ich komme.“

Gleich danach ergriff ein Feuerwehrmann seinen Arm, zog ihn vorsichtig hoch auf die Beine und ging mit ihm zum Fenster. Eine Leiter stand draußen. „Denken Sie, Sie können hinunterklettern?“, fragte der Retter. Er nickte.

„Ist sonst noch jemand hier drinnen?“, war die nächste Frage.

Er schüttelte den Kopf. „Nur ich“, sagte er sehr heiser.

Ein weiterer Feuerwehrmann stand auf der Leiter. Die beiden Männer halfen ihm, auf wackeligen Beinen nach unten zu klettern. Plötzlich war ihm kalt. Obwohl es Juli war, war die Nacht kühl – außerdem kam er aus einem überhitzten Gebäude, so war der Kontrast noch stärker.

Außerdem hatte er nur Unterhosen an. Das war alles, was er trug, wenn er schlief, und so war es alles, was er jetzt an hatte. Einer der Feuerwehrleute aber, sah, dass er zitterte und wickelte ihn sofort in eine Decke. Ein anderer holte ein großes, weites Sweatshirt und Trainingshosen und er zog diese an. Ein weiterer gab ihm eine Wasserflasche.

Er drehte sich um und beobachtete das Feuer. Er sah teilnahmslos zu, als es brannte. Die Flammen waren eigentlich ziemlich schön anzusehen, gegen die Dunkelheit der Nacht. Ab und zu nahm er einen Schluck aus der Wasserflasche, mehr aus Reflex als aus Durst.

Sein ganzes Leben löste sich in Rauch auf – zumindest alles, was sich nicht schon vorige Woche metaphorisch in Rauch aufgelöst hatte.

Er stand da, während Menschen um ihn herum eifrig alle Arten hektischer Dinge taten – mit Äxten rannten, Wasser in die Glut gossen, die Menschenmenge zurückhielten. Nichts davon schien wirklich wichtig zu sein; seine Gedanken waren weit weg. Die Bilder, die Geräusche, die Gerüche formten ein Kaleidoskop von Gefühlen, die durch die falsche Seite eines Teleskops passierten. Nichts davon war real. Nichts davon betraf ihn.

Eine Frau blieb neben ihm stehen und sprach kurz mit ihm. Sie sagte, dass sie vom Roten Kreuz war und fragte, ob er eine Übernachtungsmöglichkeit hatte. Sie gab ihm eine Visitenkarte einer Herberge, wo er für ein oder zwei Nächte bleiben konnte, während er sich wieder organisierte.

Die Flammen erstarben langsam. Jemand sagte ihm, dass die erste Etage völlig zerstört war, aber einige Dinge aus der zweiten geborgen worden waren: seine Geldtasche, ein kleiner Schrank mit etwas Kleidung, sein Handy. Ein anderer sagte ihm, dass die erste Einschätzung war, dass das Feuer durch irgendein defektes Stromkabel verursacht worden war. Nichts sah verdächtig aus.

Irgendwann musste er zu der Herberge gegangen sein, obwohl er sich daran nicht erinnern konnte. Er erwachte dort und ging benommen hinaus auf die Straße, zu einem Geldautomaten, wo er ein wenig Geld von seinem mageren Guthaben abhob, sodass er frühstücken konnte. Das Essen hätte ebenso gut Karton sein können; er kaute und schluckte mechanisch ohne überhaupt etwas zu schmecken.

Der Rest des Tages verging in einem ähnlichen Dunst. Er sammelte ein paar Kleider, die er retten konnte, und steckte sie in ein paar Plastiktüten. Er unterhielt sich mit seinem Versicherungsberater, der ihm sein professionelles Beileid aussprach und ihn darauf hinwies, dass der Großteil seines Firmenvermögens zwar versichert gewesen war, aber er keine Haushaltsversicherung hatte, die seine persönlichen Verluste decken könnte. Er verließ das Versicherungsbüro mit einem Stapel Papier, das er ausfüllen und so bald wie möglich zurückbringen sollte.

Er verbrachte diese Nacht in einem billigen Motel und erinnerte sich überhaupt nicht an die Erfahrung. Als der Tag anbrach, sickerte die Wirklichkeit langsam zurück in die Winkel seines Gehirns. Er würde sich um eine Unterkunft sorgen müssen; er hatte nicht genug Geld um in einem Motel leben zu können. Er musste seine Dinge versammeln, ein Inventar von dem machen, was er noch hatte. Nun, das würde nicht lange dauern. Es war nicht viel übrig, um zu inventarisieren.

Wo konnte er hingehen? Nun, sein Bruder hatte eine Farm in Nevada und lud ihn immer ein, ihn besuchen zu kommen. Das würde wohl genügen, nahm er an.

Er begann ein paar Anrufe um seinen Bruder vorzuwarnen, dass er kommen würde, und jedes Mal legte er auf, bevor er fertig gewählt hatte. Er konnte diese Geschichte nicht am Telefon erzählen; er würde vielleicht völlig zusammenbrechen und sich nie wieder bewegen. Besser er machte sich einfach auf den Weg und überraschte seinen Bruder. Wer weiß? Bis er dort ankam hatte er sich vielleicht mit all dem abfinden können.

Er warf seine wenigen Besitztümer in seinen Toyota und begann seine Fahrt ostwärts.

2. Szene

Die Fahrt begann ganz gut. Durch die Stadt und hinaus auf die Autobahn fahren – einfach genug, um zu schaffen. Der Tag war warm und die Klimaanlage des Corolla war kaputt, aber die 400-Klimaanlage – vier Fenster offen, bei 100 km/h – half, um es erträglich zu machen. Das Auto hatte keinen CD-Player, aber es gab gute Musik, Rockklassiker, im Radio. Das war zumindest gut. Solange er versuchte, sich an die Texte zu erinnern, um mitsingen zu können, brauchte er nicht an Dinge zu denken, über die er nicht nachdenken wollte.

Es war recht früh am Morgen, Stoßzeit. Es gab viel Verkehr auf der anderen Seite der Straße, aber fast keinen auf seiner. Er fuhr entgegen der Pendler-Richtung, weg von der Stadt. Nichts, was ihn bremsen würde.

Er bog auf eine andere Autobahn ab, statt vierspurig war diese nun zweispurig. Der Verkehr, der hier noch war, war immer noch in die andere Richtung und er konnte ungehindert fahren. Er trat ein wenig fester auf das Gaspedal. Der Wind rauschte vorbei und übertönte beinahe das Radio. Er drehte lauter.

Die Straße führte nach Osten über die Hügel, hinunter in das heiße zentrale Tal Kaliforniens. Dies war der Ort, wo nur die Verrückten sich im Sommer ohne Klimaanlage hin wagten. Nun, die Verrückten und die Verzweifelten. In eine der beiden Kategorien würde er wohl passen.

Als die Hügel zwischen ihm und der Stadt lagen, begann der Radiosender zu rauschen. Auch wenn er noch lauter drehte, funktionierte es nicht – es gab mehr Rauschen als Musik. Er drückte auf den Suchmodus um einen anderen Sender zu suchen. Er verwarf ein paar Nachrichtensender – einer Sport, der andere ein berühmter Kommentator, der den Ärger der Hörer aufbauschen wollte – und einen Sender in Spanischer Sprache. Er versuchte, auf FM umzuschalten, aber da war beinahe gar kein Empfang, also schaltete er zurück auf AM und fand schließlich einen Musiksender, der eine Bandbreite von Oldies und Rockklassikern spielte. Man konnte es hören, wenn es auch etwas sanft war, für seine Stimmung.

Die Temperatur stieg nun sehr schnell. Der Wind, der zum Fenster hereinkam, war genauso heiß wie die Luft im Auto, und er begann zu schwitzen. Er hielt an einer Tankstelle, tankte voll und kaufte ein paar Wasserflaschen. Die würden ihn eine Weile versorgen.

Er trank die erste Flasche in einer halben Stunde aus und schwitzte das Wasser beinahe so schnell heraus wie er es nachfüllen konnte. Er öffnete die zweite Flasche und schüttete ein wenig davon über seinen Kopf. Das schien die Hitze wieder erträglich zu machen.

Nach 60 Kilometern auf diese Art, zweigte er auf eine zweispurige Autobahn ab. Hier war wirklich praktisch kein Verkehr und er hatte die Straße für sich alleine. Er sah auf die Uhr: halb elf. Er lag gut in der Zeit. Wenn er so weiter fuhr, würde er die Farm sogar noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen – aber sicher bevor es zu spät wurde.

Das Land um ihn herum ging langsam von bebautem Ackerland in Buschland über. In seinem Rückspiegel schrumpften die Berge als er weiter in das Tal hinein fuhr.

Auch dieser Radiosender begann zu rauschen, und ein lokaler Sender funkte dazwischen. Dieser neue Sender behauptete stolz, dass er beide Arten von Musik spielte: Country und Western. Für seinen Geschmack war das nur eine Stufe über Rap, der nur eine Stufe über statischem Rauschen war.

Also hörte er wenig interessiert den scharfen Tönen der Verzweiflung zu. Nachdem der dritte männliche Sänger eine elende Geschichte über seine Frau, die ihn verließ sang, drehte er verärgert die Lautsprecher ab und fuhr weiter.

Großer Fehler. Die nächsten zwanzig Kilometer oder so stürmten seine Gedanken ihm weit voraus über die meist völlig gerade Straße. Das Finanzamt. Barbara. Das Feuer. Der Laden. Barbara. Steuern. Feuer. Selbst Countrymusik war besser als Stille.

Die Temperatur stieg weiter. Er trank den Rest der zweiten Wasserflasche und schüttete einen Teil der dritten über seinen Kopf. Es hatte weniger Wirkung als beim ersten Mal. Wenigstens war er froh, dass er Stoff-Sitzbezüge hatte, statt der billigen kunstledernen. Wenn seine Haut an diesem glühenden Textil kleben würde, würde seine Fahrt noch dreimal unbequemer werden als sie ohnehin schon war.

Er sah hinüber auf den Beifahrersitz. Der Stapel Versicherungsformulare saß dort, beschwert von einem Stapel Kleidern, damit sie im Wind nicht wegfliegen konnten. Er hatte sie kurz angesehen, als der Versicherungsberater sie ihm gegeben hatte. Sie wollten jede Menge Information von ihm, wohl auch den ledigen Namen seines Vaters und das Sternzeichen seines Großvaters. Er hatte ein Feuer gehabt, verdammt! Die meisten seiner Aufzeichnungen waren weg. Wie sollte er ihnen die Information über die Finanzen seiner Firma geben, wenn alle Daten verbrannt waren?

Nein. Jetzt war nicht die Zeit, um diese Gedanken zu denken. Jetzt war die Zeit um schlechte Country- und Westernmusik zu hören und zu meditieren, während er durch die Wüste fuhr.

Seine Geschwindigkeit stieg auf über Hundertzwanzig. Da es keinen Verkehr gab, war da nichts, was ihn zurückhielt. Wenigstens war auf einer verlassenen Autobahn in der Wüste die Chance klein, dass er die Aufmerksamkeit einer Polizeistreife erregte.

Genau in diesem Moment sah er Blinklichter in seinem Rückspiegel. Fluchend fuhr er an den Straßenrand und hielt an. Er kannte die Vorgehensweise: er holte seinen Führerschein und Zulassungsschein heraus und gab sie dem Polizisten. Der Beamte gab sie ihm zurück, gemeinsam mit einem Strafzettel für Schnellfahren. Alles sehr höflich und geschäftlich. Beide waren sie in weniger als fünfzehn Minuten wieder auf der Straße.

Die Temperatur nahm nun wirklich zu. Er goss den Rest der dritten Wasserflasche über seinen Kopf und konnte praktisch fühlen, wie es in dem Moment, als es ihn berührte, verdampfte. Er trank die vierte Flasche in einem Zug leer und es half wenig.

Er hielt und füllte seinen Tank an einer kleinen Tankstelle, die behauptete, die letzte für die nächsten hundert Kilometer zu sein. Das Benzin war fürchterlich teuer und seine Geldmittel schrumpften stark, aber es war besser als eine Überraschung der üblen Alternative, so wie das Glück in diesen Tagen mit ihm spielte.

Einige Minuten später begann er, auch den Country-Sender zu verlieren. Verzweifelt suchte er nach einem anderen. Alles, was er hier, inmitten der Wüste, finden konnte, war ein religiöses Programm. Was machte das hier mitten am Tag? Es war nicht Sonntag. Sollten diese Dinge nicht nur spät in der Nacht gesendet werden, wenn sie anständige Menschen nicht nerven würden?

„Diese Heiden von Ee-volutionären wollen uns weismachen, dass das alles ein Unfall ist“, sagte der Geistliche. „Wenn Sie eine Uhr mitten in einem Feld liegen sehen würden, würden sie sagen: 'Wie komisch, dass alle diese Metallteile zufällig mitten in dem Feld zusammenkamen und sich auf eine Weise zusammenfügten, dass sie uns die Zeit sagen'? Was für eine dumme, lächerliche, widersinnige, törichte, schwachsinnige, alberne, dämliche Annahme wäre das! Oder würden Sie davon ausgehen, dass eine Person die komplizierte Uhr absichtlich für seine eigenen Zwecke gemacht hat? Eine Uhr impliziert einen Uhrmacher so sicher wie die Nacht auf den Tag folgt.“

„Ja“, antwortete er dem Radio verärgert. „Ein idiotischer Uhrmacher, der entweder nicht weiß, dass seine Uhr mitten in irgendeinem doofen Feld liegt, oder dem es egal ist. Vielleicht hat der Besitzer sie verloren, oder er warf sie weg, weil sie nicht richtig funktionierte. Was, wenn du eine Eisenstange in dem Feld liegen lässt und ein paar Monate später zurückkommst und sie mit rotem Staub überzogen vorfindest? Würdest du annehmen, dass jemand kam und sie angemalt hat? Oder würdest du denken, sie ist einfach verrostet, Vollidiot!“

Der Radiopriester ignorierte ihn. „Was diese Leute nicht sehen ist, dass alles Teil eines großen Planes ist, ein Plan, so groß, dass wir die Details überhaupt nicht sehen können. Gottes Plan ist so groß, dass er sich ganz um uns schließt, wie eine große, schützende Decke. Gottes Plan ist riesig und er ist für uns alle, und wir alle spielen darin eine Rolle.“

„War es auch Gottes Plan, dass mein Laden verbrannt ist?“ Er schrie das Radio nun an. „Will Gott, dass ich obdachlos und pleite bin? Ist das Finanzamt auch ein Teil von Gottes Plan? Braucht Gott meine achttausend Dollar so dringend? Ist es Gottes Plan, dass ich einen Strafzettel bekomme? Oder dass Barbara mich verlässt? Was macht Gottes Plan für mich? Wo ist diese Decke der Liebe überhaupt? Sie hat einige verdammt große Mottenlöcher!“

Er schlug wütend auf den Knopf um das Radio abzudrehen. Die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht war gleich viel Schweiß wie Tränen, stach in seinen Augen und machte es schwieriger zu sehen, wo er hinfuhr. Wenn es etwas mehr Verkehr gegeben hätte, hätte er vielleicht Probleme bekommen, aber es war niemand in der Nähe, mit dem er zusammenstoßen hätte können. Wenigstens gelang es ihm, das Auto auf der Straße zu halten.

Sogar die Stille war besser als solchem Mist zuzuhören. Selbst seinen eigenen Gedanken zuzuhören war besser. Obwohl die Gedanken verärgert waren, obwohl sie verwirrt waren, obwohl auch sie bedrückend und voller Verzweiflung waren. Wenigstens waren es seine Gedanken, nicht die eines heuchlerischen Betrügers.

Der Rest seiner Wasservorräte war schnell aufgebraucht, die Hälfte wanderte in seinen Mund, die andere Hälfte über seinen Kopf. Nichts davon schien zu helfen. Es war immer noch unerträglich heiß.

3. Szene

Zuerst dachte er, dass das Objekt vor ihm eine Fata Morgana sei. Aber es flimmerte nicht, und es wurde größer, als sich sein Auto näherte, also war es definitiv echt.

Es war eine zweistöckige Villa aus glänzend weißem Stein mit Fensterreihen in jeder Etage, die die frühnachmittägliche Sonne reflektierten. Der Haupteingang wurde von einem Überbau beschattet, der von einer Reihe strahlend weißer Marmorsäulen getragen wurde, und vor dem Haus war ein rechteckiger Fleck grünen Rasens, der sich stark von der öden Wüste rundherum abhob.

Er war schon früher einmal auf dieser Straße gefahren und konnte sich nicht erinnern, dass er etwas wie das hier gesehen hatte. Das war allerdings vor ein paar Jahren gewesen, und alles Mögliche hatte in der Zwischenzeit passieren können.

Die Autobahn führte vor dem Haus entlang, aber etwa dreißig Meter entfernt. Das Land rundherum war völlig flach und entbehrte jeglicher interessanter Dinge abgesehen von ein wenig Gestrüpp und ein paar einsamen Kakteen hier und da. Selbst die Berge, die in Kalifornien immer gegenwärtig waren, waren nur ein blauer Schmutzfleck am entfernten Horizont.

Er war zu sehr von seinem eigenen Leid eingenommen, als dass er der Villa mehr als nur eine kurze neugierige Aufmerksamkeit widmen hätte können. Seine Depression war eine schwarze Wolke, die alle anderen Anliegen überschattete, also ignorierte er die Villa und fuhr weiter.

Oder zumindest wollte er das. Ohne Vorwarnung begann sein Motor plötzlich zu spucken und starb ab, und der alte Corolla rollte langsam aus und hielt beinahe direkt vor der Einfahrt zu der Villa. Wenigstens schaffte er es noch, den Wagen von der Straße zu lenken, sodass er keinen Unfall verursachen konnte, sollte hier noch ein anderes Auto vorbeifahren. Nicht, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr groß gewesen wäre.

Die Tankanzeige zeigte, dass der Tank halb voll war. Er versuchte ein paar Mal wieder zu starten, aber erhielt nur ein trostloses, surrendes Geräusch als Antwort. „Verdammt!“, schrie er die unbeugsame Maschine an und schlug mit beiden Fäusten auf das Lenkrad. „Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt! Wieso ich? Wieso jetzt? Ich wusste, ich hätte dieser Schrottkiste eine solche Reise nicht zumuten sollen.“

Er sah angewidert auf den Stapel Papiere von der Versicherungsfirma auf dem Beifahrersitz unter der Tüte mit den Kleidern, dann stieg er aus und warf wütend die Tür hinter sich zu. Er öffnete die Motorhaube um den Motor anzustarren. Es war ein zweckloses Unternehmen – er hatte keine Ahnung, wonach er suchen sollte, und schon gar nicht, wie er es reparieren könnte.

Ungeduldig sah er auf seine Uhr. Zwölf Uhr fünfunddreißig. Die Temperatur war bestimmt schon über fünfunddreißig Grad und würde am Nachmittag noch auf die vierzig zugehen. Es regte sich kein Lüftchen. Er würde etwas unternehmen müssen, wenn er die Farm vor Einbruch der Nacht erreichen wollte.

Er griff in seine Hosentasche und zog sein Handy heraus. Das half ihm allerdings auch nichts – das Display zeigte keinen Empfang. Wer würde schließlich schon einen Sendeturm hier draußen für Hasen und Präriewölfe aufstellen? Er warf das Handy so weit er konnte in die Wüste. „Bin ich dich los!“, rief er ihm nach. „Was bringst du mir schon? Was bringt überhaupt irgendwas?“ Er trat das Auto frustriert und zitterte von einem schwer unterdrückten Schluchzen. „Was bringt denn alles noch?“

Was er tun wollte war, zurück ins Auto zu steigen. Auf den Rücksitz. Und sich dort heulend in kleines Häufchen Elend zusammenrollen. Vielleicht sogar Daumen lutschen. Das ganze Universum sollte ihn einfach nur in Ruhe lassen. Das wäre wahrscheinlich noch besser als das, was es in letzter Zeit mit ihm getan hatte.

Er hob seinen Blick und sah das Haus wieder. Nun, zumindest konnte er fragen, ob er von dort aus telefonieren konnte, um die Pannenhilfe zu rufen. Natürlich, so wie ihm das Glück gewogen war, würde niemand zu Hause sein.

Er sah an sich selbst herunter. Obwohl er Wasser über sich gegossen hatte, waren seine Kleider schon wieder staubtrocken in der Wüstenhitze. Er fuhr mit den Fingern ein paar Mal durch sein Haar, als Ersatz für einen Kamm. Dann begann er, die Einfahrt hinauf zu marschieren und war froh, dass es nicht eine dunkle, stürmische Nacht war; dann hätte er vielleicht erwarten können, in das Versteck von Dracula oder Frank N. Furter oder sonst eines Bösewichts zu gehen.

Er war so sehr in die schwarze Wolke seiner Gedanken versunken, dass er schon mehr als die Hälfte der Einfahrt hinter sich gelassen hatte, ehe er den Schneemann sah, der auf dem Rasen neben dem Hauseingang stand. Es musste eine dieser Plastik-Weihnachtsdekorationen sein, überlegte er. Jemand hatte einen komischen Sinn für Humor, dass er ihn im Juli draußen stehen ließ. Entweder das, oder er war einfach zu faul ihn wegzuräumen.

Als er sich allerdings näherte, sah er immer wirklicher aus. Es war ein Standard-Schneemann aus drei Schneekugeln, wobei die unterste einen Meter Durchmesser hatte, die mittlere siebzig Zentimeter und die oberste vierzig Zentimeter. Seine Augen waren schwarze Pflaumen, seine Nase war eine süße Gewürzgurke und sein Mund war ein gepunkteter Strich aus Kirschen, der sich zu einem Lächeln bog. Er trug einen fröhlichen gelb-roten Schal dort, wo sein Hals wäre. Auf seinem Kopf, statt dem traditionellen Hut, hatte er eine Baseballkappe der Oakland As. Seine Arme waren unterproportional dünn, einfach ein paar blattlose Zweige, die in seinen Schultern steckten.

Er ging darauf zu und berührte ihn vorsichtig. Er war kalt. Er war aus Schnee. Und er stand draußen auf dem Rasen bei siebenunddreißig Grad Hitze unter der gleißenden Wüstensonne im Juli.

Langsam entfernte er sich von ihm, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Der Schneemann stand einfach nur da und zeigte keinerlei Absichten zu schmelzen.

Schließlich, mit einem schnellen Kopfschütteln, versuchte er, ihn zu vergessen. Es gab zu viele andere Probleme, die wichtiger waren. Er stieg die vier Stufen zu der großen Eingangstür hinauf und drückte den Klingelknopf.

Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür und gewährte ihm einen Blick auf die hübscheste junge Frau, die er je getroffen hatte. Sie war klein – er war nur eins dreiundsiebzig und sie reichte kaum bis zu seiner Nase – aber das war dann auch schon das einzige Merkmal, das er an ihr als unterdurchschnittlich bezeichnet hätte. Ihr Körper war perfekt proportioniert, weder zu vollbusig, noch zu jungenhaft. Ihr dunkelbraunes Haar, im Kurzhaarschnitt, umrahmte ein perfektes Gesicht mit großen, leuchtend braunen Augen, einer kecken Nase und einem kleinen aber ausdrucksstarken Mund.

Sie trug einen schwarzen Satin-Hosenanzug. Die untere Hälfte waren Hosen mit leicht ausgestellten Beinen, das Oberteil war weit offen, wie zwei breite Hosenträger, die sich nach oben zogen und sich in ihrem Nacken trafen. Sie hatte gewöhnliche, flache, schwarze Turnschuhe an und ihr Rücken war nackt. Sie war nicht ungesund dünn, aber da war sicher nirgendwo Fett. Um ihren Hals trug sie eine dünne Goldkette mit einem großen Medaillon, sicher zehn Zentimeter breit mit mindestens zehn Lichtern, die da blinkten. Sie sah nicht viel älter aus als zwanzig.

„Ja?“, sagte sie.

Er war so beschäftigt damit, den Anblick zu bewundern, dass er beinahe vergessen hatte, wieso er hier war. „Ähm, tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber mein Auto ist kaputt gegangen, dort an der Straße. Ich wollte fragen –“

„Also, stehen Sie doch nicht da in der Hitze 'rum“, sagte sie mit einer einladenden Handbewegung. „Kommen Sie rein, hier ist es klimatisiert, und machen Sie sich's bequem. Willkommen im Grünen Haus.“

„Danke“, sagte er und trat ein. Sie schloss die Tür hinter ihm und er badete in dem Gefühl. Seit Stunden war ihm nur heiß gewesen. Sie standen in einer Eingangshalle mit schwarz-weißen Marmorfließen und einem riesigen Kristallleuchter, der von der hohen Decke hing. Es gab einen langen Gang, der zum hinteren Teil des Hauses führte, und von dem in verschiedenen Abständen Türen zu verschiedenen Zimmern führten. Eine breite Treppe mit dunkelgrünem Teppich führte hinauf in das nächste Stockwerk.

„Es tut mir leid, dass ich Sie so belästigen muss –“, begann er, aber sie unterbrach ihn wieder.

„Ach was. Es ist keine Belästigung. Sie können doch nichts dafür, wenn Ihr Auto kaputt geht, oder?“

„Nein“, sagte er mit einem tiefen Seufzen. „Ich hatte nur gehofft, Sie könnten mir kurz ihr Telefon leihen.“

„Würde ich, wenn ich eines hätte.“

„Sie leben hier mitten im Nirgendwo ohne Telefon?“

„Wenn ich ein Telefon hätte, würden mich die Leute ständig anrufen“, sagte sie. „Zu viele Leute wollen mit mir reden. Ich ziehe es vor, schwer erreichbar zu sein.“

„Aber was ist, wenn Sie ein Problem haben?“, fragte er weiter. „Was, wenn Sie mit jemandem sprechen müssen?“

„Ich kann problemlos mit jedem sprechen, den ich will“, sagte sie. „Und es gibt keine Probleme, die ich und meine Angestellten nicht bewältigen könnten.“

„Oh, Sie haben Angestellte. Ich nehme an, das macht es etwas besser.“

„Ja. Genau genommen, wollte ich gerade vorschlagen, dass sich mein Fahrer ihr Auto ansieht. Er weiß wahrscheinlich, wie wir es wieder hinkriegen.“

„Ich möchte Ihnen keine Mühe machen –“

„Es ist keine Mühe für mich. Fritz wird es machen. Dafür ist er da.“ Sie griff nach ihrem Medaillon und sprach hinein. „Fritz, da draußen steht ein Auto und funktioniert scheinbar nicht mehr. Kannst du es dir ansehen und versuchen es wieder zu starten?“

„Ja, mein Fräulein“, kam eine Stimme aus dem Medaillon. Der Akzent war so Hollywood-Deutsch, dass man beinahe die Hacken klacken hören konnte.

„Vielen, vielen Dank“, sagte er.

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Ich bin übrigens Polly.“

„Oh, ähm, hallo. Ich bin Rod.“

Sie legte den Kopf schief. „Du siehst nicht wie ein Rod aus“, sagte sie kritisch.

„Wie sieht ein Rod aus?“

„Nun, lang, zylindrisch und unbiegsam.“ Sie warf ihm ein verschmitztes Grinsen zu. „Natürlich kann ich es verstehen, wenn es ein Spitzname ist.“

Er merkte, dass er knallrot wurde. „Es, ähm, ist die Abkürzung für, äh, Herodotus“, sagte er leise. Gleichzeitig fragte er sich, wieso er das gesagt hatte. Er erzählte das beinahe nie jemandem – und schon gar nicht einer völlig Fremden.

„Ah, der griechische Geschichtsschreiber“, kreischte Polly. „Wie hübsch.“

„Sie haben von ihm gehört?“

„Natürlich. Ich liebte die alten Griechen.“

„Ja, mein Vater auch. Er war ein Professor der klassischen Archäologie.“

„Er muss sie sehr gerne gehabt haben, dass er Ihnen einen so ehrenvollen Namen gab.“

Herodotus schnaubte spöttisch. „Herodotus Shapiro ist der schrecklichste Name, den man einem jüdischen Jungen geben kann.“

„Mir gefällt er. Darf ich dich Heros nennen?“

„Mir ist Rod wirklich lieber.“

„Du kannst mein Heros sein“, sagte sie wobei sie seine Beschwerde völlig ignorierte. „Das ist besser als Heer, nicht wahr?“

„Wie auch immer“, sagte er resignierend. Er hatte jetzt wirklich wichtigere Probleme in seinem Leben als wie ein dummes, reiches Mädchen ihn nannte. Und in diesem Moment war eines dieser Probleme, wie er seinen Blick von dem hinreißenden Körper des dummen, reichen Mädchens losreißen und verhindern konnte, dass er zu sabbern begann.

Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn auf das Zimmer rechts neben ihm zu. „Komm in die Stube und geselle dich zur Party.“

„Party?“ Er fühlte wie sich seine Brust plötzlich zusammenzog. Partys bedeuteten Menschen, normalerweise fröhliche Menschen. Fröhliche Menschen waren so ziemlich das Letzte, was er in seinem Leben in diesem Moment brauchte. „Ah, ich wollte nicht ungeladen –“

„Könntest du nicht einmal, wenn du wolltest“, erklärte Polly nachdrücklich.

Er war sich nur zu sehr dessen bewusst, dass er verschwitzt und ungekämmt war. „Ich weiß nicht, ob ich da hineinpassen würde. Ich kenne da wohl niemanden –“

„Mach dir keine Sorgen. Du wirst dich großartig amüsieren. Sie sind alle gute Leute. Andere lade ich nicht ein.“

$6.33
Age restriction:
0+
Release date on Litres:
16 May 2019
Volume:
170 p. 1 illustration
ISBN:
9788873042501
Translator:
Copyright holder:
Tektime S.r.l.s.
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