Wir haben alle mal klein angefangen

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Dummheit muss bestraft werden

Also Herr Angeklagter, das möchte ich jetzt doch gern mal von Ihnen hören: Warum erzählen Sie hier vor Gericht immer wieder neue Lügengeschichten?”

Aber da sind Sie doch ganz allein selbst dran Schuld, Herr Richter: Warum löchern Sie mich hier auch wieder und wieder mit immer neuen Fragen?”

Ganz klar, die Sache mit den vier Studenten ist nicht zur Nachahmung empfohlen. Nicht allein deshalb, weil sich deutsche Gerichte nicht gern verarschen lassen und Falschaussagen daher hart bestrafen. Nein, manchmal wird es sogar richtig ernst! Dann nämlich, wenn sich Polizisten gegenseitig zu helfen versuchen, um einen flüchtigen Autofahrer dingfest zu machen: In Niedersachsen stellte sich ein Polizeifahrzeug eines Nachts nach einem entsprechenden Hilferuf von Kollegen quer auf die Bundesstraße, um eine Straßensperre zu errichten. Intelligenter Weise direkt hinter einer Kurve. Eine richtige Raser-Falle sollte es sein. Und war es auch. Doch unglücklicherweise kam der Raser, von anderen Polizeiwagen verfolgt, so schnell angefahren, dass den beiden Polizisten keine Zeit mehr blieb, ihr Fahrzeug zu verlassen. Das Ergebnis: drei Tote, zwei Polizisten und der an der Weiterfahrt gehinderte Raser. Ein leider unvermeidliches Resultat perfekter Fehlplanung, denn das war schon immer ein ehernes Gesetz in unserer Galaxis – Dummheit muss bestraft werden...

Und Dummheit wird bestraft: Zu ihrem eigenen Bedauern wissen nicht alle armen Sünder, die von der Polizei erwischt werden, sich so elegant aus der Affäre zu ziehen wie die verschworenen vier Musketiere, Entschuldigung: Göttinger Studenten. Diese Erfahrung machte ich in einem Gerichtsprozess, dem ich etwa zur gleichen Zeit beiwohnen durfte, als die dreisten Vier in Göttingen vom Gericht freigesprochen wurden.

Der Prozess, an dem ich nur als einfacher Zuhörer teilnahm, fand vor einem schleswig-holsteinischen Amtsgericht statt und wurde von dem leitenden Amtsrichter höchstpersönlich durchgeführt. Immerhin ging es um eine einigermaßen knifflige Angelegenheit, bei der der Ausgang vollkommen ungewiss war:

Der Angeklagte war ein Bauarbeiter, wie er im Buche stand. Während seiner schweißtreibenden Arbeit trank er regelmäßig Bier in rauen Mengen und fuhr deshalb meist auch mit total besoffenem Kopf nachhause. Normalerweise klappte das ganz gut, noch nie hatte ihn eine Polizeistreife angehalten und ins Röhrchen pusten lassen, bis er eines schönen Tages in einer scharfen Kurve sein Auto statt nach links um die Ecke einfach stur geradeaus weiterrollen ließ.

Dummerweise stand ihm dabei ein Haus im Wege. Ohne zu Bremsen fuhr er durch den kleinen Vorgarten, durchbrach die Außenmauer des Wohnhauses und parkte sein Auto mitten im Schlafzimmer. Da das Ganze tagsüber geschah, kam außer dem Auto, der Hauswand, einem französischen Doppelbett und einigen anderen Möbeln glücklicherweise niemand ernsthaft zu Schaden. Auch der Unglücksfahrer selbst – unser dem Teufel Alkohol besonders liebevoll zugetaner Mann vom Bau – trug kaum Blessuren davon, denn Betrunkene haben bekanntermaßen mehr als einen Schutzengel. (Nämlich mindestens zwei an der Zahl, weil Betrunkene bekanntermaßen alles doppelt sehen!)

Trotz seines nicht unerheblichen Alkoholpegels war unserem forschen Bruchpiloten sofort klar, dass dieses nicht gerade als klein anzusehende Malheur für ihn doch die eine oder andere unangenehme Konsequenz nach sich ziehen könnte. Den Verlust des Führerscheins zum Beispiel. Wie sollte er zur Arbeit kommen, ohne Auto fahren zu dürfen? Um diese und andere Unannehmlichkeiten zu vermeiden, kletterte er schnell aus dem Autowrack, stieg über die Trümmer der Schlafzimmerwand ins Freie, wischte sich den von der Decke gefallenen Mörtel aus den Haaren und von den Schultern und machte sich vor Schreck, Alkohol und Benommenheit leicht schwankend davon.

Schlauerweise schlug er nicht den Weg in Richtung seiner heimatlichen Wohnung ein, denn dort hätte ihn die Polizei wohl am ersten gesucht. Stattdessen stolperte er so gut es ging über Stock und Stein quer über die eine oder andere bügelbrett-flache Wiese seiner norddeutschen Heimat, bis er auf ein Wirtshaus stieß, das ihm gemütlich genug erschien, um es dort bis zum nächsten Morgen auszuhalten. Währenddessen wartete seine Frau zuhause mit dem Abendessen auf ihn und wunderte sich, wo ihr Mann bloß blieb.

Im Saufen hatte „Quax“, unser vom rechten Weg abgekommener Bruchpilot, große Erfahrung, und so war es für ihn keine besondere Herausforderung, seinen ehrlich erworbenen Alkoholpegel über die kurze Nacht bis in den anderen Tag hinein zu retten. Nach anfangs vergeblicher Suche bei Freunden und Bekannten fand ihn die Polizei schließlich am anderen Mittag am Tresen einer vom Unfallort einige Kilometer entfernten Gaststätte in einem immer noch stark angeheiterten Zustand.

Ich war stocknüchtern, Herr Richter!

Als ich unseren Unglücksfahrer schließlich im provinziell-gemütlichen Dithmarscher Amtsgericht zu Meldorf in voller Schönheit und furztrocken bewundern konnte, stand er als überhaupt nicht reuiger Sünder kerzengerade und mit hoch erhobenem Haupt vor dem Richtertisch:

„Bitte glauben Sie mir, Herr Richter, ich war stocknüchtern, als ich in das Haus gefahren bin. Ich hatte nur für einen kurzen Moment die Kontrolle über mein Fahrzeug verloren. Warum, das kann ich mir heute überhaupt nicht mehr zusammenreimen. Vielleicht war’s ein technischer Defekt am Auto? An der Lenkung vielleicht? Ich weiß es wirklich nicht!“

„Ja guter Mann, wie kommt es denn, dass man Sie am Tag danach mit fast 2,5 Promille in dieser Kneipe aufgegriffen hat? Und warum haben Sie überhaupt Fahrerflucht begangen? Das erklären Sie diesem Gericht doch bitte mal!“

„Aber Herr Richter, das war so: Als ich in das Haus gekracht bin, habe ich einfach den Kopf verloren. Ich hatte einen Schock und wusste nicht, was ich tun sollte. Da bin ich einfach weggerannt.“

„Und weil Sie so erschrocken waren, haben Sie sich dann in die nächste Kneipe gesetzt, um sich dort ein Glas nach dem anderen hinter die Binde zu kippen und sich sinnlos zu besaufen?“

„Ja Herr Richter, genauso war es – ich schwöre!“

„Herr Rechtsanwalt, was sagen Sie denn zu den Aussagen Ihres Mandanten?“

Der Richter wandte sich direkt an den Pflichtverteidiger des Angeklagten, der daraufhin aufsprang und folgendes zum Besten gab:

„Also Herr Richter, wissen Sie, ich habe zu meinen Mandanten bisher auch noch nicht das richtige Vertrauensverhältnis aufbauen können…“

Spätestens jetzt lag sonnenklar zu Tage, dass dem Angeklagten im Gerichtssaal niemand auch nur ein Wort glaubte – nicht einmal sein eigener Verteidiger. Für den Angeklagten sah es also gar nicht gut aus.

Obwohl: Wer sollte ihm beweisen, dass seine Geschichte von vorn bis hinten erstunken und erlogen war? Zeugen gab es nicht, eine beweisfähige Blutprobe vom Tatzeitpunkt auch nicht. Eigentlich war der Angeklagte so gut wie aus dem Schneider. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – auf diesen Rechtsgrundsatz konnte er sich jederzeit berufen, denn es gab keinen Tatzeugen und auch sonst keinen stichhaltigen Beweis dafür, dass er wirklich betrunken am Steuer gesessen hatte, als der Unfall passiert war.

Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen...

Obwohl von der Sache her vollkommen unbeteiligt, war ich aufs Äußerste gespannt, wie sich dieser offene Wettstreit zwischen Richter und Angeklagtem entwickeln würde: Was würde der erlauchte Amtsgerichtsdirektor, in Sachen verstockter Delinquenten mit allen Wassern gewaschen, wohl unternehmen, um diesen „gordischen Knoten“ in der Beweisführung zu entwirren? Würde er die Verhandlung abbrechen, um eine erneute, noch genauere Detail-Untersuchung anzuordnen? Des Tatorts oder des Unfallfahrzeugs zum Beispiel, um eventuell doch noch Spuren und Hinweise auf den vermuteten Alkoholkonsum vor der Tat zu finden? Um durch hieb- und stichfeste Indizien und Beweise den Angeklagten am Ende doch noch einer Lüge zu überführen?

Nichts dergleichen! Die Methode, die der Richter anwandte, um den Angeklagten, der wie ein Uhrwerk immer dieselbe Geschichte wiederholte, zur Strecke zu bringen, war ebenso simpel wie effektiv: Er stellte dem Angeklagten mit unbeirrter Beharrlichkeit immer wieder dieselben Fragen zum Tathergang und ließ ihn seine Geschichte wieder und wieder erzählen. Und jedes Mal, wenn der Angeklagte mit seinen Ausführungen fertig war, schaute der Richter mit gespielter Verachtung von oben, von seinem leicht erhöhten Richtertisch auf den Angeklagten herab und sagte im vollen Brustton der Überzeugung:

„Das glaubt Ihnen doch kein Mensch: Diese Geschichte können Sie vielleicht Ihrer Großmutter erzählen, aber nicht diesem Gericht hier! Denken Sie sich doch bitte mal etwas Überzeugenderes aus. So kommen wir hier nie zu einem guten Ende!“

„Nein, Herr Richter, ich schwöre, genauso war es, ich sage die volle Wahrheit!“

Drei oder viermal erzählte der arme Mann gezwungenermaßen dieselbe Geschichte, dann knickte er endlich ein:

„Also ja Herr Richter, ich geb’s ja zu: Zu dieser Erzählung haben mir meine Kumpels geraten. In Wirklichkeit war es so…“

Und dann kam eine zweite Geschichte, die noch unglaublicher anzuhören war als die erste.

Das war’s mit „im Zweifel für den Angeklagten”: Trotz fehlender Beweise wurde unser wackerer, zu seinem eigenen Unglück leider mehr als ihm gut tat dem Alkohol verfallener Handwerksmann der grob fahrlässigen Verkehrsgefährdung in Tateinheit mit schwerer Sachbeschädigung schuldig gesprochen.

 

Die für Verkehrsdelikte zuständige Haftpflichtversicherung des Unfallfahrers, deren Vertreter zu den wenigen Zuhörern in dem großen, fast leeren Gerichtssaal gehörte, hatte damit die gewünschte Handhabe, sich den gesamten Schadensersatz für das beschädigte Haus vom Angeklagten zurückzuholen. Auto futsch, Geld futsch, und seinen Job beim Bau war der arme Wurm sogar schon vor dem Gerichtstermin los gewesen: Wer beschäftigt auf dem weiten, platten Land wohl jemanden, der kein Auto hat, mit dem er zu ständig wechselnden Baustellen fahren kann?

Armer Sünder, dachte ich mir, diesen Strick hast du dir ganz allein selbst um den Hals gelegt! Und für mich selbst zog ich aus dieser missglückten Selbstverteidigung den guten Vorsatz, zukünftig noch mehr als bisher an meiner eigenen Rhetorik feilen zu wollen. Nach diesem Prozess war mir sonnenklar, vor Gericht hat nur der gute Karten, der „coole“ Argumente und einen noch cooleren – Entschuldigung –, einen noch kühleren Kopf hat.

Vor allen Dingen: Jeder Depp und jeder Richter weiß, dass es nur eine einzige Wahrheit, dafür aber umso mehr Unwahrheiten gibt. Wer also für sich selbst beschlossen hat, den Rest der Welt mit Lügenmärchen zu beglücken, der sollte immer daran denken: Sagt man zuerst A und dann B, braucht man sich nicht darüber zu wundern, wenn einem hinterher keiner mehr glaubt. Also bitte schön bei der Stange bleiben – ganz besonders vor Gericht –, und immer schön „A” sagen, auch wenn’s einem keiner glaubt. Sollen alle anderen doch erst einmal hergehen und dir das Gegenteil beweisen!

Fünf Mark für’s Falschparken

Diesen guten Grundsatz zur Rechtfertigung aller krummen Touren in unserer ach so unperfekten Welt beherzigten zwei befreundete Jurastudenten, die für falsches Parken am Ende sogar noch Geld vom Staat bekamen. Man lernt aus diesem schönen Beispiel, dass von allen wichtigen und gesellschaftlich wertvollen Berufen, die der liebe Gott so erfunden hat, eine fundierte juristische Ausbildung noch immer das beste Hilfsmittel ist, um ein krummes Ding zum Erfolg zu führen.

Dabei fing die Geschichte mit meinem Schulfreund „Carlo“ und seinem Freund Jens eigentlich ganz harmlos an:

Einer der beiden – nämlich Carlo, auch „Karlchen“ genannt, der wahre Name soll hier lieber verschwiegen werden, denn heute ist Karlchen selbst ein ehrenwerter Rechtsanwalt und Notar und möchte ganz bestimmt nicht mit einem Dummejungenstreich wie diesem in Verbindung gebracht werden – fuhr zu einem hochwichtigen Bundesliga-Handballspiel seines Heimvereins THW Kiel. Da alle Parkplätze vor der großen Sporthalle entweder schon belegt waren oder Geld kosten sollten, stellte er sein Auto einfach unmittelbar vor den Halleneingang und damit ins Parkverbot. Es kam, wie es kommen musste: Als das Spiel vorbei war, steckte ein Knöllchen hinter einem der beiden Scheibenwischer. Einen ganzen „Heiermann“ (fünf Mark) sollte Carlo für falsches Parken an Vater Staat berappen. (Man sieht, die Geschichte spielt noch zu antiken, aber seligen D-Mark-Zeiten!)

Jeder normale Mensch hätte sich kurz geärgert, das Bußgeld überwiesen und die ganze Sache dann sofort ad Acta gelegt. Doch mein guter Freund Carlo war nun einmal ein hoffnungsvoller angehender Jurist. Also suchte er nach einem Ausweg – und fand einen.

Er tat deshalb erst einmal gar nichts und ließ die Zeit verstreichen, bis ihm vom Gericht per Post eine Vorladung zugestellt wurde. Zwanzig Minuten waren für die Verhandlung seiner Ordnungswidrigkeit angesetzt worden. In Begleitung eines Freundes und mit einem Stapel Akten unter dem Arm betrat Carlo den Gerichtssaal. Nachdem seine Personalien festgestellt waren, fragte der Richter:

„Warum haben Sie die Geldstrafe nicht gezahlt?”

Darauf Carlo: „Weil ich unschuldig bin!”

„Aber Sie sind doch der Halter des Fahrzeugs KI-TT 257?”

„Ja, der bin ich!”

„Aber dann ist die Sache doch sonnenklar: Sie müssen die Strafe bezahlen!”

„Nein, nein, Herr Richter, ich möchte gern einen Zeugen aufrufen!”

„Warum das denn, was wollen Sie damit bezwecken? Denken Sie, Sie sind hier bei einem Schwurgericht!?”

„Nein, Herr Richter, ich möchte nur meine Unschuld beweisen.”

„Ihre Unschuld!?”

„Ja, Herr Richter, das ist mein gutes Recht!”

Carlo kramte in seinen Akten, fand, was er suchte, und hielt ein bedrucktes Blatt Papier in die Höhe:

„Dieses höchstrichterliche Urteil vom 27. März 1957 mit dem Aktenzeichen...”

„Also gut, also gut, Sie haben ja Recht! Der Zeuge, den Sie benennen wollen, ist wohl Ihr unbekannter Begleiter dort?”

„Ja Herr Richter, das ist mein Freund Jens. Jens möchte eine Aussage zur Sache machen.”

Auch wenn sich die Verhandlung dadurch aus Sicht des Richters vollkommen unnötig in die Länge zog, blieb ihm nach geltendem Recht nichts anderes übrig, als meinem Freund Karlchen zu Willen zu sein. Nachdem Jens’ Personalien in den Gerichtsakten notiert worden waren, durfte er als Zeuge „zur Sache“ aussagen:

„Ich bin gefahren, Herr Richter!”

„Was, wie denn das?” Der Richter war echt verblüfft.

„Ich hatte mir das Auto von Carlo geliehen, weil ich mir das Handballspiel des THW Kiel ansehen wollte. Als ich das Auto vor der Sporthalle abgestellt habe, muss ich wohl das Parkverbotsschild übersehen haben.”

Langsam dämmerte dem Richter, was hier abgehen sollte: „Also gut”, sagte er und schloss mit Schwung den Deckel seiner Akten, „dann beende ich mit dieser Zeugenaussage, die den Angeklagten entlastet, die Verhandlung, das Verfahren wird eingestellt.”

Doch er hatte nicht mit meinem Freund Carlo gerechnet: „Einspruch, Herr Richter: Ich möchte, dass das Verfahren ordnungsgemäß zu Ende geführt wird. Mein tadelloser Leumund ist beschmutzt, ich fordere hiermit für mich einen formellen Freispruch!”

Statt der geplanten zwanzig Minuten dauerte das Verfahren am Ende zwei volle Stunden. Trotz ständigem heftigen Kopfnickens von Jens Seite, kostete es Carlo noch einige Mühe, den Richter durch Hinweise auf ähnlich gelagerte Präzedenzfälle dazu zu bewegen, diesen Pillepalle-Prozess um eine banale Ordnungswidrigkeit wie gewünscht formal korrekt zu Ende zu führen. Doch Ende gut, alles gut: Zum guten Schluss gab es für Carlo den gewünschten Freispruch erster Klasse, und für den angeblichen Parksünder Jens sogar noch fünf Mark Zeugengeld aus der Staatskasse oben drauf.

Das Ergebnis dieses Sensationsprozesses: Nach den Gerichtsakten war Jens der gesuchte und überführte Übeltäter und bekam dafür sogar noch ein finanzielles Handgeld aus der Staatskasse!

Allerdings hätte Jens, dem voll geständigen Parksünder sofort nach der Verhandlung ein neues Knöllchen wegen falschen Parkens ausgestellt werden müssen. Aber seit dem überaus schändlichen Verkehrsdelikt waren in der Zwischenzeit mehr als drei Monate vergangen, und damit war die Verjährungsfrist leider schon abgelaufen.

Doch selbst wenn es anders gewesen wäre, und man hätte Jens noch wegen Falschparkens zur Verantwortung ziehen können: Die fünf Mark, die er hätte haben müssen, um sein Knöllchen zu bezahlen, hatte er sich durch seine Zeugenaussage in dem Prozess ja schon verdient.

Fazit: Ein geständiger Sünder, aber keine Strafe, sondern stattdessen eine „ansehnliche“ finanzielle Belohnung vom Staat. Ja, es ist wahr, Jurist müsste man sein, dann schlägt man selbst aus der krummsten Tour noch Gewinn!

Man sieht sich immer zweimal

Trotzdem kam für den eigentlichen Bösewicht Carlo nach diesem sauber eingefädelten Coup beinahe noch ein dickes Ende nach: Genau dieser Richter, den er zusammen mit seinem Freund Jens so fein aufs Kreuz gelegt hatte, wurde zum Ende seines Jurastudiums Carlos Prüfer im ersten Staatsexamen.

Damit hätte es meinem guten Freund genauso ergehen können, wie in dem bekannten Witz:

„Treffen sich Prüfer und Prüfling nach der Prüfung auf dem Klo an der Pinkelrinne, sagt der Prüfer zum Prüfling (von oben herab): ‚Also hier ziehen Sie auch den Kürzeren...’”

Doch ganz so schlimm kam es glücklicherweise nicht, auch diese Geschichte hatte das gewünschte Happy-End, denn der auch die Prüfung ausführende Richter erwies sich trotz des vorangegangenen Dramas im Amtsgericht als fairer Verlierer: Mein Freund Karlchen kam am Ende ungeschoren durch die mündliche Prüfung und bestand sein juristisches Examen mit einer auch aus seiner eigenen Sicht ganz passablen Zensur.

Wilde Zeiten als Student

Im Wintersemester 1970, ein halbes Jahr nach dem bestandenen Abitur fing ich an, Mathematik an der alt-ehrwürdigen Georg-August-Universität in Göttingen zu studieren. („Nach Kiel zum Segeln, nach München zum Skilaufen, nach Göttingen zum Studieren...”)

Die wilden sechziger Jahre, Jahre der technischen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Innovation und Revolte wirkten noch einige Zeit nach, bis mit dem Ölpreis-Schock – Benzin kostete mit einem Male vierzig statt vorher nur zwanzig Pfennig pro Liter –, der Roten Armee Fraktion und den nachfolgenden Berufsverboten (vor allen Dingen, aber nicht nur für links gesinnte Lehrer) ab Mitte der siebziger Jahre erneut die politische Reaktion Einzug in Deutschland hielt.

Doch die Ölkrise war noch in weiter Ferne, und so war ich schon etwas enttäuscht, als ich in Göttingens Hörsälen nicht die erwarteten wild kiffenden, langhaarigen Hippies oder bärtigen und eine Mao-Bibel unter dem Arm tragenden Revoluzzer antraf. Sondern überwiegend ganz normale und in meinen Augen daher ziemlich stieselige Bürgertöchter und -söhne, die brav studierten und an ihrer zukünftigen Berufskarriere bastelten.

In der Geschichte ist Göttingen eben nie das Zentrum umwälzender Weltrevolutionen gewesen. Trotz der „Göttinger Sieben“ (Professoren), die gut hundert Jahre zuvor gegen ihren König in Hannover rebelliert hatten. Und dafür umgehend des Landes verwiesen wurden. Sogar die Gebrüder Grimm waren dabei und mussten ihre Märchen von da an woanders aufschreiben. Doch für das bürgerlich-brave Göttingen sind diese, den Aufstand gegen die Obrigkeit probenden Professoren eine absolute Ausnahmeerscheinung geblieben.

Tatsächlich war das mit Abstand Wildeste, das mir von den Göttinger Studentenprotesten ein, zwei Jahre vor meiner Zeit berichtet wurde, die ruchlose Schändung eines Kriegerdenkmals, das das seltene Pech hatte, zufälligerweise direkt vor dem Eingang zum alten Audi Maximum, dem ehemals größten Hörsaal der Universität, aufgestellt worden zu sein. Das Denkmal war damit ein ständiger Stein des Anstoßes für alle Studenten, die täglich daran vorbeigehen mussten.

Und so kam es, wie es kommen musste: Aus Protest gegen was auch immer wurden eines Nachts die Genitalien der überlebensgroßen nackten Männer, die auf ihren Händen gemeinsam einen gefallenen Soldaten zu seiner letzten Ruhestätte trugen, mit Leuchtfarbe angepinselt. Da das solchermaßen verunstaltete Kriegerdenkmal auch ohne diesen innovativen farblichen Akzent schon immer absolut potthässlich gewesen war, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie hoch die Wellen der Empörung in der Göttinger Bürgerschaft damals geschlagen sind und wie sehr sich alle an diesem harmlosen Spaß beteiligten und unbeteiligten Studenten ins Fäustchen gelacht haben.

Von Anbeginn an stand über dem Eingang des alten Göttinger Audi Maximums eine Statue des sagenumwobenen Barons von Münchhausen. (In unmittelbarer Sichtweite des heutigen Heinz-Ehrhard-Denkmals!) In jener Nacht, als das graue Denkmal so farbenfroh verschönert wurde, so erzählt man sich noch heute in Göttingen, soll sich auch in das Gesicht des Barons, der zu den vier Gründungsvätern der Göttinger Universität gehörte, ein leises Lächeln geschlichen haben. Vielleicht war das die Geburtsstunde der berühmten Göttinger „klammheimlichen Freude“…