Übersetzungstheorien

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1.2 Die historische Rolle der ÜbersetzerÜbersetzer

Die ältesten erhaltenen Übersetzungen reichen bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurück (altbabylonische Inschriftentafeln religiösen Gehalts in sumerischer und akkadischer SpracheSprache). Jahrtausendelang dominierte – neben Texten wissenschaftlichen und administrativen Charakters – die Übersetzung der religiösen LiteraturLiteratur.

Die politische BedeutungBedeutung des Übersetzens zeigt das „Dolmetscherrelief“ in einem ägyptischen Edlengrab1, nämlich des Statthalters Haremhab in Memphis.2 Das Bild zeigt auch etwas über den sozialen Status des Dolmetschers. Er ist in der Mitte des Bildes in Doppelgestalt als Hörender und als Redender abgebildet. In Altägypten wurde der Ehrentitel „Mensch“ nur den eigenen Leuten zugebilligt, Fremdvölker galten schlicht als „elende Barbaren“ (KURZ 1986:73), ähnlich wie auch bei den Griechen, und sind deshalb im Bild kleiner dargestellt. So ergibt sich die Kommunikationsrichtung von oben nach unten, was auch auf den Dolmetscher abfärbt. Er ist als bloßer Handlanger viel kleiner als der Gaugraf, ja sogar noch kleiner als die Ausländer, obwohl er mit diesen auf gleicher Stufe redet. Dolmetschen ist eben nur eine Dienstleistung für die Verständigung, keine Tätigkeit eigenen Rechts, und zudem verdächtig. Man beachte das uralte italienische Epigramm mit dem Diktum traduttore traditore. Erst in dem Maße, wie Vorurteile und Misstrauen gegenüber fremden Völkern abgebaut werden und die KommunikationKommunikation sich auf Gleichberechtigte einpendelt, wird auch die Stellung des Dolmetschers aufgewertet. Ein Dolmetscher oder ÜbersetzerÜbersetzer durfte damals nicht eigenmächtig handeln. Am 3. August 1546 wurde deshalb Étienne Dolet an seinem 38. Geburtstag in Paris auf dem Scheiterhaufen hingerichtet und seine Übersetzungen verbrannt.3ÜbersetzerOriginals. AusgangstextSeeleSnell-Hornby

Bis heute liegt noch keine Gesamtgeschichte des Übersetzens vor. Allerdings hat Hans J. Vermeer in den 1990er Jahren sechs Teilbände von „Skizzen zur Geschichte der Translation“ vorgelegt, welche die Zeit von der Antike bis in die Renaissance abdecken.4Vermeer Die unermessliche Fülle der Übersetzungen wurde und wird meist in der Stille der Anonymität angefertigt. Dennoch sind Übersetzungen von allergrößter BedeutungBedeutung gewesen für die Erfindung der Schriften, die Entwicklung der Nationalsprachen und das Entstehen nationaler Literaturen, für die Verbreitung von Wissen und die Ausbreitung politischer Macht, bei der Weitergabe der Religionen und der Übertragung kultureller Werte, beim Verfassen von Wörterbüchern seit der Antike, und nicht zuletzt als Dolmetscher in diplomatischer Mission.

Heute gilt der ÜbersetzerÜbersetzer- und Dolmetscherberuf als hochqualifizierte Tätigkeit, und die Leistung der Übersetzer über die Jahrhunderte wurde inzwischen auch in einem von der Unesco geförderten Buch gewürdigt.5 Und Johann Wolfgang v. Goethe6Snell-Hornby hatte schon angemerkt:

Wer die deutsche SpracheSprache versteht und studiert befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert. Und so ist jeder ÜbersetzerÜbersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn, was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen.

1.3 Die griechisch-römische Antike als Übersetzungsepoche

Die griechisch-römische Antike ist für uns die erste historisch greifbare Übersetzungsepoche. In ihr haben sich bestimmte übersetzerische Grundkonzeptionen erstmals herausgebildet, die auch für die Folgezeit Gültigkeit behalten sollten, ja teilweise bis heute ausgeübt werden. Zugleich aber unterscheidet sich die antike Übersetzungspraxis grundsätzlich von der modernen. Die RezeptionRezeption der Griechen durch die Römer1Rezeption diente auch dem Zweck, das Lateinische als SpracheSprache zu bereichern, es literaturfähig zu machen, die im Griechischen schon vorhandenen literarischen Gattungen auf dem Wege der Übersetzung zu gewinnen (vgl. SEELESeele 1995:4).

Anfangs, in der archaischen Zeit, werden die griechischen Vorbilder experimentierend und bezogen auf den Textinhalt oft frei angeeignet. „Die römischen Komödiendichter waren sich durchaus ihrer Entfernung von den griechischen Vorlagen bewußt und formulierten auch explizit das Postulat der Wirkungsäquivalenz. Zeugnis hierfür sind insbesondere die Prologe des Terenz“ (SEELESeele 1995:7). Die antiken ÜbersetzerÜbersetzer wetteiferten mit ihren Originalen, amplifizierten oder reduzierten sie, modifizierten die SemantikSemantik ihres Ausgangstextes, wenn dies im eigenen oder im Interesse ihrer LeserLesers. Empfänger lag. Dies konnte bis zur Parodie gehen. Dass ein und derselbe Text in mehreren Übersetzungen durch verschiedene Übersetzer je andersartig ausfällt, ist dabei eine Erfahrungstatsache.2Übersetzerwörtlich

Eine stärkere Selbstreflexion römischer ÜbersetzerÜbersetzer tritt erst in der klassischen Zeit auf, als die römischen Autoren sich in ihren Originalwerken mehr von den Vorbildern lösten, und umgekehrt sich in den Übersetzungen stärker um genaue Nachbildung bemühen konnten. Der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) sprach von einem „fidus interpres“, dem man trauen könne, weil er seine Aufgabe zuverlässig ausübe. Der wichtigste Übersetzer der klassischen Zeit war aber Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). Er übersetzte seine Vorlagen in der Regel mit starkem literarischem Gestaltungs- und oft Überbietungswillen, was durch das literarkritische Konzept der aemulatio, der konkurrierenden Nachbildung, bedingt ist. Seine theoretischen Reflexionen über das ÜbersetzenÜbersetzen sind von starkem patriotischem Selbstbewusstsein getragen. So warnt Cicero stets vor allzu sklavischer Nachahmung des originalen Wortlauts. In aller Schärfe fasst er die Antithese „non ut interpres sed ut orator“, man orientiere sich als Dolmetscher nicht wie ein Ausleger am Wortlaut der Vorlage, sondern wie ein Redner an seinen Zuhörern.

Er fordert also nicht wörtliche Abbildung, sondern sinngemäße Wiedergabe. Gleichzeitig aber bemüht er sich insbesondere auf der Ebene des Wortschatzes um möglichst präzise Umsetzung der philosophischen TerminologieTerminologie der Griechen und legt darüber in zahlreichen Äußerungen übersetzerischer Selbstreflexion Rechenschaft ab.3Seele Die nachklassische Zeit hat dem theoretisch nicht viel hinzuzufügen. Weittragende ÜbersetzungsverfahrenÜbersetzungsverfahren sind entwickelt worden. Man kann feststellen,

daß der antike ÜbersetzerÜbersetzer sich vor eine ganz ähnliche Typologie von Übersetzungsschwierigkeiten gestellt sah wie der moderne: vor lexikalische Lücken, semantische Ambivalenzen, divergierende Sprachsysteme, unübersetzbare Idiomatismen, Bilder und Metaphern, metrische Zwänge, glossierungsbedürftige Stellen usw.

Auch wenn der antike ÜbersetzerÜbersetzer sich bei der Übersetzung ganzer Texte oft unbefangen über solche Schwierigkeiten hinwegsetzte, so hat er doch zumindest punktuell schon ein weites Spektrum von Lösungsmöglichkeiten erarbeitet (SEELESeele 1995:17).

Nachstehend werden einige ÜbersetzungsverfahrenÜbersetzungsverfahren der Antike genannt (vgl. SEELESeele 1995:24ff). Im Umgang beispielsweise mit der lexikalischen Lücke, dem Fehlen eines passenden Ausdrucks in der ZielspracheZielspraches. ZS, haben die ÜbersetzerÜbersetzer verschiedene Strategien entwickelt:

1. Das Übersetzungslehnwort (exprimi verbum e verbo), das in der Regel einen zielsprachlichen Neologismus darstellt. So wurde der lateinische Wortschatz erweitert, indem Worbildungsgesetze imitiert und nach Analogie der griechischen Komposita lateinische Zusammensetzungen geformt wurden: omnipotens, altivolans, altisonus. Auch in der deutschen Übersetzung der Odyssee von J.H. Voß finden wir solche Ausdrücke: die schönäugige Jungfrau Nausikaa, die rosenfingrige Morgenröte. Produktiv sind auch die Zusammensetzungen mit Präfix: ανεφελοϛ – innubilus – wolkenlos.

2. Bei Bedeutungslehnwörtern wurden bereits existente lateinische Wörter mit neuen Bedeutungen gefüllt, so wenn z.B. griechische Götternamen (Ερμειαϛ) durch lateinische ersetzt wurden (Mercurius).

3. Manchmal wurden lexikalische Lücken auch geschlossen, indem das griechische Wort einfach als Fremdwort, als Exotismus in den lateinischen Text aufgenommen wurde,

4. oder mit mehreren lateinischen Wörtern umschrieben wurde (ParaphraseParaphrase). (Quod uno Graeci … idem pluribus verbis exponere).

Grundsätzlich neue Gedanken fügt der übersetzungstheoretischen Tradition erst die christliche Ära der Spätantike hinzu. Hier wird nach der Autorität von Texten unterschieden. Bei „heiligen Texten“ wie der Bibel darf nichts verändert oder verschoben werden. So entstand die „Interlinearversion“, das ist eine zwischen die Zeilen geschriebene Wort-für-Wort-Übersetzung, besonders auch in frühen mittelalterlichen Handschriften. Wichtig war insbesondere die berühmte Epistel des HIERONYMUS (348–420) an Pammachius4Störig, wo der lateinische Bibelübersetzer einräumt:

Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, daß ich bei der Übersetzung griechischer Texte – abgesehen von den Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein Mysterium ist – nicht ein Wort durch das andere, sondern einen SinnSinn durch den anderen ausdrücke; und ich habe in dieser Sache als Meister den Tullius (Cicero) (…).

 

Diese spezielle Problematik der Übersetzung der Bibel, in der schon die Wortstellung ein (unantastbares) Mysterium sei, sollte freilich auch die ÜbersetzerÜbersetzer weltlicher LiteraturLiteratur beeinflussen. Nachdem nämlich die Übersetzer biblischer Schriften durch ihr gewissenhaftes Bemühen um adäquate Nachbildung der Originale das sprachliche Instrumentarium geschaffen hatten, konnten auch die Übersetzer weltlicher Schriften sich um ausgangssprachlich genaues ÜbersetzenÜbersetzen bemühen. Die Kirchenväter hatten im 4. Jh. n. Chr. die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn entwickelt, und die mittelalterliche Tradition hat daran angeknüpft.5 Bis zur Neuzeit erfolgt dann ein allmählicher Übergang von der mittelalterlichen Allegorese hin zur modernen Hermeneutik, indem der Buchdruck neue Kommunikationsformen ermöglichte.

1.4 Verdeutschende Übersetzung (LutherLuther)

Der deutsche Bibelübersetzer Martin LUTHERLuther (1483–1546) entschied sich dann sogar bei der Heiligen Schrift für die freiere Formulierung: „rem tene, verba sequentur“ (erfasse die Sache, dann folgen die Worte von selbst), wie schon Cato gesagt haben soll. Für ihn war es wichtig, dass der ÜbersetzerÜbersetzer eine innere Nähe zum Gegenstand der Aussage hat und ein sensibles SprachgefühlSprachgefühl für den Rhythmus und die Melodie des Textganzen, damit die Übersetzung auch die rechte Wirkung erzielen kann. Bei seiner zehnjährigen Arbeit an der Psalmenübersetzung wünschte er sich z.B. eine hebräische Stilkunde, die über die von ihm verwendete reine GrammatikGrammatik und das Lexikon Reuchlins hinausgehen würde. In seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530)1Störig verteidigt er sein Vorgehen mit vielen Beispielen gegen Kritiker, die ihm eine zu freie Übersetzung vorwarfen.

Martin LutherLuther erklärt: „… man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.

So wenn Christus spricht: ‘Ex abundántia cordis os lóquitur’ [Matth. 12, 34]. Wenn ich den Eseln soll folgen, die werden mir die Buchstaben vorlegen und so dolmetschen: aus dem Überfluß des Herzens redet der Mund. Sage mir: ist das deutsch geredet? Welcher Deutsche verstehet solches? Was ist Überfluß des Herzens für ein Ding? Das kann kein Deutscher sagen, es sei denn, er wollte sagen es bedeute, daß einer ein allzu groß Herz habe oder zu viel Herz habe; wiewohl das auch noch nicht recht ist. Denn ‘Überfluß des Herzens’ ist kein Deutsch, so wenig als das Deutsch ist: Überfluß des Hauses, Überfluß des Kachelofens, Überfluß der Bank, sondern s o redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Das heißt gutes Deutsch geredet, des ich mich beflissen und leider nicht allwege erreicht noch getroffen habe. Denn die lateinischen Buchstaben hindern über die Maßen sehr, gutes Deutsch zu reden“ (Sendbrief, S. 21f).

Von LUTHERLuther stammt die BezeichnungBezeichnung „Verdeutschen“, mit der er sein Übersetzungsprinzip umreißt.2 Eine solche Übersetzung ist dann sinngemäß, „frei“. Natürlich kann eine solche Einstellung immer auch zu Fehlleistungen führen, wie das gängige Diktum „traductions – les belles infidèles“ andeutet.3Originals. Ausgangstext Dagegen wirkt eine Übersetzung, die sich wort„getreu“ an der FormForm der Vorlage orientiert, meist „verfremdend“, weil sie für den zielsprachlichen LeserLesers. Empfänger befremdlich, fremdartig wirkt; es ist nicht „seine Sprechweise“. Aus diesem Spannungsverhältnis ist das Bedürfnis nach der Festlegung gültiger Maximen des Übersetzens entstanden.

Wie ein roter Faden zieht sich seither die Auseinandersetzung über die Methode der übersetzerischen Tätigkeit durch die Geschichte der ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie. Im deutschen Sprachraum hat sie sich in den beiden einander entgegenstehenden Grundforderungen nach „wörtlicher, getreuer, verfremdender Übersetzung“ einerseits und nach „freier, eindeutschender Übersetzung“ andererseits verdichtet. Schon Hieronymus beschrieb das Dilemma (Epistel, S. 2):

Es ist schwierig, nicht irgend etwas einzubüßen, wenn man einem fremden Text Zeile für Zeile folgt, und es ist schwer zu erreichen, daß ein gelungener AusdruckAusdruck in einer anderen SpracheSprache dieselbe Angemessenheit in der Übersetzung beibehält. Da ist etwas durch die besondere BedeutungBedeutung eines einzigen Wortes bezeichnet: in meiner Sprache habe ich aber keines, womit ich es ausdrücken könnte, und, während ich den SinnSinn zu treffen suche, muß ich einen langen Umweg machen und lege kaum ein kurzes Wegstück zurück.

In diesen frühen Äußerungen zum ÜbersetzenÜbersetzen folgte praktisch die TheorieTheorie aus der PraxisPraxis als deren Begründung. Solche einzelfallbezogenen Hinweise dokumentierten die Übersetzungsschwierigkeiten des jeweiligen Übersetzers und zeigten den von ihm gewählten Lösungsweg auf. Das ist aber noch keine ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie.

Auf der Suche nach einer „Regel des Übersetzens“ gab es immer wieder allgemein gefasste Grundprinzipien als übersetzerische Zielvorstelllung, die freilich in ihrer Allgemeinheit wenig über das tatsächliche Vorgehen im Einzelfall aussagen. Im 18. Jh. ist Alexander TYTLERTytler (1791) zu nennen. Als Grundvoraussetzungen für eine gute Übersetzung forderte er, was unwiderleglich ist: Kenntnis beider Sprachen, Einblick in die angesprochene Sache, Stilsicherheit und ein Verständnis der Mitteilungsabsicht des Autors. Das Verhältnis von TextvorlageTextvorlages. Ausgangstext, AS, Original und Übersetzung fasste er bündig zusammen4Tytler:

I. That the translationTranslation should give a complete transcript of the ideas of the original work. II. That the style and manner of writing should be of the same character with that of the original. III. That the translation should have all the ease of the original composition.

Kommentar

Seit jeher haben Übersetzungen zwischen den Völkern vermittelt. Frühe ÜbersetzerÜbersetzer begründen zwar ihre Methode, doch es gelingt noch nicht, das ÜbersetzenÜbersetzen als eine spezifische SprachverwendungSprachverwendungs. Sprachgebrauch theoretisch zu fassen und wissenschaftlich zu beschreiben. Die zahlreichen Anmerkungen zum Übersetzen kreisen im Grunde immer um den grundsätzlichen Streit zwischen der abbildend-wörtlichen und der sinngemäß-übertragenden, also der „treuen“ und der „freien“ Übersetzung, was vielleicht mit einzelnen Beispielen belegt, aber nicht stringent theoretisch begründet wird.

Als Faustregel lehrte man lange Zeit, und im schulischen Fremdsprachenunterricht teilweise bis heute, man solle „so wörtlichwörtlich wie möglich und so frei wie nötig übersetzen“, wobei dies eigentlich ein Zirkelschluss ist. Man könnte also sagen, dass sich, sobald die PraxisPraxis nicht mehr reibungslos funktioniert, ein BewusstseinBewusstsein der jeweiligen Problematik entwickelt. Einsichten werden beschreibend zusammengefasst, jedoch handelt es sich hierbei noch nicht um eine ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie.

Lektürehinweise

HIERONYMUS: „Epistel an Pammachius“, in: Hans J. STÖRIGStörig (Hrsg.) (1969): Das Problem des Übersetzens, S. 1–13.

Werner KOLLERKoller (1992, 82011): Einführung in die Übersetzungswissenschaft. 4. erw. Aufl., Tübingen; besonders Kapitel 1.2.

Martin LUTHERLuther: „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530), in: Hans J. STÖRIGStörig (Hrsg.) (1969): Das Problem des Übersetzens, S. 14–32.

Astrid SEELESeele (1995): Römische Übersetzer – Nöte, Freiheiten, Absichten. Darmstadt.

Hans J. STÖRIGStörig (Hrsg.) (1969): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt.

Der Blick auf die Sprachsysteme
2 Relativistisch orientierte Theorien

Die deutsche Romantik betonte den eigentümlichen Geist der SpracheSprache und sah das ÜbersetzenÜbersetzen künstlerischer Werke als nur unvollkommen möglich. Die SprachinhaltsforschungSprachinhaltsforschung betrachtet die Sprachen als geschlossene Systeme und gelangt zum linguistischen RelativitätsprinzipRelativitätsprinzip der unüberwindlichen Strukturverschiedenheit. Die Dekonstruktion untersucht die Sprachstrukturen als Spiegel des Unbewussten, der Wortsinn flottiert. Die Folge all dessen ist Unübersetzbarkeit.

2.1 Einheit von SpracheSprache und DenkenDenken (HumboldtHumboldt)

Bis ins 19. Jahrhundert wurde nur das ÜbersetzenÜbersetzen der Heiligen Schrift und literarischer Kunstwerke als anspruchsvolle Aufgabe angesehen, die eine theoretische Erörterung überhaupt lohnt. Für die heiligen Schriften galt weiterhin wegen der Unantastbarkeit der Wortfolge die Interlinearversion (s. Kap. 1.3), und sonst legte man eine allgemeine Übersetzungsmaxime, eine Art idealer TreueTreue zum Originaltext und zum AutorAutors. Sender zu Grunde: oberstes Gebot war stets, die Stimme des Autors zu Gehör zu bringen. Dahinter steckt aber eine bestimmte Vorstellung vom „Geist der SpracheSprache“, die besonders in der deutschen Romantik formuliert wurde.

Wegweisend für dieses DenkenDenken war Wilhelm von HUMBOLDTHumboldt (1767–1835), der in der Einleitung1Störig zu seiner Übersetzung von Aeschylos’ Agamemnon (1816) feststellt, ein solches Werk sei „seiner eigenthümlichen Natur nach“ unübersetzbar (ebd.:80). HUMBOLDT sieht das Denken in Abhängigkeit von der MutterspracheMuttersprache: „Die SpracheSprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nicht identisch genug denken.“2Humboldt Sich eine Sprache aneignen, in eine KulturKultur hineinwachsen heißt, die Wirklichkeitsauffassungen und die Sprache, in der diese Kultur tradiert wird, zu übernehmen. Die Sprache ist kein beliebig austauschbares Anhängsel der Identität, sondern grundlegend für die je besondere Erfassung von Welt, für ihre Beschreibung und ihr VerstehenVerstehen durch den Einzelnen. Hierauf gründet die Vorstellung von der UnübersetzbarkeitUnübersetzbarkeit, die natürlich besonders für dichterische Texte geltend gemacht wird. HUMBOLDT3KollerHumboldt sagt:

Alles ÜbersetzenÜbersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Auflösung einer unmöglichen Aufgabe. Denn jeder ÜbersetzerÜbersetzer muß immer an einer der beiden Klippen scheitern, sich entweder auf Kosten des Geschmacks und der SpracheSprache seiner Nation zu genau an sein OriginalOriginals. Ausgangstext oder auf Kosten seines Originals zu sehr an die Eigentümlichkeiten seiner Nation zu halten. Das Mittel hierzwischen ist nicht bloß schwer, sondern geradezu unmöglich.

Der Grund für die Unmöglichkeit liegt in der Verschiedenartigkeit der Einzelsprachen, weil „kein Wort einer SpracheSprache vollkommen einem in einer andren Sprache gleich ist“, und dies gründet in der Identität von Sprache und DenkenDenken:

Ein Wort ist so wenig ein Zeichen eines Begriffs, dass ja der BegriffBegriff ohne dasselbe nicht entstehen, geschweige denn fest gehalten werden kann; das unbestimmte Wirken der Denkkraft zieht sich in ein Wort zusammen, wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen (Einleitung, S. 80).

HUMBOLDTS für die ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie eher pessimistische Vorstellung, dass der Gedanke mit der RedeRedes. parole eins sei, hat fortgewirkt, wenn es im Großen Brockhaus von 19804 zum ÜbersetzenÜbersetzen heißt:

Wenn SpracheSprache und Gehalt eine Ganzheit bilden – das gilt für dichter. Kunstwerke so gut wie für das alltäglich in individueller, bes. auch mundartlicher Färbung Gesprochene –, kann jede Ü. nur eine möglichst starke Annäherung an das OriginalOriginals. Ausgangstext sein. Freie Ü. oder Nachdichtung ist der Versuch, das OriginalOriginals. Ausgangstext im anderen sprachl. Medium gleichsam neu zu erschaffen.