Sora

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R. R. Alval

Sora

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

Epilog

Impressum neobooks

1

Mein Name ist Sora. Ich bin ein Mensch. Ein freier Mensch. Noch. Sollten sie mich irgendwann entdecken, werde ich es nicht mehr sein.

Wie die Millionen anderen Menschen, die diese Erde besiedeln – einst mit freiem Willen.

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, in welchem Jahr die Grauen gekommen waren. Wie lange es her war. 15 Jahre? Mehr? Nur, dass es Silvester gewesen war. Bis heute weiß ich nicht, ob sie lautlos kamen oder mit Getöse. Die Knallerei, um die bösen Geister zu vertreiben, während man feuchtfröhlich das neue Jahr begrüßte, war zu laut gewesen. Böse Geister, dass ich nicht lache. Ja, die Knaller hatten die Geister verscheucht. Gute wie Böse. Den Stoßdämpfer zwischen den Welten. Er war zerplatzt wie eine Seifenblase und hatte die Grauen auf die Menschheit losgelassen. Es war bloß eine Vermutung, aber von irgendwo mussten sie gekommen sein. Die Menschen waren unvorbereitet, ahnungslos und hilflos wie Babys gewesen, die sich plötzlich einem T-Rex gegenüber sahen. Leider hatten wir sehr schnell erkennen müssen, dass wir chancenlos waren. Wir nannten sie die Grauen; wegen ihres Äußeren. Keine Ahnung, was sie waren. Dämonen vielleicht. Nichts fühlende Kreaturen, die nach den Seelen der Menschen gierten. Nicht, weil sie sich von denen ernährten. Seelen stellten für sie Müll dar. Eine Sache, derer man sich entledigen musste, um dienende Marionetten zu erhalten. Leere menschliche Hüllen, die sie mit ihrer eigenen Essenz füllten. Puppen. Mit toten Augen und penetranten Körpergerüchen, da die Grauen ihre Nase entweder nur zur Deko benutzten oder keine Gerüche wahrnahmen. Körperpflege war für die Leeren – so nannten wir seelenlose Menschen – etwas, das nicht zu ihren Aufgaben zählte. Ebenso wenig wie schlafen. Dementsprechend rochen sie und sahen sie aus. In den letzten Jahren war ich erwachsener geworden, als ich es vorher je hätte werden können. Ausgestattet mit dem Instinkt zum Überleben. Dem eines Raubtiers. Fressen oder gefressen werden. So einfach war das. Und doch unendlich komplizierter. Schon mal eine Waffe in der Hand gehalten? Und damit jemanden getötet? In meinem Leben vor den Grauen – und vor der Geburt meiner Tochter – hatte ich in der Bank gearbeitet. Am Schalter. Ich hatte mit Kunden zu tun gehabt, mit Geld, mit Zahlen. Aber nicht mit Waffen. Schön wäre es damit zu prahlen, dass wir Menschen damit die Grauen erledigten. Das war nicht der Fall. Damit töteten wir die Leeren. Sie mochten keine Seele mehr haben, aber sie bluteten wie jeder andere Mensch auch. Und sie stießen auch eben solche Schmerzensschreie aus. Die meisten. Mein erster Toter war ein Unfall gewesen. Meine Waffe ein Kugelschreiber. Eine komische Wahl, ich weiß. Doch es war die einzige Möglichkeit gewesen, mir dieses seelenlose, stinkende Wesen vom Leib zu halten. Ich hatte um mich geschlagen und schließlich den erstbesten Gegenstand gegriffen, der mir in die Hände geraten war. Ich hatte ihn durch das linke Auge direkt bis in sein Gehirn getrieben. Er war fast augenblicklich tot gewesen. Richtig tot. Mein Herz hatte dermaßen gerattert und gepoltert, dass ich vor Panik fast umgefallen wäre. Statt umzufallen, hatte ich mich übergeben.

„Siehst du was?“ Wolf, der große Mann hinter mir, hatte seine Stimme gesenkt, während er die Straße hinter uns im Auge behielt. Früher war er beim Militär gewesen. Jetzt… gehörte er – genau wie ich – zu den letzten Überlebenden. Es gab nicht mehr viele von uns; von den Menschen mit Seele.

„Nein.“ Die Straße vor uns war leer. „Dann los.“ Wir liefen leise den Gehweg entlang. Immer dicht an den Häusern, die größtenteils leer standen und eine Gefahrenquelle darstellten. Aber immer noch besser, als direkt auf der Straße zu laufen. So hatten wir zumindest eine kleine Möglichkeit, ungesehen unsere wöchentlichen Besorgungen zu erledigen. Es war in den letzten Jahren schwieriger geworden. Aber irgendjemand musste Nachschub besorgen. Dabei wechselten wir uns ab, wobei Wolf und ich immer gemeinsam gingen. In seiner Gegenwart fühlte ich mich ein bisschen sicherer.

Obwohl es zweifelsohne eine Illusion war.

Die Leeren hatten sich weiterentwickelt.

Anfangs hatte es nur eine Art von ihnen gegeben: Die Arbeiter. Sie sorgten dafür, dass es den Grauen an nichts mangelte. Fast könnte man meinen, der Alltag hätte für sie nie aufgehört zu existieren. Sie waren größtenteils harmlos, obwohl sie jederzeit die Aufmerksamkeit eines Grauen auf uns lenken konnten.

Dann waren die Produzenten dazu gekommen. Sie sorgten für Nachwuchs. Nur, weil sie keine Seele mehr besaßen, hieß das nicht, dass sie sich nicht vermehren konnten. Ich hatte mich mehr als einmal gefragt, ob sie sich aus freiem Antrieb vermehrten und wie sie die Kinder versorgten. Gesehen hatte ich bisher keine. Das wir überhaupt von ihnen wussten, war Zufall. Eine Gruppe von unseren Leuten war in einen Wohnblock eingebrochen. Sie hatten dort alles mitgehen lassen, was sie tragen konnten und nicht niet- und nagelfest war. Dabei waren sie über die Schwangeren gestolpert. Die vielen Schwangeren. Nicht nur zwei oder zehn. Hunderte! Sie hatten sie von ihrem Elend erlöst. Das mochte unmenschlich klingen, war in meinen Augen jedoch unvermeidlich. Trotz der ungeborenen Leben. Das Schicksal, was denen blühte, war vorhersehbar gewesen.

Wir konnten leider auch mit Sicherheit davon ausgehen, dass es nicht das einzige dieser Brutnester gewesen war.

Ein paar Jahre später waren die Späher auf der Bildfläche erschienen. Nur kurz darauf die Soldaten. Die zwei Gruppen unterschieden sich sehr von den ersten. Voneinander allerdings auch.

Späher waren kleine, flinke, wendige Personen, die in der Lage waren, Menschen mit Seele zu erkennen und dies auf telepathischem Weg den Grauen mitzuteilen. Zumindest hatten wir sie nie mit einem Handy oder ähnlichem gesehen.

Wo ein Späher war und einen Menschen entdeckte, der nicht zu deren System gehörte, tauchte unweigerlich ein Soldat auf. Die waren die gefährlichsten. Hochintelligent. Schnell. Stark. Einmal von einem als Ziel erfasst, war es unmöglich zu entkommen. Warum es diese Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen gab, hatten wir bisher nicht herausfinden können. Dafür gab es unzählige Spekulationen.

Fakt war: Die ersten beiden Unterarten der Leeren atmeten, bewegten sich und verrichteten ungefragt ihre Arbeit. Ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich ein Leben bezeichnen sollte, bei dem alles von anderen gelenkt wurde. Ob ich es überhaupt Leben nennen durfte.

Die zwei letzteren Unterarten trafen jedoch Entscheidungen. Entwickelten Strategien. Verständigten sich – sowohl untereinander als auch mit den Grauen. Und da bisher vier Unterarten existierten, würde es nicht lange dauern, bis eine fünfte auftauchte. Dann eine sechste…

„Alles sauber, Sora. Weiter.“ Wolf hatte inzwischen die Führung übernommen. Noch zwei Straßen und wir wären am Ziel. Blöd, dass wir auch wieder zurück mussten. Ungesehen und vor allem bepackt bis zum Umfallen. Plus natürlich unserer Waffen, die unsere halbe Lebensversicherung darstellten. Die andere Hälfte war Glück. Denn die Soldaten waren durch Kugeln weder zu beeindrucken noch lange aufzuhalten. Sie empfanden keinen Schmerz, und sie trugen keine bleibenden Schäden davon. Sie heilten. Mit rasender Geschwindigkeit.

Noch eine Straße. Ich konnte die Lagerhalle bereits sehen.

Plötzlich riss Wolf seine linke Hand mit geballter Faust nach oben. Scheiße! Wurden wir erwartet? Späher? Dabei planten wir unsere Touren immer zufällig. Den Ort, die Zeit, den Tag. Immer anders. Unvorhersehbar. Theoretisch. Wolf wich einen Schritt zurück, drehte sich zu mir um, hielt vier Finger in die Luft, strich sich angedeutet über den Hals und streckte die Hand in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Sofortiger Rückzug. Ich müsste daran gewöhnt sein. Wir lebten tagtäglich in Angst vor der Entdeckung. Egal wo. Trotzdem klopfte mein Herz bis zum Hals. Lautlos bewegten wir uns zurück. Rücken an Rücken. Ich behielt die Straße vor mir im Auge – Wolf alles hinter mir. Wir hatten das schon unzählige Male durchgezogen. Der steigende Adrenalinspiegel peitschte mich vorwärts. Bloß nicht rennen. Wir mussten lautlos sein. Rennen verursachte Geräusche. Sei es vom Luftholen oder von den Schuhen. Ein Stein auf dem Fußweg. Das Rascheln von Kleidung. Und im Moment trugen wir dicke Winterkleidung. Wenigstens lag kein Schnee. „Sora, nimm die Beine in die Hand und lauf. Ich bleibe hier.“ Wolf warf mir seine Waffe zu. Entsetzt sah ich ihn an. „Was? Aber wir können es noch schaffen.“ „Sie sind zu viert, Sora.“ Ich war eine ebenso gute Schützin wie er. Für jeden zwei. Die Soldaten regenerierten sich zwar, brauchten dafür aber ein paar Sekunden. Wenn wir die Köpfe trafen, umso besser. Zeit genug, für uns die Biege zu machen. „Es sind Graue, Sora. Du weißt, dass sie unseren Seelen folgen wie ein Leuchtfeuer. Wir würden sie direkt nach Hause führen.“ „Aber…“ Scheiße, Scheiße, Scheiße… Verdammt nochmal! „Lauf! Wir haben keine andere Wahl. Du weißt das. Warne die anderen.“ Ich holte tief Luft und versuchte den Schmerz zu verbergen. Trotzdem konnte ich es nicht verhindern, dass mir eine Träne über die Wange rollte. „Sora, Mädchen, weinen kannst du später. Bring dich in Sicherheit.“ Ich ließ ihm das ‚Mädchen‘ durchgehen. Vielleicht, weil er mein Vater sein könnte. „Mach‘s gut, Wolf.“

 
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