Read the book: «Gipfelkuss»

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Philipp Probst

GIPFELKUSS

Die Reporterin am Piz Bernina


Die Herausgabe dieses Buches

wurde unterstützt durch:

SWISSLOS/Kulturförderung, Kanton Graubünden

Gemeinde St. Moritz

© 2021 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen,

fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger

und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel

Gesetzt in Arno Pro Regular

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-291-5

ISBN e-Book 978-3-85830-295-3

www.orteverlag.ch

Inhalt

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

PROLOG

Würde er es noch schaffen?

Carlo nippte an seinem Bier und blinzelte in die Sonne. «Viva», prostete er sich selbst zu. Nach der Tour, nach der Anstrengung, wenn er so richtig durstig war, gab es für ihn nichts Schöneres als ein kühles Bier. Heute war er auf den Munt Pers gestiegen und sass nun auf der Sonnenterrasse der Bergstation Diavolezza, der Teufelin. Er stellte das Glas auf den Holztisch, wischte sich mit dem Handrücken über den grossen, weissen Schnurrbart, setzte die Sonnenbrille auf und betrachtete das Panorama: Der imposante Piz Palü mit seinen drei Gipfeln auf der linken Seite, der über 4000 Meter hohe Piz Bernina mit dem weissglänzenden Firngrat, dem Biancograt, auf der rechten. Und dazwischen der Pers- und der Morteratschgletscher.

Würde er es noch schaffen?

Diese Frage quälte ihn. Eine Antwort könnte er nur finden, wenn er es versuchen würde. Er war sein Leben lang in den Bergen unterwegs gewesen, hatte seine Hausberge Piz Palü und Piz Bernina oft bestiegen. Wie oft eigentlich genau? Carlo wusste es nicht. Es müssten hunderte Male gewesen sein. So oft es in einem ausgefüllten Bergführerleben eben möglich war.

Ein Leben, das es nicht mehr gab.

Vor acht Jahren war er zum letzten Mal auf dem Piz Bernina. Das war an seinem 65. Geburtstag. Als er am Abend ins Tal zurückkehrte, war er Rentner. Bergführer-Rentner. Und auch Bergsteiger-Rentner. Er hatte es seiner Frau versprochen. Benedetta war eine gläubige Italienerin und hatte ihm klargemacht, dass der Herrgott lange genug seine schützende Hand über ihn gehalten habe.

So spazierte er oft mit seiner Frau den vier Engadiner Seen entlang, dem Silser- und dem Silvaplanersee, dem Lej da Champfèr und dem St. Moritzersee. Oder er ging durch den Stazerwald mit den mächtigen Arven- und Lärchenbäumen zwischen Pontresina und St. Moritz. Oder durchs romantische Fextal bei Sils im Engadin. In die Höhe wollte Benedetta nicht. Nicht einmal mit einer Seilbahn. Die über 1700 Höhenmeter des Oberengadins waren ihr seit jeher hoch genug.

Also ging Carlo alleine in seine hochalpine Bergwelt, musste seiner Frau aber versprechen, auf den markierten Bergwegen zu bleiben. Er hielt sich daran. Meistens. Hin und wieder ein kleiner Abstecher auf den Morteratsch- oder den Persgletscher. Oder auf den Roseggletscher auf der anderen Seite des Piz Berninas. Das lag drin. Das blieb ein Geheimnis zwischen ihm und dem Herrgott.

Der Herrgott hatte schliesslich noch anderes zu tun, als Benedetta über die kleinen Sünden ihres Ehemanns zu informieren. Gott würde ihm verzeihen. Schliesslich hatte sich Carlo ein Leben lang bei seinen Expeditionen nicht nur auf sein Wissen und seine Erfahrung verlassen, sondern auch auf seine Intuition, die er als göttliche Eingebung verstand. Natürlich war auch er am Berg in gefährliche Situationen geraten, alleine oder mit seinen Gästen, aber einen schlimmen Unfall hatte er nie erleben müssen.

Vor allem wenn der Piz Bernina mit dem Biancograt auf seinem Programm stand, hörte er auf die göttliche Stimme. Und so brach Carlo eine Tour auch einmal vorzeitig ab. Nicht von ungefähr wird der Biancograt, dieser schmale Grat zum Piz Bernina, auch Himmelsleiter genannt. Carlo verstand diese Bezeichnung immer zweideutig: Die Leiter führte die Menschen nicht nur zum Piz Bernina, sondern nahe zum Himmel – oder in den Himmel hinein. Schon viele Bergsteiger waren am Biancograt ums Leben gekommen.

Obwohl Carlo keineswegs so religiös war wie seine Frau, hatte er Ehrfurcht. Ehrfurcht vor Gott. Vor der Natur. Bei jedem Gipfelerfolg hatte er sich bekreuzigt und Gott gedankt.

Carlo trank sein Bier aus. Er stand auf und ging zu den Liegen. Er humpelte. Das rechte Knie schmerzte. Fürchterlich. Tausend Nadelstiche. Dieses blöde Knie! Es war der wahre Grund, dass er es nicht mehr schaffte. Dass er weder den Palü noch den Bernina besteigen könnte. Besteigen vielleicht schon. Aber wie würde er wieder hinunterkommen? Mit dem Helikopter? Wie erbärmlich. Nein, nein und nochmals nein. Es war vorbei. Ein künstliches Kniegelenk? Das kam nicht in Frage. Carlo hatte Respekt vor dem Herrgott, vor den Bergen und vor Benedetta. Aber Angst – Angst hatte er vor dem Zahnarzt, dem Doktor und dem Krankenhaus.

Hinauf würde er es schaffen. Hinunter nicht. Es war vorbei.

Carlo machte es sich auf der Liege bequem, nahm die Sonnenbrille ab und schloss die Augen.

Er sah diese beiden Damen vor sich. Eine hatte braune, leicht gewellte Haare und grosse, dunkelbraune Augen. Wenn sie lachte, bekam sie ein Grübchen in ihrer rechten Wange. Sie war Fotografin und machte eine Reportage über die zweite Frau, wie sie den Piz Bernina eroberte. Eine zierliche Blondine mit hellgrünen Augen, die auf den ersten Blick etwas giftig wirkten.

Beide hatte er sie an seinem Seil. Er war ihr Bergführer. Die Frauen vertrauten ihm. Und er hatte alles im Griff. Die Sonne ging auf. Was für ein Schauspiel. Die Brünette fotografierte immer wieder die Blondine. Diese wollte auch unbedingt ein Selfie und ein Gruppenfoto machen. So stand er also mit den beiden Frauen Arm in Arm kurz vor Beginn des Biancograts, diesem weltbekannten, geschwungenen Firngrat aus Schnee und Eis, und hielt die beiden Damen in seinen Armen, schaute ins Handy, lächelte und liess seine weissen Zähne blitzen.

Dann drängte er darauf weiterzugehen. Unter ihnen kam bereits die nächste Seilschaft. Diese machte ihm aber keine Sorgen. Eher die Wolken am Südhimmel. Die Wetterprognosen waren zwar nicht schlecht, doch diese Wolken gefielen ihm nicht. Ganz und gar nicht, denn sie zogen über den Bernina hinweg Richtung Norden. Eine alte, rätoromanische Wetterregel besagte: «Cur cha’l nüvel vo vers Vuclina, schi mett’il chapè sün pigna; cur cha’l nüvel vo vers Tavo, schi mett’il chapè sül cho. – Zieht die Wolke gegen Veltlin, dann lass den Hut auf dem Ofen liegen; zieht die Wolke gegen Davos, dann setz den Hut auf den Kopf.» Gut möglich also, dass ein Sturm aufzog.

Carlo kannte die beiden Frauen nicht. Er wusste nur, dass die eine Reporterin war, die andere irgendeine Prominente. Nichts Aussergewöhnliches. Er hatte schon etliche Touren mit Fotoreportern gemacht. Auch mit Prominenten. Die Hintergründe dieser Menschen interessierten ihn nicht. Seine Aufgabe war es, sie sicher auf den Gipfel und ins Tal zurückzubringen. Ein ganz normaler Job. Aussergewöhnlich war lediglich, dass kein Mann dabei war. Wenn Benedetta das wüsste! Dass er mit zwei jungen Frauen unterwegs war, nein, das hatte er natürlich nicht gesagt. Offiziell war er mit einer Gruppe unterwegs. Zwei Personen waren eine Gruppe. Er hatte nicht gelogen.

Die Frauen schwächelten. Das spürte er. Er müsste Eisschrauben anbringen und so seine Seilschaft sichern. Unbedingt. Rechts und links des Grats gab es nur Abgründe. Tödliche Abgründe. Die Wolken kamen sehr schnell näher. Carlo und die Frauen mussten sich wirklich beeilen. Denn der Abstieg über den Spallagrat würde nicht einfach sein. Und einen Sturm konnte er jetzt nicht gebrauchen. Also Schritt für Schritt weiter. Blick zurück. Alles schien in Ordnung zu sein. Doch sie kamen nur langsam voran. Zu langsam. Die untere Seilschaft näherte sich schnell. Und überholte.

War das nicht Benedetta, die da an ihm vorbeiging? Benedetta schaute ihn gar nicht an. Sie hielt nur ihren Rosenkranz in der Hand.

Ein weiterer Blick zurück. Die beiden Frauen, für die er verantwortlich war, stiegen langsam zu ihm hoch. Schritt für Schritt. Stetig vorwärts. Weiter. Wieder ein kurzer Kontrollblick nach hinten …

Carlo zuckte zusammen.

Die beiden Frauen waren nicht mehr da. Er zog nur das lose Seil hinter sich her.

Die Frauen waren einfach nicht mehr da.

Er schreckte auf. Die Sonne blendete. Wo war er?

«Carlo, willst du nicht nach Hause gehen?»

Er öffnete die Augen und schaute in das rundliche Gesicht der polnischen Serviceangestellten des Berggasthauses Diavolezza, mit der er immer ein bisschen flirtete. «Wie spät ist es?», fragte Carlo mit seiner rauen, etwas krächzenden Stimme.

«Du hast geträumt, mein Lieber», sagte die Polin mit ihrem charmanten Akzent und strich ihm sanft über die weissen Haare. «Die letzte Seilbahn fährt bald.»

Carlo fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte nur geträumt.

Würde er eine solch schwierige Bergtour noch einmal schaffen?

Vielleicht. Aber die Frage stellte sich nicht mehr. Sie war durch diesen Albtraum gerade beantwortet worden. Der Herrgott hatte sie für Carlo beantwortet.

1

Sie war nackt. Und sie schwitzte. Ihre Brüste schmerzten. Ihr Bauch rumorte. Ihre Lippen waren spröde. Ihr Hals kratzte. Sie bekam keine Luft.

Marcel lag neben ihr und schlummerte friedlich. Selma stand auf, ging auf Zehenspitzen zum Fenster und öffnete es. Sie genoss den herrlichen Ausblick vom dritten Stock ihres Hauses «Zem Syydebändel» auf das nächtliche Basel und den schwarzen Rhein. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet, der Wasserstand war tief. Selma lehnte sich aus dem Fenster und spürte einen schwachen Luftzug. Sie genoss es, wie die leichte Brise durch ihre dunkelbraunen, halblangen, gewellten Haare fuhr.

Sie ging zurück, setzte sich auf die Bettkante und schaute sich um. Ihre Kleider waren im ganzen Zimmer verstreut. Die Espadrilles mit hohem Keilabsatz lagen auf dem Boden, die kurze Jeanshose ebenso, die weisse Bluse hing am Schlüssel des Kleiderschranks, String und BH lagen neben der Nachttischlampe. Selmas Haut war klebrig. Ich muss schrecklich aussehen! Zum Glück habe ich keinen Spiegel im Zimmer, dachte sie. Es gibt doch tatsächlich Menschen, die einen Spiegel im Schlafzimmer haben. Einen Wandspiegel oder einen Spiegelschrank. Oder sogar einen Spiegel an der Decke. Wie kann man nur? Sich selbst nackt sehen? Sich alle Problemzonen vor Augen führen? Sich beim Sex zuschauen? Himmel!

Sie legte sich zurück zu Marcel, schloss die Augen, öffnete sie kurz darauf wieder und starrte an die weisse Decke mit den Stuckaturen. Sie begann, die Ornamente, Röschen und Blätter zu zählen. Obwohl sie aus anderen schlaflosen Nächten wusste, wie viele es waren.

Sie zählte nicht lange. Nicht, weil sie einschlief. Selma nervte sich. Es war einfach zu stickig im Zimmer. Und es roch anders als sonst. Es roch nach Mann. Das war zwar nicht grundsätzlich falsch, aber bei dieser Hitze einfach zu aufdringlich. Selma stand erneut auf, schlich ins Wohnzimmer und öffnete das Fenster zum Totentanz, dem kleinen Park mit der Predigerkirche vor ihrem Haus. Sie beobachtete die Blätter an den Bäumen des kleinen Parks. Sie bewegten sich kaum.

Eine kalte Dusche könnte helfen. Dann würde aber ihre Freundin Lea wach, die eine Etage unter ihr im zweiten Stock wohnte. Und auch Mama Charlotte im ersten Stock würde aufgeweckt werden. Schliesslich zischten die Wasserleitungen in diesem alten Haus ziemlich laut. Und weil kein Mensch um halb zwei Uhr morgens duschte, würden beide wissen, dass sie Sex gehabt hätten. Marcel und sie. Also Marcel mit ihr. Also Marcel. Sie hatte … Was hatte sie eigentlich? Klar, sie hatte mitgemacht, alles bestens, alles gut. Marcel war plötzlich so leidenschaftlich geworden. Sie wollte keine Spielverderberin sein, es war doch schön, dass er sie begehrte. Aber es war nicht so wie bei ihrem ersten Mal kurz vor Weihnachten in Engelberg.

Nein, ihr Liebesleben war nicht mehr so prickelnd. Und das machte Selma traurig. Was war passiert?

Zu gross die Frage. Selma schlüpfte in ihren Slip. Sie schloss die Schlafzimmertüre, verliess ihre Wohnung und stieg in die Mansarde, wo sie ihr Atelier hatte. Sie packte die Staffelei und trug sie die schmale Holztreppe hinauf auf die Dachterrasse. Dann holte sie Farben, Pinsel, Spachtel, die Palette, etwas Wasser und einen Lappen, schliesslich eine Leinwand und einen Hocker. Sie setzte sich, schaute hinauf zum Sternenhimmel und atmete tief durch. Hier draussen war die Luft einiges kühler als in der Wohnung.

Sie hörte leise das Rauschen des Rheins. Ein beruhigendes Geräusch. Selma schüttelte ihre Haare, tunkte den Pinsel in die blaue Farbe, tupfte ein bisschen Weiss dazu und begann, die Leinwand zu grundieren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Jetzt fröstelte sie. Wie damals in der Gletscherspalte auf dem Titlis.

«Liebste, du malst!»

Selma erschrak, drehte sich reflexartig um, sah Marcel – und musste laut herauslachen.

«Okay, du lachst», sagte Marcel trocken. «Lachen ist gesund. Psychohygiene und so.»

«Natürlich, mein …» Selma konnte sich kaum mehr erholen. «Mein Hobbypsychologe.»

«Psychologe ausser Dienst, ich bitte dich», sagte Marcel. «Also immer noch studierter Psychologe, aber als Tram- und Buschauffeur tätig.»

Selma wurde von ihrem Gelächter durchgeschüttelt.

«Warum lachst du eigentlich? Lachst du über mich?»

«Nein, natürlich …» Wieder prustete Selma drauflos.

«Also doch. Erkläre mir bitte, was an mir so lustig ist.»

Selma legte den Pinsel beiseite, putzte ihre Hände an einem Lappen ab, tätschelte ihre Wangen und versuchte, ein ernsthaftes Gesicht zu machen. Doch es half alles nichts. Sie musste schon wieder grinsen und Marcel ihr Grübchen in der rechten Wange präsentieren. Dabei zeigte sie auf Marcels Unterleib.

Jetzt sah er es auch. Er trug diese Unterhose mit dem tränenlachenden Smiley verkehrt herum, das Lachgesicht war nicht hinten, wo es hingehörte, sondern vorne. Selma hatte ihm diesen Slip bei einer gemeinsamen Shoppingtour gekauft. Marcel hatte sich aber immer geweigert, ihn anzuziehen. Bis heute.

«Sehr witzig», sagte Marcel. «Ich habe einfach in die Schublade gegriffen und nicht auf das Muster geachtet.»

«Excusé, das sieht einfach zum Schreien aus», sagte Selma, «ein Lachsack vor deinem … du weisst schon!» Und dann musste sie nochmals laut herauslachen und nach Luft schnappen. Sie hielt sich den Bauch.

Marcel strich ihr sanft über die rechte Wange mit dem Grübchen, neigte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich auf den Mund. Dann schaute er ihr lange in die Augen. «Du bist wunderschön», flüstere er.

Selma fuhr mit der Hand durch Marcels kurze, schwarze Haare. Dann schnappte sie sich ein Kissen von einem der beiden Liegestühle und reichte es Marcel: «Setz dich neben mich auf den Boden. Wir malen zusammen.»

«Wir malen zusammen?», fragte Marcel erstaunt.

«Ja, Liebster», hauchte Selma.

«Ich durfte dir noch nie zuschauen, wenn du malst. Was ist denn …»

Selma hielt ihren Zeigefinger auf Marcels Mund. Marcel legte das Kissen neben Selma auf den Bretterboden der Dachterrasse, setzte sich und lehnte seinen Kopf gegen Selmas nackten Oberschenkel. «Stört dich das?»

Selma gab ihm einen Kuss und sagte: «Nein, es ist schön.» Dann nahm sie die Palette und den Pinsel und begann, alle möglichen Blautöne auf die Leinwand aufzutragen. Das Bild wurde immer kälter, düsterer, bedrohlicher.

Selma versank in ihrer Malerei. Das leise Rauschen des Rheins wurde lauter. Es verwandelte sich in das Tosen des Bachs, der tief unten in diesem schwarzen Loch des Gletschers zu hören gewesen war, in das Selma gefallen und erfroren wäre, hätte sie nicht das Seil der Skifahrer ergreifen und sich retten können.

Sie bekam Hühnerhaut. Was war das für eine abenteuerliche Geschichte damals in der Vorweihnachtszeit. Die Reportage über die verrückten Freerider in Engelberg, ihr Sturz in die Spalte auf dem Titlisgletscher, die Lawine. Und natürlich ihre Begegnung mit den Wölfen.

Ihr Auftraggeber Jonas Haberer hatte recht behalten: Selmas Fotos des jungen Wolfspaares aus dem Engelbergertal liessen sich erfolgreich verkaufen. Selma gab Interviews für Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen. Sie war ein kleiner Star geworden. Drei Mal war sie nochmals nach Engelberg gefahren, um die Wölfe zu suchen. Aber sie hatte sie nicht mehr gefunden. Niemand hatte sie noch einmal gesichtet. Das kleine Rudel war weitergezogen.

Selma dachte oft an die Wölfe. Sie malte sie. Auch mit ihrem Nachwuchs, den die Tiere nun sicher hatten. Selma hatte alle möglichen Szenen gemalt: Die Wölfe beim Kuscheln in einer Höhle, beim Spielen, bei der Jagd. Ihre Gemälde waren manchmal realistisch, oft jedoch abstrakt. Selma liebte es, in ihren Werken eine Stimmung auszudrücken und die Wölfe nur anzudeuten. Eine Schnauze, ein Augenpaar, Pfoten.

Bis heute hatte Selma nur noch Wolfsbilder gemalt. In den letzten Monaten hatte sie Zeit dazu. Es herrschte Flaute, Aufträge für grosse Reportagen blieben aus. Auch Werbeshootings gab es wenige. Selbst Tausendsassa Jonas Haberer kämpfte um neue Einnahmequellen. Er motivierte Selma, ein Buch mit ihren besten Wolfsfotos und ihren Wolfsgemälden zu machen. Selma malte und schrieb tage- und nächtelang. Es wurde ein schönes, ein spannendes Buch mit all ihren Erlebnissen. Bald würde es erscheinen.

Sie lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und betrachtete nun ihr eiskaltes Werk. Es schauderte sie. Am Horizont wurde es bereits hell. Die ersten Vögel piepsten.

Marcel war längst eingeschlafen.

2

«Rufe mich bei Gelegenheit an. LG Jonas.»

Diese WhatsApp-Nachricht fand die Reporterin auf ihrem Smartphone, als sie aus der Dusche kam. Nach ihrer nächtlichen Malaktion und nachdem Marcel zu seiner Schicht bei den Basler Verkehrs-Betrieben aufgebrochen war, hatte Selma doch noch schlafen können.

Sie rief ihren Auftraggeber Jonas Haberer gleich an.

«Ja, bitte?»

«Jonas!»

«Selma, du bist ja fix», sagte er mürrisch. «Braves Mädchen.»

«Was ist denn mit dir los? Kein fröhliches ‹Selmeli, mein Mäuschen, mein Myysli›?»

«Es ist zu heiss. Und dies schon um 10 Uhr morgens.»

«Ich habe gerade geduscht. Mir geht es wunderbar.»

«Du hast geduscht? Bist du etwa nackt?»

Selma war etwas verlegen. Sie war tatsächlich nackt. Zum Glück führte sie ein Telefonat und keinen Videoanruf. «Ja, ich bin nackt.»

«Selmeli!», schrie Haberer ins Telefon. «Das kannst du nicht machen, Kleines. Jetzt habe ich noch heisser.»

«Du hockst doch in Bern. Also spring in die Aare.»

«Selmeli, das machen Kinder und pensionierte Beamte.» Er prustete laut heraus. «Nein, nein», meinte er. «Dann fahre ich lieber nach Engelberg und hüpfe auf dem Titlisgletscher in eine Spalte. Aber im Gegensatz zu dir nehme ich Whisky mit. Dann habe ich Whisky on the rocks.» Wieder prustete Haberer drauflos.

Selma musste ebenfalls lachen, obwohl er diesen Scherz nach ihrem Sturz in den Gletscher schon einmal gebrachte hatte. Dann sagte sie: «Die Aare ist doch herrlich.»

«Wie der Rhein, nicht wahr?», sagte Haberer mit einem süffisanten Unterton.

«Oh, ja, einfach toll.»

«Du badest wirklich in dieser Kloake?»

«Aber natürlich. Vielleicht springe ich später noch hinein.»

«Selmeli, wie erbärmlich! Deine Frau Mama macht das sicher nicht. Sie muss sich schämen für dich.»

«Charlotte weigert sich tatsächlich im Rhein zu schwimmen. Sie hat noch die Zeiten erlebt, als der Rhein wirklich eine Kloake war. Oder besser gesagt: ein Abwasserkanal der Industrie.»

«Und Charlotte ist eine Dame von Welt. Sie hat Niveau. Ich passe wirklich besser zu deiner Mutter als zu dir, Liebes, es tut mir leid.»

«Ich werde es überleben, Jonas. Und meiner Mutter einen Gruss ausrichten.»

«Einen sehr lieben, bitteschön.» Er räusperte sich. So laut, dass Selma kurz das Telefon vom Ohr nehmen musste. «So ein eiskaltes Gläschen Aquavit mit Charlotte wäre jetzt nicht schlecht.»

«Also, Jonas, worum geht es?», fragte Selma und wollte endlich zum Geschäftlichen kommen. «Etwas Dringendes kann es ja nicht sein, schliesslich hast du mir geschrieben, ich solle dich gelegentlich anrufen.»

«Gelegentlich heisst bei mir innerhalb einer Viertelstunde, das solltest du wissen, Myysli. Bei mir ist immer alles dringend.»

«Also?»

«Ich habe einen neuen Auftrag.»

«Endlich», seufzte Selma erleichtert. «Ist auch an der Zeit.»

«Es geht um eine aussergewöhnliche Hochzeit.»

«Du suchst eine Hochzeitsfotografin?»

«Ja. Stinkreiches Mädchen heiratet stinkreichen Macho. Kohle ohne Ende. Deshalb ist das Honorar horrend. Es muss einfach die beste Fotografin der Welt sein.»

«Das bin ich nicht.»

«Wenn ich es sage, dann schon.»

«Jonas, ich fotografiere keine Hochzeiten», sagte Selma barsch.

«Auch wenn noch eine kleine Bergwanderung dabei ist und du extrem tolle Landschaftsbilder machen und vielleicht sogar Steinböcke, Gämsen, Wölfe und Bären fotografieren kannst? Und es für dich ein wahrlich grosses Abenteuer werden kann?»

«Wie meinst du das?»

«Selmeli, der Berg ruft!»

«Und die Hochzeitsglocken läuten», meinte Selma sarkastisch. «Und nenn mich nicht immer Selmeli!»

«Selmeli, Selma, warum bist du so hart zu mir?»

«Ich bin Fotoreporterin und keine Hochzeitsfotografin.»

«Verstehe, du hast recht. Hochzeitsfotografie ist unter deiner Würde. Wie konnte ich dich überhaupt fragen? Kapelle, Kutsche, Küsschen, Küsschen, jede Menge Kohle, Selmeli, vergiss es, mir kommt das Kotzen. Ich engagiere irgendeinen Nachwuchsfotografen, der mal in New York, Dubai oder Shanghai war und verkaufe ihn als trendy. Also, bis dann!»

Die Verbindung brach ab. Selma starrte auf ihr Smartphone und schüttelte den Kopf: «Hochzeitsfotografin», murmelte sie. «Der hat sie doch nicht mehr alle.»

Selma ärgerte sich auch eine Stunde später noch über ihren Auftraggeber Haberer. Deshalb kam ihr der Coiffeurbesuch bei ihrer besten Freundin Lea gerade recht. Lea wohnte nicht nur im gleichen Haus wie sie, sondern hatte im Parterre auch ihren Salon.

«Hast du Ärger, Madame Selma Legrand-Hedlund?», fragte Lea, nachdem sie Selmas Haare gewaschen hatte. «Schlecht geschlafen? Du wirkst etwas …»

«Ich bin sauer», unterbrach Selma. «Mein Boss, der tolle Jonas Haberer, wollte mich tatsächlich als Hochzeitsfotografin engagieren.»

«Aha. Aber sonst ist alles in Ordnung? Marcel hat letzte Nacht wieder einmal bei dir geschlafen, oder?»

«Jetzt redest du wie meine Mutter», murrte Selma. «Ist nicht verwunderlich. Charlotte ist schliesslich omnipräsent, da sie ebenfalls in diesem Haus wohnt. Und ja, Marcel hat bei mir übernachtet. Aber Schluss jetzt, Lea. Bring meine Haare in Ordnung.»

Lea griff zur Schere und begann vorsichtig zu schnippeln. «Ihr seid wirklich ein Traumpaar. Ich würde mich freuen, wenn Marcel bei dir einziehen würde. Vielleicht arbeitet er dann auch wieder als Psychologe und gibt diesen Tram- und Busfahrerjob auf.»

«Lea!», sagte Selma unwirsch. «Du denkst schon wie meine Mutter. Ich möchte jetzt nicht über meine Beziehung sprechen.» Natürlich liebte sie Marcel. Er war der perfekte Mann. Gutaussehend, aufmerksam, witzig, gebildet. Und er konnte kochen. Putzen nicht so. Aber kochen konnte er wirklich.

Andererseits: Marcel war auch der perfekte Freund. Und genau diese Freundschaft hatte sich verändert, seit sie ein Paar waren. Sie waren körperlich intim, aber ihre Freundschaft war es jetzt weniger. Was sich schon allein daran zeigte, dass sie mit Marcel darüber nicht reden konnte. Und genau dies vermisste sie. Was sollte sie ihm denn sagen? Dass sie ihn liebe, aber …? Zu doof. Selma wollte Marcel nicht verletzen.

«Nellie hat mir geschrieben», sagte Selma und wechselte das Thema.

«Wie geht es denn deiner Nichte? Oder Halbnichte? Wie nennt man die Tochter eines Halbbruders überhaupt?»

«Für mich ist sie einfach meine Nichte. Sie schreibt gerade eine Arbeit für ihr Studium der Medienwissenschaften.»

«Oh, dann begibt sie sich also in deine Fussspuren und wird ebenfalls eine grosse Reporterin.»

«Ich hoffe nicht, die Geschäfte laufen gerade alles andere als gut.»

«Ach komm, Süsse, das wird schon wieder. Wann besuchst du Nellie und deine schwedische Familie endlich einmal?»

«Sie lädt mich in jedem Mail ein.»

«Na dann, los.»

«Ach Lea, ich weiss immer noch nicht, ob ich das möchte. Nichts gegen Nellie. Sie ist eine tolle junge Frau. Aber meine Geschichte ist nicht ihre. Ich habe bis vor Kurzem geglaubt, ich hätte den gleichen Vater wie meine Schwester Elin, Dominic-Michel Legrand. Dass mein Erzeuger in Wirklichkeit Nellies Grossvater Arvid Bengt Ivarsson ist, ganz ehrlich, damit tue ich mich schwer.»

«Du solltest diesen Knoten lösen und nach Schweden reisen. Sonst kannst du das nie klären.»

«Es wird geklärt.»

«Aha. Und wie?» Lea stellte sich neben den Friseurspiegel und schaute Selma fragend an.

«Nellie will im August in die Schweiz reisen und uns besuchen. Zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder. Und mit ihrem Grossvater. Mit meinem Vater.»

«Echt jetzt?»

«Ja.»

«Weiss Charlotte davon?»

«Nein.»

«Nein?»

«Lea, ich weiss es erst seit zwei Wochen.»

«Seit zwei Wochen?»

«So ungefähr. Vielleicht sind es auch drei Wochen.»

Lea verdrehte die Augen und fragte: «Was hast du Nellie geantwortet?»

«Nichts.»

«Nichts? So, so. Und wer weiss ausser mir davon? Marcel?» Lea schaute ihrer Freundin tief in die Augen.

«Niemand», sagte Selma.

«Niemand?»

«Jetzt schau mich nicht so an.»

«Wo liegt eigentlich dein Problem, Süsse? Wir wohnen im Haus des schwedischen Ex-Königs Gustav …»

«Tun wir nicht. Der wohnte weiter hinten in der St. Johanns-Vorstadt. Und im Hotel Drei Könige. Und nur weil meine Mutter so ein Theater um ihn macht, heisst das noch lange nicht, dass er ein guter Kerl war. Ich habe viel über ihn gelesen, liebe Lea, und ich muss sagen: Er war kein Sympathieträger.»

«Was aber nichts mit Nellie und deinem Vater zu tun hat.»

Selma wurde sauer: «Sag mal, was ist denn mit dir los? Wenn ich keinen Bock auf diese dämliche schwedische Verwandtschaft habe, ist das meine Sache.»

Lea machte sich wieder ans Werk, frisierte Selma weiter und sagte: «Natürlich. Ich finde trotzdem, du solltest dich dieser Sache stellen. Nellie ist nett. Da kann dein Vater kein Idiot sein.»

Wie recht sie hatte, dachte Selma und hatte bereits ein schlechtes Gewissen ihrer Freundin gegenüber.

«Sorry, ich wollte dich nicht verletzen», sagte Lea. «Aber mal ganz ehrlich: Die Sache belastet deine Mutter und deine Schwester. Und Marcel. Und mich ebenso. Nellie vermutlich auch. Deine ganze Familie leidet. Seit Monaten schiebst du das alles vor dich hin. Niemand getraut sich, mit dir darüber zu sprechen. Gib deinem Vater eine Chance.»

Tausend Gedanken schwirrten in Selmas Kopf herum. Als Lea ihr Werk beendet hatte, betrachtete sich Selma im Spiegel. Lange. Die Frisur war top. Trotzdem gefiel sie sich nicht. Sie hatte so markante, harte Gesichtszüge bekommen.

«Selma, bist du unzufrieden?»

«Alles gut. Bist ein Schatz.»

«Aber?»

«Nichts aber. Du hast recht. Ich werde Nellie schreiben. Ich werde ihr schreiben, dass ich mich auf sie und ihre Familie freue. Auf meine Familie.»

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