29. Januar 2010

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7

Moskau, 15. Januar 1945

Josef Wissarionowitsch Stalin sah in Natura wesentlich kleiner aus, als Igor erwartet hatte. Er thronte an einem riesigen antiken Schreibtisch in einem bequemen englischen Stuhl mit Armlehnen, der mit dunkelgrünem Leder bezogen war, und hatte sich in die Lektüre einer Akte vertieft, von der Igor wusste, dass es seine war.

Er selbst saß auf der anderen Seite des Schreibtischmonstrums auf einem eher unbequemen Stuhl ohne Armlehnen und wunderte sich über seine eigene innere Ruhe im Angesicht des großen Diktators persönlich, der Russland und der Welt das Fürchten gelehrt hatte, seit er 1922 in der Sowjetunion ans Ruder gekommen war.

Stalin strahlte eine unglaublich disziplinierte, absolute Ruhe aus. Trotzdem sah Igor, dass es in diesem Mann brodelte, nicht wie bei seinem extrovertierten, überschäumenden Gegenspieler Adolf Hitler, sondern eher schlummernd, wie eine Glut nach oder vielleicht auch erst vor einem Feuer. So genau konnte man das nie wissen, weder bei der Glut, noch bei diesem Mann.

Langsam sah der Machthaber zu seinem Gegenüber auf. Igor sah auf seinem Stuhl wie ein Schüler der dritten Klasse vor dem Grundschulrektor aus.

„Sie waren die ganze Zeit in Stalingrad mit dabei, Genosse Igor Wladimirowitsch. Was haben Sie dort gelernt?“ Seine Stimme war eher leise, aber befehlsgewohnt.

„Die russische Seele ist unbesiegbar, Genosse Vorsitzender“, log Igor.

Stalin verzog keine Miene, lediglich seine Augen bohrten sich sekundenlang in die seinen.

„Sie haben vor dem Krieg Medizin an der Lomonossow-Universität studiert und haben 1937 als Jahrgangsbester promoviert.“

Igor nickte kurz.

„Anschließend haben Sie sich als einziger Mediziner in unserem Land anschließend vor allem der Genforschung gewidmet.“

Igor überraschte es nicht, dass Stalin jedes Detail seines Lebens und seiner Arbeit kannte. Er fragte sich, ob er schon während seines Studiums regelmäßig beobachtet worden war oder ob das Dossier über ihn, das der Diktator vor sich hatte, erst kürzlich angefertigt worden war.

„Sie fragen sich, wie lange ich Sie schon beobachten lasse, Genosse“, erriet Stalin.

„Ich bin vielmehr erfreut, dass meine Arbeit nicht unbeachtet geblieben ist. Leider konnte ich sie seit 1941 nicht mehr fortsetzen.“ Das war wahrscheinlich das Mutigste, was jemals irgendwer Stalin gegenüber gesagt hatte, ohne umgehend auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien verfrachtet zu werden.

„Ich fand, dass Sie unserer Sache an der Front besser dienen würden, als in Ihrem Labor, in dem Sie in den letzten sechs Monaten vor Kriegsanfang, genauer gesagt seit dem Tod Ihrer Verlobten, keine nennenswerte Erfolge mehr erbracht hatten.“

Das überraschte Igor. Nicht die Tatsache, dass man ihn wohl schon in den Dreißiger Jahren beobachten hatte lassen, sondern, dass der Diktator sich ihm gegenüber rechtfertigte und das mit einem Satz, der länger war, als alles, was man je von Stalin an einem Stück gehört hatte. Der Mann mochte Igor.

Beide schwiegen eine Weile.

„Ich werde ein Genforschungsprogramm ins Leben rufen, das seinesgleichen sucht. Unbegrenzte Ressourcen aller Art. Sie werden es alleinverantwortlich leiten und mir direkt berichten, nur mir! Alle sechs Monate wird das Personal komplett ausgetauscht und, nun ja, versetzt. Außer mir und Ihnen wird niemand das Projekt in seiner Gesamtheit und dessen Resultate kennen. „

„Jawohl, Genosse Vorsitzender!“

„Wegtreten!“ flüsterte Stalin.

Als Igor sich umdrehen wollte, um den Raum zu verlassen, bemühte er sich, seine große Erregung zu verstecken.

In diesem Moment sagte Josef Stalin: „Noch etwas. Wir stehen kurz vor der Eroberung des Konzlagers in Auschwitz. Sie werden dort dabei sein und sämtliches medizinische Material sichten und sichern. Niemand sonst wird Einsicht darin erhalten. Deckname der gesamten Operation ist ‚Arche Noah’. Ich bin überzeugt, der Feind ist beim Thema Genforschung wesentlich weiter als Sie.“

Innerhalb weniger Minuten war Igor seinem Lebenstraum um Lichtjahre näher gekommen.

8

Auschwitz, 27. Januar 1945

Es war furchterregend. So etwas Schauderhaftes hatte Igor selbst in seinen schlimmsten Albträumen noch nicht gesehen. Er wusste nicht, welcher Anblick schlimmer war. Die noch nicht oder nur teilweise zugeschütteten Massengräber oder die lebenden Gefangenen, von denen viele keine vierzig Kilogramm mehr wogen, Erwachsene wohlgemerkt!

Ein paar Stunden zuvor hatte die Rote Armee das berüchtigte Todeslager an einem kalten Samstag erreicht. Eine nennenswerte Gegenwehr der Deutschen hatte es nicht gegeben, trotzdem war in den ersten Minuten danach gefeiert worden, als läge gerade eine schwere Schlacht hinter den sowjetischen Soldaten. Kein Wunder, hatten sie doch ungemein schwere Wochen des Marsches und Kampfes in der eisigen Kälte Richtung Westen hinter sich. Anders als hier und heute wehrten sich die Nazis auf ihrem Rückzug seit Monaten vehement, daher starben täglich noch immer tausende Menschen um Igor herum, hüben wie drüben. Er sollte sich eigentlich inzwischen ans Sterben und Töten gewöhnt haben, aber dem war überhaupt nicht so. Jedes Mal, wenn jemand starb, oder noch schlimmer, wenn er selbst gezwungen war, jemandem brutal das Leben zu nehmen, musste sich Igor sehr zurückhalten, um sich nicht sofort zu übergeben. Manchmal konnte er sich aber nicht mehr zurückhalten und ließ sich gehen. Er würde sich nie an Mord und Totschlag gewöhnen können, egal unter welcher Fahne und Prämisse dies auch geschah.

Er erinnerte sich noch genau an das erste Mal, als er selbst abgedrückt hatte, damals in Stalingrad, an einem trüben Novembermorgen des Jahres 1942. Die Deutschen hatten einen russischen Schützengraben gestürmt, als Igor gerade dabei war, die Blutung eines Kameraden zu stoppen. Ein großer, dunkelhaariger Nazi hatte kaltblütig den Verletzten erschossen, der wehrlos und stark blutend am Boden gelegen hatte. Danach hatte er seine Waffe auf Igor gerichtet und abgedrückt, vergebens. Die Patronenkammer war leer gewesen, oder die Munition unbrauchbar, Igor wusste es bis heute nicht. Jedenfalls hatte er schnell die Waffe des verstorbenen Soldaten ergriffen, gezielt und geschossen. All das war in weniger als eine Sekunde geschehen. Der Kopf des Nazi war zerborsten und seine graue Gehirnmasse an die lehmige Wand des Grabens gespritzt, wo sie sich langsam mit nasser, brauner Erde vermischt hatte.

Igor hatte damals seinen starken Brechreiz zurückgehalten und sofort die Flucht ergriffen, immer den anderen wegrennenden Kameraden hinterher und die Pfeifgeräusche der tödlichen deutschen Kugeln hörend. Danach hatte er mehrere Nächte nicht schlafen können. Immerzu waren ihm der überraschte Blick des Deutschen und dann dessen explodierender Kopf gegenwärtig gewesen. Er sollte dieses schreckliche Bild sein Leben lang vor Augen haben.

Die Rotarmisten hörten noch schneller auf zu singen und grölen, als sie es wenige Minuten zuvor begonnen hatten, sobald sie die ersten Häftlinge im Lager erblickten. Diese hatten große Angst, da sie ja nicht wissen konnten, wer die Neuankömmlinge waren und welches zusätzliche Leid ihnen nun vielleicht widerfahren würde.

Sie sahen allesamt schrecklich aus, abgemagert und zum Teil splitternackt. Sie stanken so intensiv, dass einige Soldaten sich bereits ihre Gasmasken übergezogen hatten. Die Bilder, die sich ihnen boten, waren um ein Vielfaches unfassbarer, als es die Gerüchte um dieses Konzentrationslager hatten vermuten lassen. Mehrere Rotarmisten übergaben sich, andere weinten und wieder andere umarmten verzweifelt einen oder gleich mehrere Häftlinge. Es gab auch welche, die sofort kehrt machten, um sich nicht mit irgendwelchen Krankheiten anzustecken. Es herrschte das totale Chaos. Zu hören war aber vor allem lautes Weinen von Russen und Insassen gleichermaßen. Einige Frauen und Säuglinge schrieen.

Ringsherum waren dutzende dunkler Häftlingsbaracken, präzise in mehreren Reihen angesiedelt. Dort hatten diese armen Menschen wie Tiere zusammengepfercht für Monate oder sogar Jahre hausen müssen. Und überall dieser Gestank!

Igor konnte all das kaum fassen, er würde es nie fassen können, auch Jahrzehnte später nicht.

Wie brutal konnte ein Mensch nur sein? Wie weit konnten Ehrgeiz, Gier, Sextrieb, Liebe, Hass, Neid, Stolz, Sucht und alle die anderen gefährlichen Gefühle einen Menschen nur bringen? Was hatten die Evolution und die Zivilisation der letzten Jahrhunderte der Welt eigentlich beschert? Der Mensch war das einzige Wesen überhaupt, das aus Gründen tötete, die mit Verteidigung oder Nahrungsaufnahme und deren Beschaffung nichts zu tun hatten.

Der Mensch war zu einem Störfaktor im Gleichgewicht der Erde geworden, und je mehr er sich weiterentwickelte, desto schlimmer wurde es. Igor machte sich nichts vor. Er wusste dass es solche Lager nicht nur bei den Deutschen gab. Außerdem war er seit nunmehr einunddreißig Monaten wieder und wieder Zeuge hunderter unnötiger Gräueltaten geworden, die durch den Krieg als solches längst nicht mehr zu rechtfertigen waren, auch von Seiten der Russen. Es gab anscheinend keinen Ausweg aus dieser bereits seit Jahrtausenden andauernden Spirale des Todes und des Schreckens. Oder vielleicht doch?

Igor erinnerte sich wieder an seinen Auftrag. Er schritt entschlossen auf die Baracken zu, die mit einem roten Kreuz auf weißem Hintergrund gekennzeichnet waren. Praktischerweise standen diese alle beieinander. Dort angelangt, rief er einige Soldaten zu sich.

„Genossen, sie, sie, sie und sie! Schnappen sie sich jeweils zwei Kameraden und sichern Sie die Eingänge aller Lazarette!“ befahl er.

 

„Und Sie Sergeant, nehmen Sie Ihre Einheit und durchforsten Sie alle Baracken, alle, verstanden? Jede einzelne! Sollten Sie irgendeine finden, die innen nicht wie eine gewöhnliche Häftlingsbaracke aussieht, sagen Sie mir sofort Bescheid, sofort, verstanden? Vor allem, wenn es wie ein Labor oder so ähnlich aussehen sollte. Alles, was Ihnen suspekt vorkommt, sofort melden! Schnell, schnell! Niemand außer mir darf dann in diese Baracken, Befehl vom Generalleutnant persönlich!“

Igor setzte sich auf einen Baumstumpf vor eine der Lazarettbaracken und steckte sich eine Zigarette an. Er, der Gesundheitsfanatiker, Kontrollmensch und Perfektionist hatte vor einigen Wochen tatsächlich angefangen, zu rauchen. Was dieser Krieg doch alles mit einem anstellte.

Er sah sich um. Inzwischen gab es wieder vereinzelte Freudenszenen. Die Lagerinsassen hatten nun endlich begriffen, dass sie bald befreit würden, und glaubten es nun auch wirklich. Einige von ihnen verwendeten ihr letztes bisschen Kraft, das ihnen nach Wochen und Monaten körperlicher und seelischer Qualen geblieben war, um den erstbesten Rotarmisten zu umarmen, als sei er ihr Bruder, Vater oder Sohn, oder alles zusammen. Die Tränen flossen literweise auf beiden Seiten und der Wodka nunmehr auch. Einige Häftlinge brachen jetzt, im Augenblick ihrer lang ersehnten Befreiung, vor Aufregung einfach tot zusammen. Der Hunger und die vielen Qualen hatten sie so geschwächt, dass dieser starke Emotionsschub für sie einfach zu viel war.

„Genosse Major! Alle Lazarettbaracken sind gesichert. Wir haben nichts Ungewöhnliches in den anderen Baracken gefunden.“

Igor blickte auf. Hatte er es sich doch gedacht. Die Nazis waren kein Risiko eingegangen und hatten all ihre Labors mit roten Kreuzen auf dem Dach der vielen Lazarette vor gezielten Bombenangriffen geschützt. Eins musste man ihnen lassen, ihr Perfektionsstreben machte sie stets berechenbar, und das liebte Igor.

Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass die Deutschen vor ihrer Flucht letzte Nacht nicht genug Zeit hatten, ihr medizinisches Material mitzunehmen, oder schlimmer noch, es zu vernichten.

Sollten die Amerikaner und Engländer nur die fortschrittliche Raketentechnik der Deutschen und die modernen Industriemaschinen aus den zahllosen Fabriken im Ruhrgebiet bekommen. Er, Major Dr. Igor Wladimirowitsch Iwanow, Leiter Stalins streng geheimen Genforschungsprojekts, würde die hoffentlich bahnbrechenden Ergebnisse der zahllosen brutalen und menschenverachtenden medizinischen Tests bekommen, die die Nazis über Jahre an tausenden von Juden und anderen Häftlingen gemacht hatten.

9

Moskau, 22. Februar 1945

Igor war erschöpft. Seit seiner Rückkehr drei Wochen zuvor nach Moskau in sein von Stalin neu eingerichtetes riesiges Labor mit mehreren angrenzenden Büro- und Lagerräumen, hatte er achtzehn bis zwanzig Stunden am Tag damit verbracht, sämtliches Material, das er in Auschwitz beschlagnahmt hatte, nochmals und diesmal sehr gründlich, Seite für Seite, zu sichten.

Die meisten der bisher dort festgehaltenen Testreihen hatten sich mit der Verabreichung von Giften, Gegengiften und anderen Medikamenten aller Art befasst. Andere Experimente hatten sich mit der Wirkung von Feuer und elektrischen Strom auf den Menschen befasst, sowie mit zahlreichen jeweiligen Gegenmitteln. Auch den abscheulichen und langen, schmerzvollen Tod durch Ertrinken hatten die Nazis in ihrem Bestreben, den perfekten deutschen Soldaten zu schaffen, ausführlich an ihren Opfern untersucht.

Diese Erforschung der klassischen Medizin würde Igor in nächster Zeit an seine zuständigen Kollegen weiterleiten. Diese würden all die Erkenntnisse filtern und weiterentwickeln.

Schließlich hatte Igor doch noch einige Akten entdeckt, die sich mit der Entschlüsselung des menschlichen genetischen Codes und des Klonen von Menschen und Tieren befassten. Diese von Igor Zeile für Zeile aufmerksam studierten Papiere ließen auf das Vorhandensein weiterer, ausführlicherer Experimente und deren akkurater Katalogisierung schließen. Ein Volltreffer für die Sowjets, falls diese Ergebnisse sich in den restlichen Akten befinden sollten.

Igor hatte noch die Bilder des 27. Januar vor Augen. Unzählige regelrechte Käfige mit aberdutzenden von Versuchsopfern darin hatten sich in alle drei Dimensionen neben und in zweien der Labors gestapelt, die von den Nazis als gewöhnliche Lazarettbaracken getarnt worden waren. Viele der Opfer waren bereits tot gewesen, die meisten extrem unternährt, viele vergiftet und manche mit meist wirkungslosen Gegengiften behandelt worden. Andere waren brutalst verstümmelt worden, wieder andere stellenweise verbrannt, durch Einwirken von Feuer und Elektroschocks oder beides. Igor hatte sogar Geschöpfe entdeckt, die es eigentlich gar nicht geben durfte, Kreuzungen zwischen Mensch und Tier, skurrile Gestalten, zum Teil nicht lebensfähig- oder würdig.

Die Nazis hatten es nicht mehr geschafft, ihre Versuchsergebnisse zu vernichten oder mitzunehmen, oder es hatte sie nicht mehr gekümmert. Zu diesem Zeitpunkt musste jedem halbwegs intelligenten Deutschen klar gewesen sein, dass dieser Krieg aussichtslos verloren war. Warum also sein Leben riskieren, um irgendwelche Akten oder Versuchsopfer zu beseitigen oder gar auf der Flucht mitzunehmen? Einige der Naziärzte waren sogar zurückgeblieben, in der Hoffnung, ihre zumindest für sie selbst lebenserfüllenden Studien unter sowjetischer Schirmherrschaft weiterverfolgen zu können. Manche davon waren in den ersten Minuten nach dem Einmarsch der Roten Armee regelrecht gelyncht worden, von wem genau, blieb unermittelt. Die wenigen deutschen Forscher, die ihrer gerechten Strafe fürs Erste entgangen waren, wurden bis zum heutigen Tage irgendwo festgehalten und verhört, wenn sie denn noch lebten. Stalin hielt nichts von Überläufern, und Igor machte sich daher keine sinnlosen Hoffnungen auf professionelle deutsche Unterstützung bei der Durchsicht der zwei Tonnen medizinischen Aktenmaterials, die er nun immer noch zur Hälfte vor sich hatte. Nachdem Igor Stalin darüber informiert hatte, dass die Deutschen alles penibel und haargenau dokumentiert hatten, hatte dieser die spurenlose Beseitigung der toten und noch lebenden Versuchsopfer befohlen. Er wollte keine Mitwisser, weder die Opfer selbst noch irgendwelche Rotarmisten, die Augenzeugen deren Abtransports hätten werden können. So war die Operation ‚Arche Noah’ lautlos von Statten gegangen. Keine Zeugen, keine Aufmerksamkeit, nichts, bis auf eben besagte zwei Tonnen Akten, die weiter nicht aufgefallen waren.

Igor ging seit jenem Tag im Konzentrationslager ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Würde er als Arzt solche brutalen Versuche am Menschen mit seinem Gewissen verantworten können?

Bisher hatte er noch nie an menschlichen Versuchsexemplaren experimentiert. Vor dem Krieg hatte er Schimpansen untersucht, seziert und versucht, sie mit Hunden zu kreuzen, meist ohne Erfolg und ohne jegliche für die Wissenschaft wichtige Erkenntnisse. Viele andere Experimente und Untersuchungen dieser Art waren damals ebenfalls fehlgeschlagen. Sein Wissen über die Genlehre war also meist nur theoretischer Natur und beruhte auf unzähligen Mutmaßungen.

Nun erwartete man aber von ihm, alleinverantwortlich für die Weiterführung und den erfolgreichen Abschluss der genetischen Versuchsreihen der Nazis an Menschen zu zeichnen. Vielleicht war er bis vor ein paar Wochen wirklich noch zu naiv gewesen. Hatte er wirklich gedacht, sein großes Lebensziel sei mit der Sezierung und Kreuzung von Hunden und Affen zu erreichen? Waren die Deutschen nicht vielleicht deshalb allen anderen auch in diesem Fachgebiet so weit voraus, weil sie keine Skrupel hatten, wenige Einzelne, in ihren Augen Minderwertige, für ihr Allgemeinwohl zu opfern?

Igor empfand Übelkeit bei dem Gedanken, dutzende Menschen zum Teil lebendig aufzuschneiden, zu untersuchen und dann wieder zusammenzuflicken, um sie schlussendlich mit neuartigen Genpräparaten fast sicher zu töten.

Dann dachte er an seine verstorbenen Geschwister, seine Freundin Maria und all das Leid, dessen Zeuge er seit nunmehr fast vier Jahren geworden war und das diese schwerwiegende genetische Fehlprogrammierung des Menschen, wie er sie seit Jahren nunmehr nannte, ausgelöst hatte.

In dieser Sekunde wusste Igor, was er zu tun hatte. Es musste ihm in nächster Zeit unbedingt gelingen, den genetischen Code des Menschen zu entschlüsseln. Dies war der einzige Weg zum Überleben der Menschheit. Die Zeit drang. Die Nazis hatten augenscheinlich exzellente Vorarbeit geleistet, und er war vom Schicksaal dazu auserwählt worden, eben diesen einzigartigen Schritt für die Menschheit zu vollenden. Und er würde sich dieser Verantwortung nicht entziehen.

Drei Tage später sollte er endlich auf jene Akten stoßen, die bis ins letzte Detail dokumentierten, wie menschliche Chromosomen aufgebaut waren und wie man sie gezielt manipulieren und optimieren konnte. Der genetische Code des Menschen war am 20. Januar 1945 entschlüsselt worden. Verantwortlich gezeichnet dafür hatte Prof. Dr. Walter Streller, einer der sieben Tage später zusammen mit seinem gesamten Team gelynchten deutschen Ärzte.

10

Piz Julier, 30. Januar 2010

Russlands Präsident Dr. Roman Wladimirowitsch Bljukin sah jung aus, ungefähr wie Vierzig. Auf dem Foto wirkte er sehr streng und entschlossen.

Kim war nicht allzu viel über ihn bekannt, nur, dass niemand so recht wusste, woher er vor einigen Jahren eigentlich so urplötzlich auf der politischen Bühne aufgetaucht war. Über Nacht war er, ein Niemand, von seinem Vorgänger als Präsident der Russischen Föderation eingesetzt worden. Das musste irgendwann so Anfang des neuen Jahrtausends gewesen sein, glaubte Kim irgendwann einmal gelesen zu haben. Er galt als Hardliner und hatte anscheinend keinerlei öffentliche Vergangenheit. Das Ausland hatte damals gestaunt, als er sein Amt übernommen hatte und damit sein Name erstmals weltweit bekannt worden war. Selbst die Russen hatten ihren neuen Präsidenten vorher nicht richtig gekannt. Nur wenige hatten je von ihm gehört gehabt, man wusste nicht einmal, wie alt er war, wo er geboren worden und aufgewachsen war sowie die anderen üblichen Dinge über Mitmenschen, die sonst in der Öffentlichkeit stehen. Er selbst sprach nur sehr selten darüber.

Seither hatte Bljukin das Rad der Zeit in seinem großen Reich in gewisser Hinsicht zurückgedreht, in anderer Hinsicht war er aber beispiellos innovativ gewesen. So waren in Russland allmählich alle relevanten Bereiche der Wirtschaft wieder verstaatlicht worden. Die Demokratie war einem Modell gewichen, das ursprünglich dem chinesischen im Ansatz geähnelt hatte, allerdings nach und nach noch undemokratischer geworden war, was viele im Westen eigentlich für unmöglich gehalten hatten.

Allerdings hatte Bljukin im bisher ultraaltmodischen Russland auch die lästige Bürokratie und all den Papierkram auf ein Minimum gebracht. Fast alles war dort inzwischen elektronisch verarbeitet. Daher war es dort möglich, jede Aufgabe und Erledigung online zu tätigen, ein Mekka für Computerbegeisterte, die am liebsten alles von zu Hause aus steuerten. Viel mehr wusste Kim über Russland und dessen Präsidenten nicht. Sie mochte zwar, wenn Dinge übersichtlich, schnell und einfach waren, verabscheute aber jegliche Art von übermäßiger Kontrolle. Für sie war die Russische Föderation von heute zu einem Polizeistaat von gestern mit Methoden von morgen geworden. Ihre ausgeprägte rebellische Ader verbot es ihr, solchen Staaten oder Organisationen auch nur ein Fünkchen Aufmerksamkeit zu viel zukommen zu lassen.

In Anbetracht der neuesten schrecklichen Vorkommnisse und Entwicklungen sowie der Tatsache, dass im Internet außer diesem Kommunique von Bljukin sowieso nichts abzurufen war, schaute sie sich diese Seite allerdings genauer an.

Das Design war sehr schlicht gehalten. Schwarze, große und dicke Buchstaben auf weißem Hintergrund. Kim sah sofort, dass der Leser die Möglichkeit hatte, den folgenden Text in allen möglichen Sprachen zu lesen. Da waren sogar so seltene Sprachen, wie Luxemburgisch und Veneto, der seit wenigen Jahren offizialisierte Dialekt Nordostitaliens, zu finden. Sie klickte auf ‚Deutsch’ und begann zu lesen:

Kommunique des Präsidenten Dr. Roman Bljukin an alle Bürger:

Moskau, Samstag, der 30. Januar 2010, 18.00 Uhr

 

Gestern, am Freitag, den 29. Januar 2010, der Tag, der bei allen künftigen Generationen als der Tag des Untergangs unserer Welt, wie wir sie bis dahin kannten, in Erinnerung bleiben wird, hat es globale unorganisierte und bürgerkriegsähnliche Aufstände, Revolten, Putschversuche, Übergriffe, terroristische Anschläge, Lynchungen und andere, schändliche kriminelle Handlungen gegeben, bei denen weltweit unzählige Menschen ermordet wurden. Erste Schätzungen beziffern diese Zahl auf über vier Milliarden Menschen, Verletzte nicht berücksichtigt. Außerdem wurden alleine in Eurasien Sachschäden in Höhe von Hunderten Billionen Euro verursacht und lebenswichtige Ressourcen, wie Wasser, Nahrung, Erdöl, und viele weitere verunreinigt, verbrannt oder auf anderem Wege vernichtet. Den meisten Verletzten konnte und kann mangels Wasser, Nahrungsmittel, Medikamenten und anderen Ressourcen nicht mehr geholfen werden. Viele weitere Menschen werden mangels Wasser, Nahrungsmittel, anderen Ressourcen und wegen Obdachlosigkeit und Kälte hilflos und grausam sterben, sodass die künftige überlebensfähige Weltpopulation bestenfalls auf etwa ein bis eineinhalb Milliarden Menschen geschätzt wird, wovon ca. ein Drittel auf Eurasien entfallen wird, der größte Teil auf den Asiatischen Block, vielleicht einhundert Millionen auf den Rest der Welt. Endgültige Zahlen sind zur Stunde noch nicht voraussehbar.

Die weltweite gesellschaftliche Krise der letzten Monate, die zunächst aus der Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008, ausgelöst durch die unersättliche Gier unserer kapitalistischen Welt, und dann aus der größten Wirtschaftskrise der Geschichte der Menschheit in den Jahren 2008 und 2009 entstanden war, hat am gestrigen 29. Januar 2010 weltweit mehrere Milliarden Menschen, die inzwischen auf der ganzen Linie nichts mehr zu verlieren hatten, dazu bewogen, mit oder ohne Waffen, erst jene regelrecht zu jagen und zu töten, denen es in ihrer unmittelbaren Umgebung in irgendeiner Hinsicht noch besser ging, und anschließend diejenigen, die Minuten zuvor noch auf der gleichen ungesetzlichen Seite gestanden hatten. Bei diesen unorganisierten und ziellosen Massenmorden sind außerdem die oben genannten und noch nicht näher bezifferten Sachschäden überall auf unserem Globus entstanden.

In den letzten Stunden ist es den organisierten Staatskräften in Eurasien konzertiert gelungen, unter großen Verlusten alle kriminellen Elemente zu entwaffnen oder unschädlich zu machen. Da die meisten von ihnen nicht zur Aufgabe bereit waren, hat nur eine sehr geringe Anzahl von ihnen überlebt. Diese werden heute noch verurteilt werden.

Die gegenwärtige Situation stellt sich regional wie folgt dar:

Nordamerika:

Die legitimen Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada behaupten, die Ausnahmesituation unter Kontrolle zu haben, was angesichts unserer aktuellen Satellitenbilder bezweifelt wird. Dort sind immer noch unzählige, unter anderem großflächige bewaffnete und unbewaffnete Auseinandersetzungen auszumachen. Wir sind überzeugt, die Region befindet sich bestenfalls im Status des kontrollierten Chaos.

Nordamerika nimmt trotzdem auf Antrag jeden Flüchtling auf.

Vereinigtes Königreich, Irland, Island und Grönland (Inseln in der Nordsee):

Die legitimen Regierungen in London, Dublin, Reykjavik und Nuuk behaupten, die Ausnahmesituation unter Kontrolle zu haben, was angesichts unserer aktuellen Satellitenbilder bezweifelt wird. Dort sind immer noch unzählige, unter anderem großflächige bewaffnete und unbewaffnete Auseinandersetzungen auszumachen. Wir sind überzeugt, die Inseln in der Nordsee befinden sich bestenfalls im Status des kontrollierten Chaos.

Diese Inseln in der Nordsee nehmen trotzdem auf Antrag jeden Flüchtling auf.

Mittel- und Südamerika:

Wir sind nicht im Stande, mit irgendeiner legitimen Regierung oder sonst irgendwem in der Region zu kommunizieren. Unsere Satellitenbilder zeigen dort bis zur Stunde ein unkontrolliertes Chaos.

Afrika & Antarktis:

Wir sind nicht im Stande, mit irgendeiner legitimen Regierung oder sonst irgendwem in der Region zu kommunizieren. Unsere Satellitenbilder zeigen dort bis zur Stunde ein unkontrolliertes Chaos.

Asiatischer Block und Australien:

Die Region befindet sich unter Kontrolle. Unsere Satellitenbilder beweisen dies. Hier hat es wegen der hohen Bevölkerungszahl naturgemäß die meisten Opfer gegeben, Schätzungen gehen von etwa drei Milliarden Menschen aus.

Vor zwölf Stunden wurde dort der Ausnahmezustand und vor einer Stunde die Republik ‚Asiatischer Block’ ausgerufen. Zentrale Hauptstadt dieser Region ist künftig Peking. Alle einzelnen Staaten der Region haben dem uneingeschränkt zugestimmt und damit aufgehört, zu existieren. Wir akzeptieren die zentrale Regierung der Republik Asiatischer Block und befinden uns bereits in diplomatischen Gesprächen mit Peking.

Klicken Sie hier, um die politische Landkarte der Republik Asiatischer Block zu sehen

Eurasien:

Unsere Region befindet sich unter voller Kontrolle. Sofort nach Beendigung der kriminellen Vorkommnisse des gestrigen und heutigen Tages, haben alle einzelnen Regierungen der Region einstimmig folgendes beschlossen:

- Der Ausnahmezustand wird bis auf weiteres ausgerufen.

- Mit sofortiger Wirkung, also ab dem 30. Januar 2010, 18.00 Uhr, hören alle Staaten der Region auf, zu existieren. An ihre Stelle tritt die Republik Eurasien. Zentraler Regierungssitz und Landeshauptstadt ist Moskau. Jegliche legislative, exekutive und judikative Staatsgewalt geht vom Präsidenten der Republik Eurasien, Präsident Dr. Roman Bljukin, aus.

Klicken Sie hier, um die politische Landkarte der Republik Eurasien zu sehen

- Mit sofortiger Wirkung gilt ausschließlich das Allgemeine Gesetzbuch der Republik Eurasien. Jeder Verstoß dagegen, sei er noch so klein, wird unverzüglich mit der Todesstrafe geahndet. Diese wird am selben Tage der Verurteilung durch die zuständigen Behörden der Republik Eurasien durch Tod durch die Giftspritze vollstreckt.

Klicken Sie hier, um das Allgemeine Gesetzbuch der Republik Eurasien zu lesen

Hier, einige Auszüge daraus:

- Einzige anerkannte Sprache in der Republik Eurasien ist Russisch. Für eine Übergangszeit von einem Jahr ist es jedem Bürger erlaubt, seine bisherige Muttersprache(n) in der Öffentlichkeit zu verwenden, wenn die Kenntnisse der russischen Staatssprache noch nicht ausreichen. Ab 30. Januar 2011 ist ausschließlich die Verwendung der Amtssprache Russisch gestattet. Zur Vereinfachung gilt ab sofort als einziges Alphabet das lateinische. Die bisherigen kyrillischen Buchstaben werden nach den bisherigen deutschen Regeln transliteriert.

Klicken Sie hier, um die neue offizielle Schreibweise aller Russischen Worte kennen zu lernen

- Die einzige Landeswährung ist ab sofort der Euro.

Klicken Sie hier, um die Umrechnungstabelle aller bisherigen Landeswährungen der ehemaligen Staaten auf dem Gebiet der neuen Republik Eurasien und des Asiatischen Yen zum Euro zu sehen

- Einzige gültige Zeit der Republik Eurasien ist ab sofort die aktuelle Zeit in Moskau.

Klicken Sie hier, um die aktuelle Zeit zu sehen

- Die Republik Eurasien nimmt keinerlei Flüchtlinge auf.