Read the book: «Salomos Söhne», page 3

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»Mama, nein, nein!«, flehte ich sie weinend an, auch wenn ich wusste, dass der Schatten des Todes sie immer verfolgen würde.

Die Wurzel allen Gräuels

Freundschaft geht über Verwandtschaft. Gott sei Dank! Was wäre ich heute ohne meinen Mann Zanga? Meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sind schon tot. Mama starb 1992, körperlich und geistig erschöpft von allem, was ihr in der Ehe widerfahren war. Mit meinen Stiefmüttern und Stiefgeschwistern kann ich nichts anfangen, weil wir sehr verschieden sind. In Wirklichkeit ist Zanga mein einziger Freund. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche. Das tut mir, seiner schwermütigen Frau, so gut!

Ich bin heute fünfunddreißig und lebe seit Ende 1995 wieder in der kleinen, südlichen Stadt Ebolowo’o, selbstverständlich mit Zanga, dem ich Zwillingstöchter geschenkt habe, aber auch mit einer alten Erinnerung an meinen verstorbenen Großvater, seinem Papagei Jakob. Jeden Morgen krächzt er, ruft uns mit Namen, Odooo, Zongooo, Onooo, Motooo, immer und immer wieder, Rufe, die mir wie eine Warnung im Ohr klingen. Denn immer, wenn ich Jakob höre, erinnere ich mich an diese bitteren Geschichten Mbaangoks, die mich jedes Mal so abschrecken, dass ich über alles nachdenken muss, was mir bisher im Leben widerfahren ist.

Eines Morgens riss er uns aus dem Schlaf. Er krächzte laut wie nie zuvor. Im Bett, neben Zanga liegend, wachte ich auf und merkte, dass es draußen schon hell war. Die lauten Stimmen der vorübergehenden Marktfrauen erreichten uns. Dann, plötzlich, wurde alles still. Ich hörte nichts mehr, sondern dachte nur noch an sie, an meine Mutter, die mein Vater verfluchte, als sie mich gebar.

Ich kam in Mbaangok zur Welt. Mbaangok, der gute Fels, war in meinem Geburtsjahr 1970 nicht mehr das, was sein Urname Mbaakok ausdrückt. Seine Felsen waren voller Moos und Würmer, umgeben von wildwachsenden Pflanzen. Ein Fluss und seine vielen Bäche versorgten die Dorfbewohner weiter mit Wasser, aber auch mit allerlei Schlangen, die immer wieder zur Bestürzung der Fischer an der Spitze ihrer Angelschnur hingen. In den Bäuchen dieser Schlangen fanden sie ihre Beute, diese langen, dunklen Fische, die Welse, die so selten in Mbaangok geworden waren. Die Jäger dagegen töteten immer mehr wilde Tiere, die in den verwildernden Felsen Zuflucht suchten. In ihren Hütten am Rande ihrer weiten Felder waren die Bauern nachts diesen wilden Tieren ausgesetzt. Eine Nacht in einer Hütte endete manchmal mit dem Tod. Ebenfalls ohne Schutz waren ihre Frauen, die in den Hütten ihre Kinder gebaren und die toten Kinder nach einer missglückten Geburt in der Erde ihrer in der Nähe liegenden Felder begruben, bis die Bauern sich irgendwann gezwungen sahen, ihre Hütten zu verlassen.

Häuser aus Lehm, Pfählen und Bambus wurden die neue Zuflucht der Dorfbewohner Mbaangoks. Genau in einem solchen Haus, im Schlafzimmer meiner Eltern, in Gegenwart von Vamba und Opa erblickte ich das Licht der Welt. Papa war in Ebolowo’o. Meine Großmütter Zongo und Ekombo, Opas Frauen, waren schon aufs Feld gegangen, als Mamas Wehen einsetzten. Sie hatte kurz davor viel Wasser verloren. Stundenlang lag ich in einem trockenen Mutterkuchen, während meine Mutter Blut und Wasser schwitzte. Ohne Vamba und Opa wäre ich (das vermutet man) im Bauch meiner Mutter erstickt. Irgendwann fiel Vamba ein Kraut ein, das einigen Frauen im Dorf die Geburt erleichtert hatte. Er schickte Opa in den Wald, um dieses Kraut zu suchen. Wie meine Mutter erzählte, war es eine seltene Pflanze mit einem ungewöhnlich bitteren Geschmack. Zum Glück hatte Opa diese Pflanze gefunden.

Weh mir! Mein Vater soll bitter enttäuscht gewesen sein, als Opa und Vamba ihm noch an der Tür verrieten, dass ich ein Mädchen war. »Ein Mädchen bringt Spott, Gelächter und Pein, ein Sohn dagegen verleiht einem Mann Würde.« So dachten früher meine Ahnen. Das dachte auch mein Vater. Für Papa war ich kein Grund zur Freude. Lieber Vater, hättest du damals nur geahnt, wie viel du mir bedeutetest, hättest du nie so etwas gesagt!

Wenn ich nur wüsste, was im Kopf eines Vaters vorgeht, der glaubt, ein Mädchen sei eine Schande! Vor wem schämt er sich? Vor Menschen, die noch von unserer Ahnenzeit schwärmen und den Eindruck erwecken wollen, sie leben in unserer Zeit? Was mich noch trauriger macht, ist, dass viele Frauen keine Mädchen haben wollen, weil sie das Gefühl haben, sie seien die Ursache für jene Schande, die das Leben ihrer Männer zerschmettert. Sind es nicht diese Mädchen, die später Frauen werden und Jungen gebären? Ich wollte weglaufen, meine Eltern verlassen, als mir klar wurde, dass ich meinem Vater nichts bedeutete, nur weil ich ein Mädchen war. Aber ich tat es nicht, weil es letztendlich Papa war, der mir das Leben geschenkt hatte, vor allem aber, weil meine Mutter mir immer zu verstehen gab, dass es Frauen gibt, die gern Frauen sind und bei aller Ahnenliebe zu ihren Töchtern halten, wie zum Beispiel sie.

Für Mama war ich ein Wunschkind. Meine Geburt war, das sagte sie immer, das glücklichste Ereignis ihres Lebens. »Wie gern hätte ich dir eine niedliche kleine Schwester und einen netten Bruder geschenkt!«, sagte sie eines Tages zu mir. »Aber, Liebste, glaub mir: Ich lasse dich nie allein. Ich verspreche es dir: Ich verlasse dich nie, niemals!«

Ein großes Versprechen! Mama hatte es viele Jahre lang gehalten! Achtzehn Jahre lang hatte meine Mutter zu mir gehalten! Aber ihr Kummer war so groß, dass sie eines Tages ihren Koffer packte und mich in Mbaangok ließ.

In den ersten Monaten ihrer Ehe schwelgte meine Mutter im Wohlstand, bekam von Papa alles, was sie wollte. Sie hatte in Mbaangok ein geräumiges Haus und eine große Küche, teilte sie mit ihrem Mann, meinem Vater, mitunter mit Kindern der Verwandtschaft, die im Urlaub zur Erholung ins Dorf kamen und ihr Gesellschaft leisteten. Das waren die guten alten Zeiten meiner Eltern. Finanziell ging es meinem Vater gut, er hatte große Kakaofelder und große Pläne, Papa war sehr ehrgeizig.

Die Dinge haben leider ihre Ordnung, die Zeit ihren Lauf, der Wind seine Richtung. Aber der Mensch dachte sich seine Ordnung aus, bestimmte seinen Lauf und wählte seine eigene Richtung. Und immer wieder musste er feststellen, dass er nicht derjenige war, der das letzte Wort hatte. So suchte er weiter nach der Ordnung der Dinge, hinkte dauernd hinter der Zeit her, lief immer den Winden davon.

Sie lief ihrer Ehe davon, nach acht Monaten Eheglück und achtzehn Jahren eines unglücklichen Familienlebens. »Ich wollte gleich nach deiner Geburt weggehen, weit weg von ihm, aber ich wollte dein Glück, ich wollte dich glücklich sehen, ich wollte dir die bittere Suche nach einem Vater ersparen … Ich habe deinen Vater am Anfang so geliebt, doch nur kurz, nach deiner Geburt fühlte ich nichts mehr für ihn.«

Ein großes, aber zu kurzes Eheglück für eine Frau wie meine Mutter, die damals an die große und ewige Liebe glaubte. Mit mir hatte sie nur noch das Mutterglück, das Eheglück war schnell vorbei, aus wie ein Licht. Es kehrte nie wieder zurück!

»Irgendwann stieg Wut in meinem Herzen auf, ich konnte seine Herzlosigkeit nicht ewig hinnehmen. Für mich war dein Vater kein Mensch, sondern ein gefühlloses Tier, denn ein Mann, der ein neugeborenes Kind, sei es Junge oder ein Mädchen, so herzlos, so gefühllos auf den Schoß nimmt, es dann achtzehn Jahre lang vernachlässigt, der verdient keine Liebe von einer Frau.«

Ich hatte Schuldgefühle, dachte, dass mein Geschlecht an allem schuld wäre, dass ich die Wurzel allen Gräuels sei. Ich erinnerte mich an das verlorene Paradies, an Eva, die Urfrau, die (das sagte mir meine Mutter eines Tages) die Hauptschuld für den Kummer aller Frauen trug, weil sie ihren Lebensgefährten Adam in die Sünde bis zum Tod verführte. Alle Frauen mussten nun ihre Schuld weiter tragen. Die Frauen Mbaangoks wurden deswegen gefoltert. Evas Fluch traf, nur Gott weiß warum, die Frauen im Süden Kameruns hart. Meine Ururgroßeltern kannten das Alte Testament nicht, aber auch sie glaubten, dass eine Frau immer am Tod ihres Mannes schuld sei. In Mbaangok folterten sie die Witwen deswegen, beerdigten sie lebendig in den Gräbern ihrer Männer. Zum Glück kam meine Mutter später zur Welt!

Mama ist 1956 geboren. Die Missionen waren schon im Süden des Landes. In Mbaangok sah man die ersten Missionare gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie kamen mit der Botschaft Christi, predigten die Vergebung der Sünden aller Menschen. »Es war das erste Mal, dass man hier Weiße sah«, berichtete meine Mutter. »Die Leute nannten sie Nanga Kon, die Außerirdischen, hatten Angst vor ihnen, weil sie so weiß waren. Auch die Missionare hatten Angst, weil sie die Schwarzen nicht kannten und keine ihrer Sprachen verstanden. Aber sie waren auf ihre Mission so gut vorbereitet, dass es ihnen gelang, mit der Bibel viele zu bekehren, die sie hier fanden. Hier, in Mbaangok, wo man Witwen lebendig beerdigte, predigten sie den Leuten, dass es im Buch Moses ein Gebot gibt, das die Vergeltung erlaubt, das aber seit Christi Tod nicht mehr gültig ist. Damit meinten sie, dass alle, die die Witwen weiter folterten, später vor dem Gericht Gottes ihre Taten zu verantworten haben. Seitdem hat man in Mbaangok keine Witwe mehr lebendig begraben. Die Alten sagen, dass die letzte Witwe, die man lebend beerdigte, 1912 starb.« – »Was machte man mit ihren Kindern?«, forschte ich. »Wenn eine Witwe Kinder hatte, vertraute man sie den Verwandten ihres Mannes an.« – »Und wie war’s, wenn eine Frau vor ihrem Mann starb?« – »Der Mann durfte weiter leben. Er war ja keine Frau, sondern ein Mann.«

Ich war froh, dass meine Mutter zu einer besseren Zeit zur Welt gekommen war. Nur: Sie war in ihrer Ehe so verbittert, dass ich mich fragte, ob es jemals auf dieser Welt eine bessere Zeit für Frauen geben wird. Sie hasste Papa mehr als sie ihn liebte, nahm es ihm übel, dass sie unglücklich war, gab ihm die Schuld an allem. Ich weiß, meine Mutter hätte meinen Vater nie ermordet, aber ich glaube, sie hätte (in jenen Augenblicken der großen Verzweiflung) ihn gern lebendig begraben gesehen! Sie war 1992 schon sehr krank, als ich sie eines Tages in ihrem Zufluchtsort Bangi besuchte. Ich lag mitgenommen neben ihr in ihrem Bett, als ich sie etwas Fürchterliches murmeln hörte: »Möge er in Mbaangok als Fisch zurückkehren, die Schlangen dort werden ihn fressen und zur Hölle schicken.« Plötzlich zuckte mein Herz heftig. Ich fürchtete, meine Mutter hätte kein Herz mehr. Erst als ich Tränen in ihren Augen sah, verstand ich, dass ihre Gefühle für meinen Vater immer noch unklar waren, dass ihre Liebe zu ihm noch nicht tot war und dass diese Hassliebe, unter der auch ich litt, wahrscheinlich nie sterben würde.

»Er ist im Himmel«, war die Antwort, die ich immer gab, wenn die Leute mich nach meinem Vater fragten. Es war keine eindeutige Antwort, keiner wusste, ob ich meinen leiblichen Vater oder den lieben Gott meinte. Diese Antwort half mir, so wenig wie möglich über meinen Vater zu reden, denn oft folgten keine weiteren Fragen.

Ich ließ die Leute ahnen, was sie wollen. Wer ahnte, dass ich den lieben Gott meinte, der verstand mich. Wer aber ahnte, dass ich meinen leiblichen Vater meinte, der verstand nur den Christen, denn Jesus befreite die Toten von ihren Sünden und ließ ihnen die Pforte zum Himmel offen. Es war leider eine enge Pforte … Auch ich habe Papa alles verziehen und ihm eine gute Himmelsfahrt gewünscht, als ich die Nachricht von seinem Tod gehört habe. Ich weiß nun nicht, ob Papa einen Platz im Himmel bekommen hat, aber ein Mann wie mein Vater, der Tate hieß, durfte solch ein Ziel nicht verfehlen, denn Tate bedeutet im weitesten Sinne erhabener Gott.

Ich ging mit achtzehn nach Mbyo, in eine Mission der katholischen Schwestern, nicht weit von Yaoundé. Oh, eine Mission, das muss ich hier vorwegnehmen, dort versammeln sich nicht nur Heilige, sondern allerlei Menschen. Sie sprechen viel über Gott, preisen seine Schöpfung, aber sehnen sich auch nach seinen Geschöpfen. Was ein hübsches Mädchen wie ich in einer Mission zu suchen hatte, war eine Frage, die mir am Anfang dort viele stellten. Ehrlich gesagt, es gab andere schöne Mädchen in dieser Mission, deswegen wunderte ich mich immer über diese Frage.

Ich schwieg, dachte, die Frage käme zu früh, weil ich noch nicht über den Tod meines Vaters hinweg war, weil ich noch zu schwach war, um über mein Schicksal zu reden. Aber auch heute, wo ich nicht nur über den Tod meines Vaters, sondern mittlerweile auch über den Tod meiner Mutter reden kann, wage ich nicht, diese Frage zu beantworten.

Es stimmt schon, dass ich, wie einige Verwandte es meinen, nach einem Vater suchte, nach einem erhabenen Vater, nach Gott, eine Suche, die meine Mutter mir trotz ihres guten Willens nicht ersparte. Ich suchte Gott, weil Papa, mein leiblicher Vater, weit weg von mir war. Eine weitere, mögliche Antwort wäre, dass ich Hilfe suchte, eine Stütze, eine Zuflucht. Ich sehnte mich so danach, nach etwas, was ich von meinen Eltern, besonders von meinem Vater zu wenig bekam! In Papas Reich habe ich keine Geborgenheit empfunden.

Papas Reich

Mein Herz ist leichter geworden, leichter als früher, als ich noch ein Kind war. Allein Zangas Nähe genügt, um meinen Kummer zu mindern, dieser Kummer, der meine Kindheit zerstörte, wegen der Fehler meiner Eltern, mit denen ich bis heute nicht fertig werde.

In der kleinen presbyterianischen Kirche Mbaangoks wurde meine Mutter vermählt für die Ewigkeit, nachdem der Häuptling der Yemezem im Sinne unserer Bräuche sie mit Papa verheiratet hatte. Wie ahnungslos war ihr Pastor! Er wusste nicht, dass das Paar, das er segnete, ein Kind erwartete. Acht Monate nach der Trauung meiner Eltern kam ich zur Welt.

Dreizehn Monate später tat ich meine ersten Schritte, ich machte mich auf den Weg zur Selbständigkeit. Ich begann, Dinge zu machen, die ich erst später von meiner Mutter erfuhr. Ich ging gern von Haus zu Haus, um mit anderen Kindern zu spielen. Auch die Kinder kamen zu mir nach Hause, wir spielten miteinander, bis ihre Mütter sie nach Hause zurückriefen. Dann spielte ich allein zuhause. Es sah nicht schön aus. Das merkte meine Mutter. Ich tat ihr so leid, dass sie mir gleich Geschwister schenken wollte. Aber das zweite Kind zögerte, kam nicht. Mamas erster Versuch, wieder schwanger zu werden, schlug fehl.

Sie hatte nur mich. Das ging noch. Schlimm ist, dass sie mir immer wieder zu verstehen gab, Papa hätte nur mich. Das erzählte sie mir sechs Jahre lang.

Aber ich hatte schon etwas geahnt: dass es ein Geheimnis in unserer Familie gibt. Immer wieder unterhielten sich Papa und Mama unter vier Augen. Manchmal waren mein Großvater und mein Urgroßvater dabei. Eines Tages kam die Wahrheit ans Licht, aus Mamas Mund.

»Ich wollte noch ein paar Jahre warten, um dir alles zu erzählen, ich finde dich einfach noch zu jung. Aber dein Vater meint, dass es Zeit ist, dir die Wahrheit zu sagen. Wenn ich weiter schweige, kommt er selbst irgendwann zu dir und erzählt dir alles … Ada, Liebste, du bist nicht allein, auch du hast Geschwister, viele Geschwister, du hast viele Brüder und Schwestern in Elat«, sagte sie verstört.

»Was?«, fragte ich überrascht.

»Ich spreche von deinen Geschwistern, von deinen Brüdern und Schwestern, die in Ebolowo’o sind, genauer in Elat. Wenn dein Vater nicht hier ist, ist er meist dort. Auch dein Urgroßvater und ich sind immer dort, wenn wir mit der Behandlung in Enonga fertig sind. Deswegen dauert es manchmal so lange, bis du uns hier wieder siehst … Das ist das eine …«

Es war wie eine gute Nachricht. Ich hatte mir so oft Geschwister gewünscht! Ich wollte sogar viele Geschwister haben, von Mama und anderen Frauen, weil die meisten Kinder unseres Dorfes, die viele Geschwister und Stiefgeschwister hatten, oft miteinander spielten. Aber manchmal fragte ich mich, ob ich Geschwister lieben könnte, die nicht Mamas Kinder waren. »Ach was, ich will nur spielen, viel viel spielen«, sagte ich mir dann.

Meine Wünsche hatte ich auch seit dem sechsten Lebensjahr ausgesprochen, aber leise, weil ich schon gemerkt hatte, dass Mama nicht so gern darüber redete. Aber nun sagte sie selbst mir die Wahrheit ins Gesicht.

Ich wollte jubeln, denn mich erfasste ein sehr starkes Gefühl, das Glück, Geschwister zu haben. Aber im selben Augenblick empfand ich etwas wie Trauer. Ich sah Mama an und ahnte, warum sie nicht glücklich aussah. Sie war verbittert. Zum ersten Mal fühlte ich, wie viel meine Mutter mir bedeutete! Ich musste Stellung dazu nehmen, ihr zeigen, dass ich an ihrer Seite war.

»Mama«, unterbrach ich sie, »diese Kinder sind nicht von dir. Oder?«, fragte ich.

»Nein, Ada, ich habe nur dich … Dein Vater hat nach mir andere Frauen geheiratet.«

»Geheiratet?«, fragte ich überrascht.

»Ja«, bestätigte Mama.

Das hätte ich nie geglaubt, wenn ich es nicht von Mama selbst erfahren hätte. Ich wusste, dass die meisten Männer unseres Dorfes (sah man von unserem Häuptling ab, der neun Frauen heiratete) nur mit ihrer ersten Frau verheiratet waren und die anderen nur da waren, um Kinder zu gebären und die Familie zu vergrößern, denn – das sagten die Alten unseres Dorfes – eine große Familie war Reichtum.

Ich hatte plötzlich Angst, fürchtete, dass auch Mama eines Tages Mbaangok verlassen könnte, wie die erste Frau unseres Häuptlings es getan hatte.

»Mama …, du wirst aber nicht gehen. Oder?«, fragte ich, während ich die rote Erde unter meinen Füßen beben sah. Ich sah dieses Erdbeben lange an, fragte mich, wann ich endlich unter dieser Erde liegen werde. So böse kamen mir die Menschen vor!

»Wieso gehen?«

»Wie die erste Frau von Opa Meba, dem Häuptling.«

»Oooh, Liebste, denke bitte nicht an so etwas. Das werde ich nie tun. Das tue ich nie. Ich kann dich nicht allein hier lassen.«

Ich wollte es ihr glauben, aber ich machte mir Sorgen, weil sie in meinen Augen gar nicht glücklich war.

Ich wollte Mama trösten, ihr zeigen, dass ich weiter zu ihr hielt, dass ich niemals Kinder lieben würde, die Papa mit anderen Frauen bekommen hat.

»Mama, diese Kinder sind gar nicht meine Geschwister. Ich habe gar keine Geschwister«, sagte ich leise, aber entschieden.

»Doch, Ada, du hast Geschwister! Tates Kinder sind deine Geschwister. Gut, es sind deine Stiefgeschwister, deine Halbbrüder und Halbschwestern, aber du sollst sie als deine Geschwister ansehen, als deine Brüder und Schwestern, und ihre Mütter sollst du mit ›Mama‹ anreden, das gehört zur Sitte hier in Mbaangok …«

Sie schwieg eine Weile, betrachtete mich forschend, dann fuhr sie fort: »Ich weiß, es sind keine besonders guten Nachrichten für dich. Verstehst du jetzt, warum ich nicht so früh mit dir darüber reden wollte?«

Ich schwieg, wollte nichts mehr sagen, nichts mehr hören. Ich war entsetzt, enttäuscht, weil Mama mich verwirrte, ich glaubte es ihr kaum, wollte nicht glauben, dass sie es für richtig hielt, dass ich meinen Vater mit Kindern teile, die nicht aus ihrem Leib gekommen waren, und dass sie selbst, meine Mutter ihn, meinen Vater, mit Frauen teilt, nur weil er in irgendeinem Dorf einen Brautpreis für sie bezahlt hatte und sie mit der Zustimmung unseres Häuptlings geheiratet hat, obwohl unsere Kirche, die ihn mit Mama für die Ewigkeit vermählte, keine von diesen Frauen anerkannte. Und ich sollte sie »Mama« rufen? Da sagte meine Mutter noch etwas, was in mir plötzliche Wut gegen diese Frauen und Kinder aufsteigen ließ. Sie sagte, dass Papa kaum bei uns in Mbaangok war wegen dieser Frauen und ihrer Kinder.

»Mama, sie nehmen uns Papa weg!«, rief ich.

»Liebste, nicht alle. Viele von diesen Kindern und ihre Mütter fühlen sich genauso verlassen von Tate wie du und ich. Nur fünf von ihnen und ihre Mutter sind mit deinem Vater jeden Tag, nein, jeden Abend zusammen, ich meine fast jeden Abend, ich rede von Nkouse’e und ihren Söhnen«, erklärte sie mir.

Es ist unglaublich, gar nicht nachvollziehbar, was sich manchmal unter den Christen abspielt. Mich traf diese letzte Erklärung Mamas wie ein Schuss ins Herz. Aber nicht das machte mir Angst. Ich fürchtete etwas anderes, nämlich dass mein Vater viele Frauen heiratete, weil meine Mutter keinen Sohn gebar und wahrscheinlich nie wieder Kinder gebären würde. An diesem Tag fing ich an, meinen eigenen Namen zu hassen, ich fragte mich, ob Ada alles sagt, was ich im Leben zu erfahren habe. A-da bedeutet nämlich du-eins, du-einzelne, Einzelkind, und ich blieb es, Mamas Einzelkind.

Die Kindheit ist die schönste Zeit des Lebens, die Zeit der Unschuld. Kinder sollen diese Zeit so lange wie möglich genießen. Aber irgendwann, manchmal zu früh, hören sie Wahrheiten, die ihre Eltern erst für sich behalten haben, wahre Geschichten, die sie von nun an ihr Leben lang zu verarbeiten haben.

Ein schreckliches Gefühl der Einsamkeit erfasste mich, obwohl meine Mutter dicht neben mir stand. Es war aus mit meiner Kindheit! Ich wusste es. Allein die Trauer, die mich an diesem Tag überkam, bestätigte es. Mir standen dicke Tränen in den Augen.

»Liebste«, versuchte meine Mutter wieder, »ich weiß, es ist nicht einfach für dich. Ich weiß es … Aber daran kann ich nichts mehr ändern … Ich kann nur noch zu Gott beten, damit er dir hilft …, damit er dafür sorgt, dass die Zeit dir hilft, diesen großen Fehler deines Vaters zu ertragen … Eigentlich durfte er so etwas nicht anrichten, weil wir nicht nur bei unserem Häuptling Meba, sondern auch in der Kirche geheiratet haben. Das ist überhaupt der Grund, warum du diese Frauen und Kinder nicht hier siehst. Dein Vater weiß genau, dass unser strenger Pastor es ihm nie verzeihen wird, dass er nach mir andere Frauen heiratete.« Meine Mutter holte kurz Atem, dann fuhr sie fort: »Jetzt verstehe ich, warum dein Vater zunächst gar nicht in der Kirche heiraten wollte. Hätte ich nicht darauf bestanden, wäre ich heute wie die meisten Frauen dieses Dorfes, die nur bei Meba geheiratet haben. Sie können sich nicht bei dem Pastor beschweren, wenn ihre Männer andere Frauen hierher ins Dorf bringen. Sie können sich nur bei dem Häuptling beschweren, der ihnen leider keine große Hilfe sein kann, weil er selbst acht Frauen hat. Aber ich werde mich bei niemandem beschweren. Dein Vater wird selbst ernten, was er gesät hat.«

Ich schaute zu Boden, fragte mich, ob ich träume, ob alles, was ich von meiner Mutter hörte, nichts anderes als ein böser Scherz war. Nein, es war kein Scherz, sondern die Wahrheit. Welch eine trostlose Wahrheit!

»Ada, Liebste, bist du schon so weit?«

»Ja«, antwortete ich mit einer heiseren, weinerlichen Stimme. Was sollte ich tun? Weglaufen?

»Gott sei Dank. Gott sei Dank. Es war nicht selbstverständlich …«

Nach dieser bitteren Offenbarung empfand ich nichts anderes als Trauer, so lange, bis mich wieder Neugier erfasste. Ich wollte wissen, wie Papa zu den vier anderen Frauen gekommen war. Meine Mutter erzählte mir alles.

Dein Vater wartete immer höchstens zwei Jahre, um wieder zu heiraten, selbstverständlich die Frauen aus Meyozo, weil – das erzählt er immer – sein Stammbaum es gebietet. »Die Yemezem und Ezakok vermählten sich für immer, als Obeme Abiaye Abe zur Frau nahm«, glaubt er. Das glauben noch viele hier. Seit Obemes Ehe mit Abiaye Abe heiraten die Yemezem die Ezakok gern, die schönen Frauen aus meinem Heimatdorf. Aber die Folgen sind oft bitter. Das wollen die Männer dieses Dorfes leider nicht zugeben. Aber was tun?

Ozila kam, Tates zweite Frau aus Meyozo, meine Kusine. Sie zählte von nun an zu unserer kleinen Familie, mit dem Auftrag, Tate einen Jungen zu gebären, unsere Familie zu vergrößern. Sie gebar auch ein Kind, aber auch ein Mädchen. Armer Tate! Die Geburt dieses Kindes trübte sein ganzes Leben. Dein Vater war wie aus den Wolken gefallen, sah nichts mehr, selbst nicht diesen Nebel, der ihn zwang, sich spätestens alle zwei Jahre mit einer neuen Frau trauen zu lassen. Ein Nebel hinderte deinen Vater zu erahnen, dass seine Frauen ihm zum Verhängnis werden könnten. Nach Ozila kam Nkouse’e, nach Nkouse’e kam Ebolo. Am Ende kam Kulu, die fünfte und letzte Frau deines Vaters. Alle meine Kusinen. »Er ist verrückt«, sagten die Nachbarn in Elat. »Der hat Geschmack«, tratschten andere. Wenn dein Vater zufällig diesen Klatsch hörte, hielt er sofort seine sonst hängenden Schultern aufrecht, durchquerte gehobenen Hauptes seinen weiten Hof und betrat mit dem Gang eines jungen Häuptlings die Türschwelle seines Hauses.

Dein Vater war in einem Nebel befangen, was für mich nicht einfach war. Es war wie ein Alptraum. Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich die Frau bin, der Tate in einer Kirche in Gegenwart eines Pastors ewige Treue versprach. Mit mir hätte dein Vater keine weiteren Frauen nötig gehabt, wenn ich ihm – das sagt er immer – Jungen geboren hätte. Daran zweifeln alle, die deinen Vater gut kennen. Er liebt die Frauen sehr. Er verließ mich gleich nach meiner ersten Fehlgeburt, weil er in Meyozo schöne Frauen kannte, meine Kusinen, die er nie vergaß.

Einmal lächelte ihn eine an, Ozila. Es war an dem Tag, an dem er dort um meine Hand bat, im Jahre 1970. Achtzehn Monate später, im Frühjahr 1972 ging er wieder nach Meyozo und bat um Ozilas Hand, die er auch ohne große Mühe bekam. In Elat hatte er schon ein großes Haus für sie gebaut, weit weg von hier. So beruhigte er Ozilas Eltern. An diesem Tag sah Tate andere, noch schönere junge Frauen, meine anderen Kusinen. Kurz nach der Geburt der Zwillingstöchter von Ozila fielen sie ihm wieder ein. Dann fuhr er zum dritten Mal nach Meyozo, ging ins Haus von Nkouse’es Eltern, bat um ihre Hand und bekam sie, auch mühelos. Wieder empfingen sie Tate wie einen König. Er gewann alle Herzen Meyozos, weil er der reichste Schwiegersohn unseres kleinen Dorfes war, weil er nie ohne Bierkisten und immer mit Taschen voller Fleisch und Fisch dorthin fuhr, aber vor allem, weil er diese Sachen nicht nur an seine Schwiegereltern, sondern an alle gab, die er dort fand. Sie liebäugelten weiter mit ihm, auch nachdem er Nkouse’e bekommen hatte. Das hieß: Sie wollten ihn wieder dort sehen. Und sie sahen ihn wieder, nicht nur einmal, sondern zweimal, ließen ihn mit Ebolo, am Ende mit Kulu nach Ebolowo’o gehen. Es war, als ob meine Onkel ihre Töchter verkauften.

Teilen war Tates Größe, wenn es um das Essen und Trinken ging, aber vor allem, wenn es darum ging, Frauen zu suchen. Am liebsten hätte er all meine Kusinen geheiratet. Er wollte mehr Frauen als unserer Häuptling haben, sein Onkel Meba, den er um seine acht Frauen beneidete. Es war derselbe Onkel Meba, der in Mbaangok – seinem Neffen zuliebe – heimlich Tate mit den anderen Frauen verheiratete, damit der Pastor nichts davon erfuhr. Dein Vater wollte ein richtiges Frauenreich. Aber irgendwann wurde ihm klar, dass er nicht der reichste Mann in diesem Dorf sein kann. Deshalb hat er nur fünf Frauen geheiratet.

Sie gebaren ihm Kinder, vermehrten sich im Sinne seiner Bräuche. Jedes Jahr kam ein Kind zur Welt, manchmal kamen zwei, drei, vier bis sechs. 1972 ist Abe, Ozilas erste Tochter geboren, sie kam drei Monate zu früh zur Welt, aber überlebte. Sie hatte leider ein Loch im Herzen, das ihr Leben sehr schwer machte. Ein Jahr danach bekam Abe Zwillingsschwestern, Odene und Ndubu. 1974 kam Ossounou zur Welt, Nkouse’es erste Tochter. Sie wog bei der Geburt 11 Pfund, und war kerngesund. Auch in diesem Jahr gebar Ozila Zwillinge, zum zweiten Mal, sie hießen Assomo und Bandolo. Im Frühjahr 1975 bekam Nkouse’e wieder Zwillinge , auch Mädchen, Mindjuk und Ngole. Anfang des Jahres 1976 heiratete dein Vater Ebolo, die kurz danach Zwillinge bekam, zwei weitere Mädchen in der Familie, Milabo und Bidjabo. Kurz vor Ende des Jahres kam Assimba zur Welt, Ebolos drittes Kind, ungewöhnlich hübsch, dieses Mädchen, das – wie die Schwestern Enongas im Scherz meinten – seinen Eltern viel Ärger bereiten würde.

Die Frauen gebaren und gebaren, aber sie gebaren nur Mädchen: sechs Jahre lang. Erst am 31. Dezember dieses Jahres 1976, das – das meinten dein Vater und seine Frauen – besonders fruchtbar war, geschah ein Wunder: Tate begrüßte seinen ersten Sohn.

Er glaubte schon, er wäre verflucht, fürchtete, seine Ahnen hätten ihn verdammt und er könnte deswegen keinen Sohn zeugen, bis er kam, sein erster Sohn, nach sechs Jahren Wartezeit. »Endlich!«, rief er nach Bekolos Geburt. »Wenn du nur wüsstest! Junge, wenn du es nur wüsstest! Der liebe Gott ist noch mit mir. Nkouse’e, meine Liebste, meine Liebste!«, sagte er.

Sie war von nun an die Geliebteste, Nkouse’e, seine Liebesgöttin. Im Jahre 1977 – auch ein besonders fruchtbares Jahr – gebaren drei seiner Frauen insgesamt sechs Kinder: Nkouse’e bekam zwei weitere Jungen, Bita und Belibi, Zwillinge. Ebolo gebar zum zweiten Mal Zwillinge, Adimba und Assoumou, Mädchen. Kulu, die erst sechs Monate verheiratet war, setzte Abena und Eyenga in die Welt: auch Mädchen.

Dein Vater heiratete nur Schwangere, manchmal kurz vor der Geburt. Ebolo war im siebten Monat schwanger, als sie sich trauen ließen. Das bedeutet, dass er oft fremd ging, von einer Frau zu anderen. In Ebolowo’o traf er sie immer heimlich, meine Kusinen aus Meyozo. Sie kamen immer zur Verabredung. Erst wenn er die ersten Zeichen einer Schwangerschaft in ihren Gesichtern sah, heiratete er sie. Kein Brautpreis umsonst. Kinder, Erben sollten die Belohnung für die Bierkisten und Taschen voller Fleisch und Fisch sein, die er seinen Schwiegerfamilien immer gab.

Im Januar 1978 kamen wieder zwei Jungen zur Welt, der vierte und der fünfte von Nkouse’e, Edimbi und Andobo. Mit zwei Mädchen erhöhte Kulu im Februar dieses Jahres die Zahl der Zwillinge in der Familie: Akamba und Bikomo. Wie Kulu Angst hatte! Sie hatte Angst vor ihren eigenen Kindern, weil sie den abergläubischen Nachbarn alles glaubte, was sie über die Zwillinge sagten. Zwillinge stehen unter besonderen Sternen, es sind keine gewöhnlichen Kinder, sie haben übernatürliche Kräfte, reden mit Toten, haben allerlei Verbindungen mit Hexen und Zauberern, haben einen besonderen Hang zum Tod, wenn einer stirbt, muss man mit dem Tod des anderen rechnen … und so weiter. Nur Gerede! Kulus Zwillinge verhielten sich wie gewöhnliche Neugeborene, sie waren gewöhnliche Kinder. Ihre letzten Zwillinge kamen elf Monate nach der Geburt von Akamba und Bikomo. Sie hießen Bilounga und Dondo, ein Mädchen und ein Junge. Ebolo gebar die ersten und letzten Drillinge, Anfang des Jahres 1978, Fouman, Mintcha und Zobo, es waren drei Mädchen aus demselben Ei. Am Ende nannte man Ebolo die fruchtbarste Frau. Sie bekam im Dezember des Jahres 1978 Bilo’o‚ ihre neunte Tochter. »Das reicht«, rief dein Vater nach ihrer Geburt. Kurz danach ließ er sich bei einem berühmten Arzt in Enonga zeugungsunfähig machen. Aber es war zu spät. Er hatte schon zu viele Kinder.

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