Read the book: «Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch»

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Peter Langer

1. Auflage Juni 2019

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Umschlaggestaltung: Ika Putantro, Den Haag, NL

Umschlagabbildung: Portrait Paul Reusch, Gemälde von Fritz Erler,

RWWA 130-47000/0

ISBN 978-3-87468-391-3

© Karl Maria Laufen, Oberhausen 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.laufen-online.com

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Prolog

1.Der neue Vorstandsvorsitzende der GHH im Kaiserreich

Der Expansionskurs des neuen Generaldirektors

Wachsende Spannungen mit Gewerkschaften und den Interessenverbänden der Angestellten

Politisches Engagement in nationalistischen und erzkonservativen Gruppen: Die „Deutsche Vereinigung“

Einfluss auf die Nationalliberale Partei vor Ort

Die lokale Verankerung

Der Bergarbeiterstreik im März 1912

Verstärkte Förderung der „gelben“ Werkvereine

Kompromissloser Kampf gegen die Sozialdemokratie

Reusch und Woltmann: Zum Führungsstil des Konzernherrn

Erste Zwischenbilanz

2.Der Konzernherr im Krieg

Reusch als aktiver Teilnehmer in der Kriegszieldebatte: Das Eisenerz in Nord-Frankreich im Zentrum des Interesses

Reuschs Beiträge zur Kriegszieldebatte im weiteren Verlauf des Krieges

„Burgfrieden“ bei der GHH: Personalprobleme in der ersten Kriegshälfte

Kriegsgewinne

Erwerb des Schlosses „Katharinenhof“

Die Realität des Krieges

Im Kriegsernährungsamt

Das Ende des „Burgfriedens“

Träume von der Verteilung der Beute

Durchhalteparolen in den letzten Kriegswochen: Der Propaganda-Apparat der „Deutschen Vereinigung“

Kontakte zu den Gewerkschaften

Fazit am Ende des Krieges

3.In Abwehrhaltung: Der Konzernherr der GHH in der Revolutionszeit 1918/19

Der Ausbruch der Revolution

Arbeiterausschüsse, Arbeiter- und Soldatenräte und die Stadtverwaltung – im Mittelpunkt der Acht-Stunden-Tag

Reuschs Treuebekenntnis zu den gelben Werkvereinen

Unruhen im Dezember 1918 und Januar 1919

Die Wahl zur Nationalversammlung

Der Generalstreik im Februar 1919

Kommunalwahlen am 2. März 1919

Militäreinsatz im Ruhrgebiet

Der Generalstreik im April 1919

4.Republikaner aus Vernunft? Reusch in der Gründungsphase der Weimarer Republik bis zum Kapp-Putsch

Voller Misstrauen und Pessimismus in die neue Republik

Die Kontroverse um Hugo Stinnes und die Verhandlungen mit den Alliierten

Reusch auf Hugenbergs Seite bei der Debatte um die „Sozialisierung“

Die Kohlennot im Winter 1919/20: Schuldzuweisungen

Der Kapp-Putsch und die Folgen

Die Hetz-Flugblätter der „Deutschen Vereinigung“ im Wahlkampf 1920

Bolschewismus-Furcht und Untergangsvisionen

5.Der Ausbau des Konzerns 1919–1920

Prolog 1918: Mehrheitsbeteiligung bei der Deutschen Werft

Die finanzielle Ausgangssituation

„Schwerindustrieller Wucher“

Vertikale Expansion: Erster Akt

Die Übernahme der MAN

Nachwehen der Übernahmeschlacht

Straffe Führung des Konzerns

Weitere Firmenkäufe

Einstieg in die Verbandspolitik

6.Inflation und Streit um die Reparationen

Agitation gegen die Reparationen

Der Streit um die Erhöhung der Rohstoffpreise

Reaktionen auf den Rathenau-Mord

Galoppierende Inflation und verschärfte Spannungen mit den Siegermächten im zweiten Halbjahr 1922

Neue Offensive gegen den Acht-Stunden-Tag

Reusch zum Entwurf eines „Wirtschaftsprogrammes“ des RDI

Am Vorabend der Ruhrbesetzung

7.Die Männerfreundschaft Reusch – Spengler

Spenglers Phantasien von der Lenkung der deutschen Presse

Die Kontakte Reusch – Spengler während des Ruhrkampfes 1923

Reuschs Anweisungen für die Konzerneigene Presse

Spenglers Träume von einer Militärdiktatur

Weitere Gedankenspiele um die Lenkung der Presse

Nach dem Ruhrkampf

Bilanz der Periode 1920–1922

8.Widerstand während der Ruhrbesetzung 1923

Die Ausgangssituation Ende 1922

Die Verlagerung der Konzernleitung nach Nürnberg

Repressalien und Durchhalteparolen

Die Schlüsselrolle der Eisenbahn im passiven Widerstand

Risse in der Einheitsfront gegen die Besatzungsmächte

Verschärfte Schikanen der Besatzungsmächte – Sabotage-Akte von deutscher Seite

Versuche einer politischen Lösung

Sommer 1923: Unruhen in den Werken und auf den Straßen

Die Reaktion auf den Wechsel von Cuno zu Stresemann

Gehälter und Löhne in der Endphase der galoppierenden Inflation

Reuschs zuversichtliche Bilanz nach acht Monaten Besatzung

Verhandlungen mit der Micum

Währungsreform und Abschaffung des Achtstundentages

Reuschs extreme Position in der Arbeitszeitfrage

Feldmans Bilanz

9.Der Sprecher der deutschen Großindustrie in den Goldenen Zwanziger Jahren

Ab Juni 1924 Vorsitzender des Langnamvereins und der Nordwestlichen Gruppe des VdESI

1924: Der Kampf um den Dawes-Plan

Ab 1925 „das übliche Lamento“ auch im Konjunkturaufschwung: „Schuldenwirtschaft“, Steuerbelastung, Sozialpolitik

„Die Schuldenwirtschaft“

„Mehrheit ist Unsinn“

Das schwierige Verhältnis Reusch-Hugenberg

Reaktionäre Positionen zum Jahreswechsel 1925–1926

Internationale Wirtschaftsverflechtungen im Zeichen der Reparationen: Die USA-Reise 1926

Die Rolle Reuschs in der Silverberg-Kontroverse 1926

„Lasst die Wirtschaft doch endlich einmal in Ruhe!“

Konflikte im Winter 1926/27

Das „anonyme Herzogtum“ in der Phase der bürgerlichen Rechtsregierung 1927

1927 weiterhin auf der Tagesordnung: Die Frage der Arbeitszeit

Engagement für den „Deutschen Osten“

Die Gründung der „Ruhrlade“ und des „Bundes zur Erneuerung des Reiches“

Interesse für den Bestseller „Die Herrschaft der Minderwertigen“

Reusch als Scharfmacher im Ruhreisenstreit

Weitere Zwischenbilanz

10. Reuschs Sprache

11. Streit um den Young-Plan und Bruch der Großen Koalition

Die Verhandlungen über den Young-Plan

„Herr mach uns frei“: Die Mitgliederversammlung des Langnamvereins am 8. Juli 1929

Die Anfänge der Kampagne für das „Volksbegehren“

Reuschs Marionette im Reichstag: Oberst v. Gilsa

Der Reichsverband tagt in Düsseldorf

Der heiße Herbst 1929

„Aufstieg oder Niedergang“: Die Denkschrift des Reichsverbandes der Industrie

Der Konflikt um die Arbeitslosenversicherung

Die Steuerung der Marionette in der DVP-Reichstagsfraktion

Bürgerliche Sammlung auf kommunaler Ebene mit Schützenhilfe durch die SPD

Nächtliche Kontrolle im Finanzministerium/Parole: Kampf gegen den Sozialismus

Weitere Zwischenbilanz

12. Paul Reusch in der Ära Brüning

Zurückhaltung in den ersten Monaten der Regierung Brüning

Reuschs Rückkehr in die politische Arena: Der Streit um den Haushalt im Juli 1930

Der Traum von der bürgerlichen Sammlungspartei

Septemberwahlen 1930

Fühlungnahme zur NSDAP / Entfremdung von der Regierung Brüning

Wechsel im Vorsitz des Reichsverbandes der deutschen Industrie (RDI)

Konfrontationskurs gegen Brüning

Die Mobilisierung der Zeitungen des Konzerns für „die kapitalistische Weltanschauung“

Die Harzburger Front

Das Interview mit dem amerikanischen Journalisten H.R. Knickerbocker

Rechte Sammlungspartei durch Übertritt zu den Deutschnationalen

Reuschs Treffen mit Hitler

Die Finanzierung der bürgerlichen Parteien durch die Industrie

Richtlinien für die Zeitungen des Konzerns

Fazit

13. Paul Reusch und die „Machtergreifung“

Der Firmenpatriarch am Vorabend der Machtübertragung an Hitler

Priorität der Firmeninteressen/Risse im Lager der Schwerindustrie

Bemühungen um die Einbindung der Nazis in ein großes Rechtsbündnis

Innenpolitische Einflussnahme im August 1932

Reusch als Zuschauer bei den politischen Ereignissen im September 1932

Herbst 1932: Entfremdung von den Nazis

Skepsis und Zurückhaltung: Reuschs Reaktion auf die Novemberwahl und deren Folgen

Kritik am Programm der Regierung Schleicher

Reusch und die Intrigen im Januar 1933

Reaktionen auf die Machtergreifung im Lager der Unternehmer

Die Besprechung der Großunternehmer mit Hitler am 20. Februar 1933

Handlungsspielräume in der Diktatur

Zwischenbilanz Anfang 1933

14. Als Großindustrieller im NS-Staat

Nach dem Urlaub der Versuch des „business as usual“

Entlassung von Reichsbankpräsident Luther

Reusch contra Thyssen: Die letzte unabhängige Präsidialsitzung des RDI am 23. März 1933

Der Putsch im Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI): Reusch wird übergangen

5./6. April 1933: Reuschs Einschwenken auf Anpassungskurs

Ratlosigkeit im Umgang mit den NS-Machthabern

Reusch schweigt bei der vollständigen Gleichschaltung des RDI

Gleichschaltung des Deutschen Industrie- und Handelstages

Gründung des „Reichsstandes der Deutschen Industrie“

Fortbestand der Ruhrlade

Das Verhältnis Reusch-Schacht

Die Zäsur im Sommer 1933: Das scheinbare Einschwenken des Regimes auf einen pragmatischen wirtschaftspolitischen Kurs

15. Paul Reusch und die Gleichschaltung der ’Münchner Neuesten Nachrichten’ 1933

Die „Münchner Neuesten Nachrichten“ vor der Gleichschaltung

Staatsstreich in Bayern: Terror gegen eine kritische Zeitung

Das „Eingreifen“ von Haniel und Reusch

Beschlagnahme des Kapitals: Zerwürfnis zwischen Reusch und Haniel

Reuschs Verhandlungen mit Himmler

Reuschs Rückzug auf eine Beobachterrolle

Die Situation der Verhafteten

16. Zwischenbilanz am Ende der Gleichschaltungsphase

17. In der konsolidierten Diktatur 1933/34

Die Einstellungspolitik der GHH in der Phase der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Reuschs Rückzug aus Verbandsposten auch im Dritten Reich

Vertretung der GHH im „Russlandausschuss der deutschen Wirtschaft“

Die Treuekundgebung der deutschen Wirtschaft

Reuschs persönliche Bilanz im Herbst und Winter 1933/34: Nach außen forcierte Anpassung, intern skeptische Distanz

Regieanweisungen für die Einweihung des Kriegerdenkmals der GHH

Reuschs Umgang mit den Opfern der Gleichschaltung

Die Übernahme der GHH-Anteile am Verlag Knorr & Hirth durch den Eher-Verlag der NSDAP

18. Aufrüstung – Die GHH im Rüstungsboom bis zu Reuschs Abgang 1941/42

Pflege der Kontakte zu Reichsbankpräsident Schacht: Mit Volldampf ins Rüstungsgeschäft

Enge Kontakte zu Reichskriegsminister Blomberg und zur Wehrmacht

Die konsequente Ausrichtung des GHH-Konzerns auf das Rüstungsgeschäft

Die „Denkschrift über die Aufwendungen der GHH im Zuge des Vierjahresplanes“

Das Rüstungsgeschäft der MAN und anderer Tochterfirmen des GHH-Konzerns

Das „Motorenwerk der Howaldtswerke AG“ in Hamburg

Die Auswirkungen des Rüstungsbooms auf den Konzern insgesamt

19. Autarkie: Erschließung und Aufbereitung inländischer Erze

Inländische Erze und deutsche Stahlindustrie

Die Aufschließung der Erzgruben der GHH

Der Kontaktmann der GHH in der Reichskanzlei: Wilhelm Keppler

Subventionen und Konkurrenzdruck

Verschärfter Druck der Regierung: Pleiger verdrängt Keppler

Intensivierung des „Lobbying“ im Reichswehrministerium

Pleiger macht Druck im Revier / Keppler auf dem Rückzug / Melancholie bei Schacht

Die Rolle der GHH in der Rohstoffpolitik des Vierjahresplans

GHH-Bergassessor Kipper als Rohstoffexperte in Görings Behörde

Fast vollständige Unterwerfung unter Görings Kommandowirtschaft

Das Ende der Ruhrlade

Reusch wird 70

Hauptversammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute im November 1938

Fazit

20. Aggression: Die Einbindung der GHH in Hitlers Angriffskrieg

Reusch in der Phase der Blitzkriege

Zwangsarbeit bei der GHH

21. Als Unternehmer im Widerstand?

Das Verhältnis der GHH-Firmen zur NSDAP im Alltag

Reusch als Aufsichtsratsvorsitzender der Bayrischen Vereinsbank

Der Konflikt Reusch – Franke 1941

Wertung

Der „Reusch-Kreis“

Die Kaltenbrunner-Berichte

Ulrich von Hassell über Reusch

Vergleiche

22. Die Verantwortung des mächtigen Großunternehmers Paul Reusch

Epilog

Archive

Literatur

Abkürzungen

Register

Zum Autor

Vorwort

Zwei Bücher gaben den Anstoß, eine biographische Studie über den Oberhausener Großindustriellen Paul Reusch zu schreiben.

Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte Hans Mommsen in der Stadtbibliothek von Oberhausen sein Buch über die Weimarer Republik vor: „Die verspielte Freiheit“. Nachdrücklich verwies er bei dieser Vortragsveranstaltung auf die fatale Rolle der Schwerindustrie und namentlich auf die persönliche Verantwortung von Paul Reusch für die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie. Mommsens harsches Urteil war für einen Teil des Oberhausener Publikums nicht ganz leicht zu verdauen, umrankt doch den früheren Vorstandsvorsitzenden der GHH bis heute der Mythos des autoritären, aber gerechten Konzernlenkers, der den braunen Machthabern ab 1933 unbeugsam die Stirn bot.

Etwa zur gleichen Zeit stieß ich auf das Buch von Henry A. Turner über die Rolle der deutschen Großunternehmer beim Aufstieg Hitlers. Turner widerlegte die allzu vereinfachende Sicht, wonach „die Industrie“ Hitler für ihre Zwecke engagierte, finanzierte und lenkte.

Zwingende Schlussfolgerung dieser beiden Bücher war, dass auch bei den lokalhistorischen Forschungen die Frage nach der Rolle des Generaldirektors der GHH zu stellen ist.

Nachdem ich einen ersten Aufsatz über „Paul Reusch und die Machtergreifung“ im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum hatte vorstellen können, ermutigte mich Klaus Tenfelde, an diesem Thema weiter „dran zu bleiben“. Nach drei Aufsätzen kam von ihm die Aufforderung: „Machen Sie doch ein Buch über Paul Reusch!“ Seine Kritik und seine inhaltlichen Anregungen haben mir geholfen, mehr als ein Jahrzehnt, trotz vieler Unterbrechungen, durchzuhalten. Klaus Tenfelde ist im vergangenen Jahr ganz plötzlich gestorben. Es ist unendlich traurig, dass ich ihm das Buch nicht mehr persönlich präsentieren kann.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Archive haben mir bei den Recherchen immer mit klugen Hinweisen und viel Geduld geholfen. Besonders hervorzuheben ist das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv zu Köln, wo sich die Bestände des früheren GHH-Archivs jetzt befinden. Dass die Bestände seit einigen Jahren online erschlossen sind, erleichtert die Arbeit des Historikers sehr. Seit Mitte der neunziger Jahre fuhr ich unzählige Male nach Köln und traf immer auf freundliche und kompetente Helfer, die mir bei der Durchforstung der Aktenberge mit Rat und Tat zur Seite standen. An erster Stelle möchte ich die Unterstützung durch Herrn Dr. Weise hervorheben. Besonders möchte ich aber auch Herrn Greitens danken, der sich auch inhaltlich für die Dokumente interessierte, die er für mich bereit hielt, und mir manchen nützlichen Hinweis gab.

Besonders danken möchte ich aber meiner Frau, die Teile des Manuskripts gelesen und mir dadurch vor allem geholfen hat, in einer verständlichen Sprache zu schreiben. Sie musste es ertragen, dass ich in den vergangenen Jahren große Teile unserer – eigentlich gemeinsamen – Freizeit in Archiven oder vor dem Computer verbrachte.


Im Juni 2012 Peter Langer

Einleitung

Karl Jaspers schreibt in seinem Geleitwort zu Hannah Arendts Buch über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“: „Für die Verfasserin gilt nicht der alte Satz: So musste es kommen. Die Konstruktionen der Sinnzusammenhänge, die zu Kausalitäten in der Geschichte werden oder werden können, sind nicht als schlechthin zwingend gemeint. Denn erkannt, sind sie revidierbar. Es liegt am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird.“1 Es gilt also der Frage nachzugehen, wer die großen Katastrophen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verursacht hat, wer die Täter und ihre Helfer waren und wer versucht hat, die Verbrechen zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, was „an Paul Reusch lag“.

Paul Reusch war kein Politiker. Aber was immer er in den 33 Jahren als Vorstandsvorsitzender der GHH-Konzerns tat oder sagte, war eminent politisch.2 Vor allem in den Jahren der Weimarer Republik, aber keineswegs nur da, übte er politische Macht aus und ist deshalb in die Verantwortung zu nehmen für die politischen Katastrophen in den drei Jahrzehnten seines Wirkens von 1909 bis 1942. Denn Verantwortung ist das Korrelat der Macht (Hans Jonas) – je mehr Macht, desto mehr Verantwortung.

Wenn diese biographische Studie das besondere Augenmerk auf das politische Handeln legt, so darf der Begriff „politisch“ nicht zu eng gefasst werden. Das politische Handeln eines einflussreichen Großunternehmers umfasst mehr als die direkte Lobby-Tätigkeit bei Regierungsangehörigen und Parlamentariern, wenngleich diese Art der Einflussnahme immer mit im Zentrum des Interesses steht. Das Engagement in der Verbandspolitik geht über gezieltes Lobbying weit hinaus. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, z. B. durch den Kauf von Zeitungsverlagen, gehört in diesen Zusammenhang. Aber auch vermeintlich unpolitische, „rein geschäftliche“, ausschließlich an den engeren Firmeninteressen orientierte Aktivitäten können immense politische Auswirkungen haben. Dies gilt vor allem für die betriebliche Sozialpolitik, für das Verhältnis zu Betriebsräten und Gewerkschaften, aber auch für die Expansion zum Großkonzern. Wenn „Expansion“ das zentrale Element und Kennzeichen des Imperialismus ist und wenn der Imperialismus eine der Wurzeln des Nationalsozialismus ist (Hannah Arendt), dann kann die vertikale Expansion eines schwerindustriellen Konzerns nicht „unpolitisch“ sein. Die Unternehmensgeschichte kann daher nicht ausgeblendet werden. Dennoch ist hier eine Grenzziehung unvermeidlich: Eine biographische Studie über einen Unternehmer kann die Unternehmensgeschichte nicht ersetzen.

Die Frage nach der Verantwortung des mächtigen Großunternehmers Paul Reusch wird also in erster Linie an der politischen Dimension seines Handels festgemacht. Gliederungsprinzip ist natürlich die Chronologie, lässt sich doch seine sehr lange Zeit als Vorstandsvorsitzender von 1909 bis 1942 in klar voneinander zu trennende Zeitabschnitte einteilen: Es geht um die Rolle von Reusch in der „fatalen imperialistischen Hochrüstungsepoche“ (Klaus Tenfelde) vor dem Ersten Weltkrieg, dann im Verlauf dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts 1914 bis 1918, danach während der ersten deutschen Demokratie bis 1933 und schließlich in der Barbarei des Dritten Reiches.

Die Rolle der führenden Politiker der drei Jahrzehnte von 1909 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ist bis in alle Details von Historikern ausgeleuchtet worden. Dies gilt nicht in gleichem Maße für die Großunternehmer, mit denen Paul Reusch ständig zu tun hatte – als Konkurrenten, als Verbündete, zum Teil als Gleichgesinnte, zum Teil aber auch als politische Gegner. Dass das Drama dieser Jahre in eine unvorstellbare Katastrophe mündete, „lag auch an ihnen“ – um die Formulierung von Karl Jaspers erneut aufzugreifen.

Das Drama von Reuschs drei Jahrzehnten als Vorstandsvorsitzender der GHH – fast deckungsgleich mit der Periode, die heute bisweilen als zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet wird – hat seinen Niederschlag im Archiv der Gutehoffnungshütte gefunden. Große Teile dieses Buches beruhen auf den Dokumenten dieses Archivs. Wenn ich den Leser sozusagen mitnehme nach Köln ins Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv, wo die Akten heute aufbewahrt und gepflegt werden, so fordere ich ihn damit auf zu beurteilen, ob ich dort alle wichtigen Dokumente entdeckt und diese richtig interpretiert habe.

Ich war nicht der erste, der diese Akten erschlossen hat. Renommierte Historiker haben vor mir im GHH-Archiv gearbeitet und über Reusch publiziert. Natürlich verlasse ich mich im vorliegenden Buch auch auf deren Urteil. Hier sind vor allem zu nennen: Gerald D. Feldman, Bernd Weisbrod und Henry A. Turner, Jr. Bei der Akzentuierung der Sachverhalte und bei der unvermeidlichen Wertung greife ich durchgängig auf die Standardwerke von Hans Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler zurück. Vor allem für die Endphase des Kaiserreichs und den Ersten Weltkrieg, aber auch darüber hinaus, orientiere ich mich an den Erkenntnissen von Fritz Fischer, für die Weimarer Republik und für das Dritte Reich an vielen Stellen an den Forschungen von Hans Mommsen.

 1Karl Jaspers, Geleitwort, September 1955, in: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Pieper, München/Zürich, 6. Aufl. 1998, S. 12; ursprüngliche Originalausgabe: „The Origins of Totalitarianism“, New York 1951.

 2Diese Unterscheidung bei: Günter Brakelmann, Zwischen Mitschuld und Widerstand. Fritz Thyssen und der Nationalsozialismus, Essen 2010, S. 7.