Geschichten aus Thumberg (Band 1)

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Geschichten aus Thumberg (Band 1)
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Peter H. Brendt

Geschichten aus Thumberg

1. Wo ist der Wein?

Einleitung

Im «Roten Pony»

Die Schwanengasse

Die schwarze Brücke

Im Lagerhaus

Finale

2. Die schlechteste Diebin der Stadt

Einleitung:

Die Prüfung

Flucht

Die «Rote Schlange»

Im Rosenviertel

Im Labyrinth

Im Turm

3. Betteljunge

Abenddämmerung

Impressum neobooks

Peter H. Brendt

Geschichten aus Thumberg

1. Wo ist der Wein?

***

Einleitung

Die wichtigen Entscheidungen in Thumberg werden in den Amtsstuben der Beamten und der Wachen getroffen. Das Leben spielt sich in den Adern der weitverzweigten Gassen und Straßen der Hafenstadt ab. Aber ihr Herz schlägt in den großen und kleinen Tavernen, Gasthäusern und Etablissements mit großzügigen Damen und zweifelhaftem Ruf. Die Grenzen sind bisweilen unscharf, aber eine Sache einigt sie alle. Man benötigt Bier, Wein oder Branntwein, um das Blut durch die Adern Thumbergs fließen zu lassen.

Im «Roten Pony»

Litwolff warf einen prüfenden Blick in den großzügigen Gastraum des «Roten Ponys». Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zum abendlichen Wachwechsel am Nordtor. Deshalb saß nur eine Handvoll Gäste an den Tischen. Seine Handlanger nutzten die Gelegenheit für eine Pause in einem der Hinterzimmer.

Normalerweise gab ihm diese beschauliche Stunde die Möglichkeit, in aller Ruhe im Keller nach dem Rechten zu sehen. Jedoch diesmal nagten Sorgen an der gewohnten Gelassenheit.

Immer wieder schaute er nervös zum Vorhang hinter der Theke, der den Schankraum vom Getränkelager trennte. Der Wirt des beliebtesten Gasthauses in Thumberg erwartete, dass jeden Moment einer seiner Leute mit der Nachricht eintraf, dass die bestellten Vorräte endlich eingetroffen waren.

Süßtraube aus der Hellermark. Lieblich, süffig und normalerweise zu dem Preis nicht zu bekommen. So hochwertig, dass er sogar mit der in der Hafenstadt üblichen Verdünnung allen Gästen schmeckte. Und den besonderen Freunden des «Roten Ponys» schenkte er der Wein pur und unverwässert ein.

Bereits am Anfang des Handels warnte ihn sein Bauchgefühl. Hätte er nur darauf gehört. Das Angebot klang allerdings zu verlockend. Nicht so übertrieben, dass sein Misstrauen geweckt wurde. Aber günstig genug, um seine Neugier zu wecken.

Trotz der Bedenken bestellte der Gastwirt eine größere Menge als üblich. Neue Lieferanten teste er erst ausgiebig, bevor er die Bestellung beim nächsten Mal vergrößerte. Doch die ursprüngliche Lieferung war auf dem gewohnten Handelsweg verloren gegangen. Ein Steinschlag begrub Wagen, Zugtiere und drei Wagenführer in der Eisenschlucht nur zwei Tagesreisen vor Thumberg.

Aus diesem Grund saß das «Rote Pony» praktisch auf dem Trockenen. Die Alternative bestand aus dem saurem Effelwein, den er verabscheute und Kunden nie zumutete. Kurz, nicht nur die Versorgung der Gäste stand auf dem Spiel, sondern sein guter Ruf ebenfalls.

Und Bier gab es wegen der heißen Witterung, die die Brauer behinderte, erst wie üblich zum Beginn des Herbstes. Magere Zeiten, und wenn Sorm, der schleimige Weinhändler erfuhr, welche Leere im Keller des «Roten Pony» herrschte, verlangte er für das Effelzeug zusätzlich noch einen beachtlichen Zuschlag.

Seine Augen suchten Cryst. Vertrauter, Freund und Schutzbefohlener. Wie erwartet, schlief der in der hintersten Ecke, nah bei den mit Vorhängen verhängten Einzelzimmern für besondere Gäste und schnarchte. Die Feder am Hut taumelte bei jedem Atemzug, als ob ein kleiner Sommersturm damit spielte.

Nun war Litwolffs Situation ernst, doch nicht so hoffnungslos, dass er bereit war, die Position an der Theke aufzugeben. Quer durch Raum zu brüllen, lag unter seiner Würde und die wenigen Hilfskräfte pausierten im Hinterzimmer, bis nach dem Wachwechsel der Stadtwachen neue Gäste das Gasthaus füllten.

Er griff in die Apfelkiste, die genau für solche Zwecke hinter dem Tresen stand. Er bediente sich gern der faulen Früchte, um Handlanger mit dem Obst zu bewerfen und anzutreiben, wenn sie nicht schnell oder sorgfältig genug arbeiteten. Er suchte einen der wurmstichigen Äpfel aus und warf ihn mit geübtem Schwung über alle Tische dem Schlafenden an den Kopf.

Keine Reaktion!

Verärgert schnappte er ein zweites Apfelstück, als er im Rücken eine Bewegung fühlte. Endlich, dachte er, ist die Lieferung angekommen. Doch als er sich umdrehte, erblickte er nur die kleine Thilla, Cryst Tochter, die bei ihm ein- und ausging, wie er es ihr gerade passte.

Er suchte nach Worten für eine Standpauke. Denn eigentlich legte ihre Mutter, die Hexe Shaba, wert darauf, dass sie um die Uhrzeit die Schule besuchte. Er beschloss aber dann, erst die Angelegenheit mit dem überfälligen Wein zu regeln.

Er drehte sich wieder um und der Apfel traf ihn genau an der Stirn.

Die Reste sprühten über den Tresen, einige Stücke rutschten herunter und blieben in seinem dichten Schnur- und Kinnbart hängen. In diesem Augenblick dankte er den Göttern, kein außergewöhnlich matschiges Exemplar beim Griff in die Kiste erwischt zu haben. Jeder hier im «Roten Pony» wusste, selbst wenn Cryst die Augen schloss und schnarchte, bedeutete das nicht unbedingt, dass man ihn überraschen konnte. Seitdem er vor etlichen Jahren bei Litwolff auftauchte und sich im Gasthaus praktisch niederließ, gehörte er Tag und Nacht zum Inventar. Gab es Probleme mit einem Gast, erschien er wie ein Geist aus einer dunklen Ecke und bereinigte die Situation. Dafür nächtigte, aß und lebte er im Gastraum. Er hätte damit rechnen müssen, dass er den Apfel fangen und zurückwerfen würde.

Hinter dem Wirt kicherte jemand leise. Jetzt erinnerte sich der Gastwirt an die einzige Verbindung Crysts zur Welt außerhalb des «Ponys»: Shaba, die Hexe. Irgendwann tauchte die geheimnisumwitterte Frau auf, ein kleines Baby unter dem Arm, drückte es dem Verdutzten in den Arm und verschwand mit den Worten.: «Deine Tochter!»

Und genau dieses Kind, das eigentlich in den Unterricht gehörte, hatte sich vor dem Treffer mit dem Apfel neben ihn geschlichen. Eine gute Gelegenheit, einen Teil des eigenen Unmuts abzureagieren.

«Thilla. Was willst du hier! Die ist kein Ort für kleine Mädchen. Solltest du nicht in der Schule oder bei deiner Mutter sein?»

«Wegen der Schule bin ich hier. Wir haben eine Aufgabe bekommen. Sie lautet: «Begleite deinen Vater einen Tag bei der Arbeit!»

Litwolff fluchte. Seitdem dieser junge Lehrer aus der Hauptstadt eingetroffen war, nahm die Zahl der Gäste zu, die am Tresen über die Hausarbeiten schimpften, die er verteilte. Teobag, aufgrund irgendwelcher dubioser Untaten nach Thumberg strafversetzt, erfand stets neuartige Hausaufgaben für die Schüler. Zu seiner Schulzeit erinnerte sich der Wirt, gab es nur Schreiben, Lesen und Rechnen.

Letzte Woche hieß sie unter dem neuen Lehrer: «Wo liegen mehr Steine? Auf dem Marktplatz oder im Hof des Bürgermeisters?» Einen Tag lang wimmelte es von Kindern, die ihre kleinen Geschwister mitbrachten und beide Plätze bevölkerten. Die Bande markierte Pflastersteine mit Kreide und behinderte die Marktbesucher. Die Wachen trieben sie mit ihrem Tun zur Verzweiflung. Am Ende diskutierte die Kinderschar, ob die stadtbekannten Nierensteine von Samsu, dem Bettlerkönig, der jeden Tag auf dem Markt residierte, zu der Aufgabe zählten.

Als eine der Schülerinnen ihn fragte, wie viele er in den beiden Nieren mit sich trug, flüchtete der arme Kerl wütend in das «Rote Pony». Er besetzte seinen Stammplatz auf dem Marktplatz erst wieder, als es Abend wurde und die Schule geschlossen war.

«Scher dich weg!» Litwolff konnte jetzt keine Ablenkung brauchen. «Dein Vater muss etwas für mich erledigen.»

«F.ü.r.L.i.t.w.u.f. w.a.s e.r.l.e.d.i.g.e.n». Sorgsam, die Zungenspitze bis fast an die Nase hochgeschoben, buchstabierte das kleine Mädchen eine Notiz auf ihre Schiefertafel. Dann schob sie sich durch den Vorhang in den Raum hinter dem Schanktisch, in dem die Handlanger gerade ausruhten. Der Wirt ging davon aus, dass sie dahinter wartete und lauschte. Er beachtete Thilla nicht weiter, die eigenen Probleme beschäftigen ihn mehr.

 

Endlich schlenderte Cryst in seine Richtung. Die Kleidung verriet den Gasthausschläfer. Weinfleckiger Stoffmantel in Übergröße, Stoff genug, um sich für die Nacht einzuwickeln. Dazu abgetragene Stiefel, in einem breiten Gürtel steckte jetzt der Lederhut mit Krempe und einer Feder. Doch Litwolff wusste, dass den Trunkenbold ein fester Lederpanzer schützte. Die weiten Ärmel verbargen Messer, mit denen er vorzüglich umgehen konnte.

Während er sich näherte, bemerkte der Wirt als Erstes die Weinfahne seines Vertrauten. Fachmännisch erkannte er den Geruch der «Süßtraube». Der Stärke nach die unverdünnte Sorte. Dies erklärte, wo die letzten Reste aus dem Keller geblieben waren.

Als Preis für dn uneingeschränkten Aufenthalt im «Pony» löste Cryst alle Probleme, die sich ergaben. Wenn streitlustige Gäste die Stille und den Frieden im Gasthaus gefährdeten, erschien er wie durch Zauberhand aus den Schatten und sorgte für Ruhe. Und das mit einer Effizienz, die ihn als geborenen Kämpfer auswies.

Der richtige Mann für die Lösung des Problems, das die Existens des «Roten Pony» ernsthaft gefährdete.

Die Schwanengasse

Cryst wusste, es gab zwei Orte, an denen Männer unvorsichtig werden und Dinge erzählen, die sie besser verschwiegen. Einer war der Tisch eines Gasthauses nach ein paar Krügen Bier oder Branntwein. Der Zweite im Bett eines Straßenmädchens. Entweder vor dem Akt, um sich wichtig oder das Mädchen gefügiger zu machen. Gern auch danach. Erschlafft und in dem Bemühen, einen mitfühlenden Menschen zu finden, der bereit war Dingen zu zuhören, die, wie man später feststellte, lieber ungesagt gebelieben wären.

Auch Thana besaß ein besonderes Geschick darin, gerade in diesen Minuten ihre Kunden auszuhorchen und ihnen das Gefühl zu geben, nicht nur befriedigt, sondern auch verstanden zu werden. Zusätzlich hatte sie an ihm eine Narren gefressen, seitdem er sie aus den brutalen Klauen eines Zuhälter befreite.

So dauerte es nur kurze Zeit, bis das Straßenmädchen zu seinen wichtigsten Informanten in den Straßen der Stadt gehörte. Und schnell zu denen, die er er am besten bezahlte, wie er zähneknirschend zugab. Er hielt es deshalb für eine gute Idee, die Suche nach dem verschwundenen Wein bei ihr zu beginnen.

Allerdings gab es ein Problem. Shaba, die Hexe, hasste das Straßenmädchen von Herzen. Erfuhr sie von einer Zusammenkunft, suchte sie ihn im «Pony» auf und machte ihm die Hölle heiß. Dabei störte es sie nicht, dass die übrigen Gäste, ihre Standpauke mitbekamen.

Cryst seufzte tief. Er musste im Stillen einräumen, dass ihre Vorhaltungen eine gewisse Grundlage besaßen. Aber, er war und blieb ein Mann. Und wenn auch sie nicht müde wurde, zu behaupten, er sei der Vater der kleinen Thilla, leitete sie daraus lediglich Pflichten ihr und seiner angeblichen Tochter gegenüber ab. Jedoch keine Rechte.

Er musste das Risiko eines Streits eingehen. Thanas Informationen hatten sich in der Vergangenheit immer als wichtig und unverzichtbar erwiesen. Den Weg zur Schwanengasse kannte er mit geschlossen Augen. Wie fast alle erwachsenen Männer in Thurmbeg.

Vielleicht entging Cryst deshalb der Schatten, der ihm leichtfüßig, aber entschlossen folgte.

***

Thanas empfing ihre Gäste im ersten Stock eines windschiefen Eckhauses der «Schwanengasse». Nah genug am Rand des berüchtigten Viertels der Stadt, damit die «ehrenwerten» Kunden sich nicht in das Gewirr und den Gefahren des Viertes aussetzen mussten. Aber erkennbar an einer Stelle, die bereits zu den verrufenen Stadtteilen gehörten. Ihre Besucher, so erzählte sie Freunden, mochten das leicht «anrüchige» Ambiente, wenn sie sie aufsuchten.

An ihrem Fenster stand außen ein Blumentopf. Nicht, dass die altersschwache Betonie viel hergab, aber sie signalisierte, dass Thana nicht allein und für zärtliche Dienste zur Verfügung stand. Allerdings irritierte Cryst die Art und Weise, wie sie heute die Pflanze aufgestellt hatte.

Hatte sie Besuch, drehte sie den einzigen Blütenkopf in Richtung Straße. «Das arme Ding muss ja nicht alles sehen, was in meinem Schlafzimmer so passiert», meinte sie. Doch diesmal lugte die Blüte frech in Blickrichtung ihres Bettes. Dass Thana bereits so früh am Tag betrunken war, hielt Cryst für unwahrscheinlich.

Er beschloss, vorsichtig zu Werke zu gehen. Die alte Holztreppe innen knarzte und krächzte bei jedem Schritt. Sie kündigte Besucher lautstark an, was durchaus im Interesse des Straßenmädchens war. Doch dies kam ihm im Augenblick nicht entgegen.

Er beschloss, an der Hauswand hochzuklettern und sich erst mit einem Blick durch das Fenster einen Überblick zu verschaffen. Die Risse und Spalten im Mauerwerk gaben genug Halt für die Fingerspitzen eines Kletterers. Dennoch schob er zwei dünne lange Klingen in eine spezielle Falte der Schuhsohlen, so dass ihre Spitzen eine halbe Handbreit nach vorne heraus ragten. Der beste Stahl aus Mith eignete sich hervorragend als Kletterhilfe. Das war nicht die erste Mauer, die er leise und verstohlen erklettern musste. Mit seiner Erfahrung und der Hilfe der kräftigen Finger erreichte Cryst bald das Fenster.

Langsam hob er den Kopf, um hineinzuschauen. Die Vorsicht war berechtigt gewesen. Im Schlafzimmer rechts und links von der Tür lauerten zwei unangenehm aussehende Kerle. Jeder hielt ein Messer in der Hand, von der Art, wie sie Strabbel der Schmied häufig an Herumtreiber, Straßenräuber und Steuereintreiber verkaufte. Gut, billig und brechen so gern in der Wunde des Gegners ab.

Die Unbekannten lauschten an der Zimmertür. Auf dem üblichen Weg über die Holzstufen hätte ihn das alte Holz rechtzeitig angekündigt.

Cryst suchte mit den Stahlspitzen an seinen Füßen einen festen Stand. Er verkeilte sie in einer Mauerspalte so, dass er beide Hände frei bekam. Thana konnte er nicht sehen. Möglich, dass die Männer sie unschädlich machten, in dem sie in den Schrank eingeschlossen oder gefesselt unters Bett schoben. Er hoffte, dass er sie unversehrt finden würde. Ansonsten mussten die Unbekannten mit mehr als nur Ärger rechnen.

Mit einem lautlosen Fluch suchte er in den Taschen nach einer geeigneten Waffe. Plötzlich begann die alte Holztreppe zu klingen und zu stöhnen. Kein Zweifel, da war jemand auf dem Weg in Thanas Schlafzimmer.

Cryst schüttelte den Kopf. Sollten die Kerle gar nicht hinter ihm her sein. Es gab Straßenmädchen, die betrunkene Kunden in die Fänge von Straßenräubern führten, aber Thana würde diese Idee selbst in bittersten Zeiten weit von sich weisen.

Die Geräusche auf der Treppe klangen etwas seltsam. Ungewohnt leise, als ob jemand vorsichtig und unentschlossen hinauf schlich. Beinahe verlor er vor Schreck das Gleichgewicht, als er erkannte, wer da vor der Schlafzimmertür wartete.

«Pappa. Bist du da. Du must mir bei den Hausaufgaben helfen!»

Vor Überraschung fiel Cryst beinahe von der Mauer. Was machte Thilla hier. Und was faselte sie von «Hausaufgaben».

«Hallo Papa. Ich bin dir gefolgt. Ich weiß, dass du da drin bist!»

Was für ein Tollpatsch. Jetzt drückte sie die Klinge hinunter, und versuchte einzutreten. Zum Glück war die Tür vermutlich aus dem gleichen Baumstamm gezimmert, aus dem auch die Treppe gefertigt war. Das kleine Mädchen vermochte kaum die knarzende Tür zu bewegen. Höchste Zeit für ihn, einzuschreiten.

Hektisch suchte er in den Taschen nach einer geeigneten Waffe. Für die Wurfmesser war sein Stand zu unsicher. Schon jetzt balancierte er auf den beiden Stahlklingen an den Füßen. Er verwarf Totschläger, Sandsack und Wurfbeil. Auch die Schleuder kam nicht infrage. Keine Zeit hineinzuklettern und die Wegelagerer in einen Messerkampf zu verwickeln. Endlich fand er, was er suchte. Ein Freund, der den Dschungel der Lotusesser durchquerte, lobte die unscheinbare Waffe über Maßen. Ein Blasrohr! Klein, leicht und mit der richtigen Munition sehr wirkungsvoll. Cryst lehnte Gift ansonsten ab, ab hier blieb ihm keine Zeit für Rücksichtnahme.

Wenn auch Tilla bestimmt nicht das ursprüngliche Ziel der beiden Dreckskerle in Thanas Zimmer war, so würden sie das Mädchen als lästige Zeugin auf jeden Fall aus dem Weg räumen.

Er überlegte kurz. Die Geschosse mit dem runden Ende hinten wirkten tödlich, die kantigen ließen ihre Opfer in einen tiefen Schlaf sinken. Oder umgekehrt? Die mit dem flauschigen Federn waren zum Üben. Also besser keinen Übungspfeil erwischen.

Egal! Er legte den nächstbesten Pfeil in das Blasrohr. Erinnerte sich daran, dass man beim Zielen einen leichten Bogen der Flugbahn berücksichtigen musste. Ein kurzes Pusten. Bestens! Die Spitze steckte im Hals des linken Kerls.

Ihm blieb keine Gelegenheit, die Reaktion abzuwarten. Den nächsten Pfeil gegriffen und auf den anderen Wegelagerer geblasen. Der hatte bereits die Faust mit dem Messer zum Stoß erhoben. Die Flugbahn schien perfekt, aber es passierte genau das, was er die ganze Zeit befürchtete. Bevor er das Ergebnis beobachten konnte, brach die Stahlspitze am linken Schuh ab. Er probierte noch das Blasrohr in der Hand mit wehenden Armen das Gleichgewicht zu halten, jedoch vergeblich. Fluchend stürzte er eine Etage tief auf die Straße.

Er kam mit einem lauten Poltern auf dem Pflaster auf. Sein Blick verdunkelte sich für einen Augenblick, als er mit dem Kopf aufschlug. Doch zum Glück blieb er bei Bewusstsein. Stöhnend versuchte er, aufzustehen. Alle Glieder schmerzten, aber der Gedanke, dass da oben Thilla immer noch in Gefahr war, trieb ihn an.

Cryst zog ein Messer und eilte in Thanas Zimmer. Diesmal nahm er den Weg über die Holztreppe. Er durfte keine Zeit verlieren. Bevor er das Schlafzimmer betrat, warnte ihn sein Instinkt. Oder besser die Stille, die dort herrschte. Er hatte eine weinende, vielleicht auch hysterische Zwölfjährige erwartet. Doch Thilla hing ganz ruhig in den Armen des Wegelagerers. Der Mistkerl hielt das kleine Mädchen vor seiner Brust, die blanke Klinge an ihrem Hals.

«Janss kommot! We wollens dem Kinds net wähtun!» Der Mistkerl zischte ihn an. Was für ein Dialekt? Wo kam der Kerl her?

«Lass das Mässa fallen, Scheissseman!»

Was war das für eine Feder im Hals des Messerhelden. Verdammt, er hatte einen Übungspfeil erwischt. Besser ihm zu gehorchen. Aber nicht sofort.

«Wenn du der Kleinen was tust, schlitze ich dich auf.»

«Mässa wech!»

«Und steck dir Ratten in den Bauch!»

«Dass Mässa!»

Cryst zwang sich, nicht in die Augen des Mädchens zu sehen. Wenn sie überleben sollte, musste er ganz ruhig vorgehen.

Wütend und mit einem wilden Schrei schleuderte er seine Klinge in den Holzrahmen des Fensters. Es geschah wie geplant. Von der schnellen Reaktion überrascht, folgte der Blick des Fremden dem Messer.

Blitzschnell trat ihm Cryst zwischen die Beine. Mit dem rechten Fuß. Dem mit der intakten Stahlklinge.

Mit runden Augen starrte ihn der Unbekannte an. Er ließ sofort seine Waffe fallen und verschränkte die Hände vor dem Unterleib. Thilla rannte im nächsten Augenblick los und versteckte sich hinter ihrem Vater.

Cryst schmeckte Galle. Er hatte seine eigenen Pläne mit einem Mann, der einem kleinen Mädchen ein großes Messer an den Hals hielt.

«Thilla! Geh in den Schrank!» Was jetzt kam, war nicht für ihre Augen bestimmt.

«Aber Pappa ...!»

«Geh in den Schrank!»

Zu seiner Erleichterung löste sich Thilla von ihm. Gelegenheit, auch nach dem zweiten Mann zu schauen. Der lag regungslos. Kein Schnaufen oder Atem. Da hatte er wohl den Giftpfeil erwischt.

«Pappa?»

«Was ist? Geh in den Schrank!»

«Da liegt schon ne Frau drin.»

Damit klärte sich auch die Frage, wo Thana geblieben war. Da offenbar von beiden Gegnern keine Gefahr mehr ausging, half er dem Freudenmädchen, aufzustehen, und legte sie auf das Bett. Mit dankbaren Augen verfolgte sie seine Bemühungen, ihre Fesseln zu lösen. Doch bevor er den Knebel entfernte, hob er warnend einen Zeigefinger: «Keinerlei Flüche vor der Kleinen!»

 

Erst als Thana ihr Einverständnis nickte, zog er das Tuch heraus. Im gleichen Augenblick blickten sich die zwei Erwachsenen an. Nach einem kurzen Nicken kam es wie aus einem Mund: «Thilla! In den Schrank!»

In dem Moment, in dem sich die Schranktür knarzend schloss, sprang das Straßenmädchen auf, griff mit der Rechten unter ihr Bett. Von dort zog sie ein langes dünnes Messer heraus.

«Ich stech die Mistkerle ab! Wo die ihre Hände überall hatten. Ohne zu bezahlen. Was für Schweine!»

Cryst warf einen Blick auf den Mann, dem er die Klinge in den Unterleib rammte. «Ich fürchte, die Gelegenheit, um deine Wut auszulassen, ist vorbei. Der Kerl hat sich zu seinem Komplizen ins Totenreich verpisst!»

Da kochte die Wut des Straßenmädchens nur höher. «So ein Widerling. Gönnt mir nicht meine Genugtuung!» Dann brach die Geschäftsfrau in ihr hervor.

«Sie haben mich begrapscht. Mich eine Stunde in den Schrank gesperrt. Ich verlange Schadensersatz und den Lohn fürs Anfassen. Und zwar für überall anpacken.»

«Meinetwegen schau nach, was du findest. Doch ich glaube, sie waren nicht hinter dir her. Auf irgendjemand warteten sie hier.»

«Na auf dich», erzählte Thana, während sie die Taschen de Toten durchsuchte. «Jedenfalls fragten sie nach dir. Sie meinten, du müsstest jeden Moment eintreffen.» Mit diesen Worten hob sie ein frisch geprägtes Silberstück hoch. «Ein Silbertaler aus der Hellermark! Ganz neu!»

«Zeig her. Die sieht man selten in Thumberg.»

«Blödsinn. Sorm, der Weinhändler zahlt regelmäßig damit.» Thana steckte das Geldstück ein und zeigte ihm frech die Zunge. «Er bringt sie von seinen Weinkäufen in der Mark mit.»

«Er bezahlt dir einen Silbertaler? So viel! Was machst du dafür?»

«Bist du jetzt mein Zuhälter. Das geht dich gar nichts an!»

Cryst sah ein, dass er zu weit gegangen war. Er sollte sich auf das besinnen, wofür er hergekommen war. In der Stadt wusste jeder von seinem Verhältnis zu Thana. Gelegentlich hinterließ jemand sogar bei dem Straßenmädchen Nachrichten und Informationen für ihn. Wenn ein Unbekannter ihn treffen oder in diesem besonderen Fall auflauern und töten wollte, war der in der Schwanengasse an der richtigen Adresse.

Doch ihn irritierte, dass die Mörder auf ihn in Thanas Schlafzimmer direkt nach seinem Aufbruch aus dem «Roten Pony» erwarteten. Da musste es einen Zusammenhang geben.

Aus dem Schrank klang ein leises Klopfen: «Die Luft ist nicht gut hier drin. Und es ist dunkel. Kann ich heraus?»

«Warte noch!» Cryst beobachtete Thana, die weiter in der Kleidung der Eindringliche nach Wertgegenständen suchte. Dann kam ihm eine Idee.

«Kennst du den Dialekt dieser Kerle. Er kommt mir bekannt vor. Aber ich kann ihn nicht einordnen?»

Das Straßenmädchen beendet ihre Suche. «Die Schuhe von dem Kleinen hier sind neu. Dafür könnte ich was bekommen.»

«Ich brauche eine Antwort!»

«Du hängst zu viel im «Pony» rum. Geh mal unter die Leute!» Mit einem Ruck zog sie einen der begehrten Schuhe aus. «Oh, sie mal da. Eine halbe Kupfermünze.»

«Kennst du den Dialekt oder nicht?»

«Na klar. Aber es kommen nicht viele von ihnen zu mir. Arme Flößer aus den Kohlebergen. Sie bringen die Kohle auf zusammengebunden Baumstämmen in die Stadt. Verkaufen Ladung und Holz. Dann ziehen sie zurück in die Berge. Mist!»

Der Fluch galt dem Ergebnis der Suche in dem zweiten Schuh. «Wo steckt die andere Hälfte. Mal sehen, ob sie der große Kerl hat.»

Während sie ihre Erkundung in den Stiefel des letzten Mörders fortsetzte, meinte sie: «Die Zeit, in der sie in der Stadt sind, verbringen sie in der «Schwarzen Brücke». Du weißt schon. Das Gasthaus an der gelben Brücke, aber ...»

«... «Schwarze Brücke» heißt. Ich kenne die Bruchbude.»

«Sie gehört übrigens Soma, dem Weinhändler. Doch erzähl ihm nicht, dass du es von mir erfahren hast. Ich soll es auf keinen Fall verraten.»

«Und woher weißt du davon?»

«Er plapperte es nach dem zwanzigsten Peit...! Das geht dich gar nichts an.» Sie hob die halbierte Münze hoch. «Mist. Was fang ich mit so was an. Wo ist die andere Hälfte versteckt? In den Stiefeln ist sie nicht. Wem könnte ich ein halbes Kupferstück andrehen? «

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