Wut und Wellen

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6.

Waldemar Wallmanns Haus war richtig eindrucksvoll, fand Stahnke. Viel zu geräumig für einen alleinstehenden Mann. Noch ziemlich neu. Gartentor aus Schmiedeeisen, Gehwegplatten aus Travertin, Fensterrahmen aus Kupfer. Vorgarten von kundiger Hand angelegt und offensichtlich professionell gepflegt. Imposanter Eingangsbereich, drinnen wie draußen. Schicker Flur, mehr Empfangshalle als Korridor. Garderobe vollkommen leer. Großzügiges Wohnzimmer, spärlich, aber edel möbliert. Keineswegs der plumpe Protz, den der Hauptkommissar erwartet hatte. Waldemar Wallmann schien Geschmack gehabt zu haben. Oder er hatte sich Leute mit Geschmack leisten können.

Vorurteilsalarm, dachte Stahnke. Vorsicht. Ein dunkelhäutiger Mercedesfahrer muss nicht automatisch ein Drogendealer sein. Und ein wohlhabender Russlanddeutscher kein unter dem Goldlack primitiv gebliebener Proll. Ist das klar, Alter?

Aber das war es gar nicht. Vielmehr das andere: Chef einer Zeitarbeitsfirma. Personal Flexibility, wie das schon klang! Ausbeuter. Moderner Sklavenhalter. Profitierte von der Angst der Arbeitgeber vor der wankelmütigen Konjunktur. Und vor allem von der Unsicherheit der Arbeitnehmer. So einer konnte doch nur ein mieses Schwein sein. Und hatte gefälligst auch so zu wohnen. In einem sauteuren, geleckt sauberen, aber gefälligst ekelhaft geschmacklosen Schweinestall.

Da also steckte das Vorurteil. Weg mit dir, dachte Stahnke, du störst bei der Arbeit!

Schade eigentlich, überlegte er weiter, denn dieses Vorurteil war ihm lieb geworden. Wohl durch den Umgang mit Sina, für die »Ausbeutung« noch ein Schimpfwort war und »Solidarität« mehr als der Name einer polnischen Gewerkschaft. Und natürlich mit Marian Godehau, diesem unverbesserlichen Robin Hood im Blätterwald.

Der Hauptkommissar schnaubte ärgerlich. Musste dieser Name denn jetzt unbedingt in seinem Hirn auftauchen, ungebeten wie Marian selbst auf Langeoog?

Er hörte Schritte im Flur. Kramer erschien. »Es gibt eine Putzfrau«, verkündete er und wedelte mit einem Notizzettel. »Oder auch eine Art Haushälterin. Die Nachbarn wussten Namen und Adresse.« Er grinste. »Hier scheint man überhaupt eine ganze Menge übereinander zu wissen. Was manche Leute so alles beobachten – davon könnten sich unsere Fahnder noch eine Scheibe abschneiden.«

»Uns soll’s doch nur recht sein«, sagte Stahnke. Insgeheim aber war er doch froh, nicht mit solch neugieriger Nachbarschaft gesegnet zu sein. Jedenfalls nahm er das an. Wissen konnte er es natürlich nicht, dazu war er in seiner knapp bemessenen Zeit im eigenen Heim nicht aufmerksam genug.

»Und? Was hast du inzwischen herausgefunden?«

Stahnke blickte seinen Kollegen erstaunt an. Herausgefunden? Er hatte die Atmosphäre dieses Hauses auf sich wirken lassen, das war doch viel wichtiger. Musste man Kramer sowas etwa erklären?

Anscheinend nicht. Wortlos wandte sich der Oberkommissar ab und begann die restlichen Räume des Hauses zu inspizieren.

Stahnkes Handy ertönte. Sinas Nummer erschien auf dem Display.

»Hallo, Insulanerin.«

»Hallo, du Verschwindefix.« Sina klang gut gelaunt. Leise Hintergrundgeräusche verrieten, dass sie vom Haus Waterkant aus anrief. Stahnke kannte diese Klinik für Essgestörte gut, hatte er doch selbst einige Zeit darin zugebracht. Dienstlich zwar und mit speziellem Auftrag, aber um den Schein zu wahren, hatte er sich trotzdem einem Therapieprogramm unterwerfen müssen. Eine zunächst lästige, aber doch sehr lehrreiche Erfahrung, von der er immer noch profitierte.

»Ging nicht anders, der Job rief. Kennst du ja. Freie Tage sind bei uns nur unverbindliche Vorschläge.«

»Ohne Gewähr, ich weiß. Da bin ich hier direkt noch gut dran.« Sie lachte ironisch. »Kannst du schon absehen, wann du wieder nach Langeoog kommst?«

»Schwer zu sagen. Mordfall. Noch haben wir rein gar nichts in der Hand.« Er seufzte. »Ich fürchte, in den nächsten Tagen werde ich hier wohl nicht abkömmlich sein. In der heißen Phase kann ich Kramer und die anderen schlecht alleine lassen.«

»Verstehe.« Sina klang eher sachlich als gebührend enttäuscht. Stahnke verspürte einen kleinen Stich. »Dann sehen wir uns also erst nächste Woche.«

»Kannst du denn nicht am Wochenende nach Leer rüberkommen?«, fragte er.

»Lohnt nicht, muss am Sonntag schon wieder arbeiten«, antwortete sie. »Und vorher, am Freitag, wieder spät. Da würde ich dann den halben Samstag auf der Fähre und im Auto hocken. Nee, das muss ich nicht haben. Da mache ich mir lieber einen schönen Solo-Tag.«

»Verstehe.« Das sagte Stahnkes Verstand. Sein Bauchgefühl wollte etwas ganz anderes erwidern, kam aber nicht zu Wort. »Was schwebt dir denn vor? Touristenprogramm mit Strand, essen gehen und so?«

»Essen gehen bestimmt. Mein Oberarzt hat einen Tisch in Thormählens neuem Feinschmeckerlokal bestellt, und weil noch ein Platz übrig war, hat er mich mit eingeladen«, verkündete Sina fröhlich.

Wieder ein Stich, diesmal schmerzhafter. Hatte er diese pennälerhafte Eifersucht denn noch immer nicht im Griff? Offenbar nicht. Hoffentlich setzte es jetzt nicht auch bei ihm einen Stich pro Lebensjahr, schoss es im durch den Kopf. Das wären nämlich erheblich mehr als 36.

»Na, dann wünsche ich mal guten Hunger«, erwiderte er leichthin. »Hoffentlich wird man in solch einem Gourmettempel überhaupt satt. Ohne davon pleite zu gehen, meine ich.«

»Ach, hast du auch mitgekriegt, was hier so geredet wird? Aber lass mal, so schlimm kann das wohl nicht werden, wir sind hier ja nicht auf Sylt. Wird doch nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Sie lachte hell. »So, ich muss Schluss machen. Neue Kundschaft eingetroffen. Mach’s gut, mein Lieber.«

»Du auch.« Ehe Stahnke sich zu einem Kosewort durchringen konnte, hatte Sina das Gespräch beendet.

Na ja, hätte schlimmer kommen können, dachte Stahnke, während er sein Handy anstierte, als sei es ein Ding aus einer anderen Welt, und kein appetitliches. Wenigstens geht sie mit ihrem Chef essen und nicht mit ihrem Ex. Und als Gruppe, nicht zu zweit. Alles im grünen Bereich.

Andererseits war eine Restauranteröffnung auf Langeoog ganz bestimmt auch ein Pflichttermin für die örtlichen Zeitungen.

»Dort hinten gibt es ein Büro.« Kramer war wieder aufgetaucht, einen Aktenordner in jeder Hand. »Da steht allerhand an Geschäftsunterlagen, außerdem ein PC mit externer Festplatte. Werde mal die kundigen Kollegen drauf ansetzen. Das hier«, er schwenkte die Ordner, »sind Unterlagen über seine Boote und Versicherungen. Da gehe ich zuerst ran, mal schauen, ob sich Anhaltspunkte ergeben.«

Stahnke nickte abwesend. Immerhin wandte er dabei den Blick von seinem Handy ab. Schuldbewusst steckte er es ein.

»Private Korrespondenz konnte ich nirgends entdecken«, fuhr Kramer fort. »Steckt wohl alles im PC. Heutzutage schreiben die Leute ja sogar ihre Liebesbriefe am Computer. Wenn sie nicht sowieso nur chatten oder SMS verschicken.«

»Ich schau mir das mal an.« Dankbar nahm Stahnke den Hinweis auf. Er war eindeutig nicht genügend bei der Sache. Das musste sich ändern.

7.

Jannik Bartels war im Stress. Wieder einmal zu spät aus dem Bett gekommen. Seine Zeit war der Abend, dann lief er zu großer Form auf. Nicht der Morgen, den hasste er. Darum war er ja auch Koch geworden und nicht Bäcker. Eilig warf er die Schwingtüren der Hotelküche beiseite, nahm die Kurve zu eng und rammte sich die scharfe Ecke des Metallschranks in den Oberschenkel. Aufjaulend vor Schmerz und Wut, trat er nach dem Ding. Zu spät fiel ihm ein, dass er offene Sandalen trug. Jetzt tat ihm auch noch der rechte große Onkel verteufelt weh.

»Gemeinheit!«, zischte er durch die Zähne. Tränen rannen ihm über die Wangen. »So eine Gemeinheit. Blöder Mistkerl.«

Klar, dass sein Chef sauer auf ihn war. Dessen Boot war weg, ausgerechnet zu Saisonbeginn, und er, Jannik Bartels, trug daran die Schuld. Aber erstens nicht alleine, denn die anderen hatten ja ebenso wenig aufgepasst wie er. Und zweitens war sein Chef doch versichert! In Kürze würde die Versicherung zahlen, und zwar den Neuwert, das hatte Thormählen schon stolz verkündet. Dann würde er sich ein noch moderneres und noch stärker motorisiertes Boot kaufen. Na also, dachte der junge Koch, dann sollte der Typ mir doch eher dankbar sein. Aber was ist? Nichts ist. Stattdessen teilt er mich hier im Hotel zum Frühstücksdienst ein, weil jemand krank geworden ist. Dabei hätte ich doch eigentlich heute frei. Morgen ist Eröffnung der Weißen Düne, das ist mein Ding, dafür hat man mich angeheuert, dafür habe ich tagelang geschuftet, um alles vorzubereiten.

Heute, am Freitag, hatte er sich ausruhen wollen. Ruhe vor dem großen Ansturm. Stattdessen durfte er hier das Büffet bestücken, Eier kochen und Wurstscheiben aufreihen. Zur Strafe. Obwohl das meilenweit unter seiner Würde war. Oder gerade deshalb.

Er ließ seinen Blick durch den weitläufigen Frühstückssaal schweifen. Wenigstens war alles schon ordentlich eingedeckt. Der Insulaner war beileibe kein kleines Hotel, und es war annähernd ausgebucht. Ab 7.30 Uhr würde hier der Bär steppen. Hoffentlich fehlte dann nicht noch jemand aus der Saisonkräftecrew, dachte Jannik Bartels, sonst musste er womöglich noch Kaffee- und Teekännchen an die Tische bringen! Ihm reichte schon die Aussicht, Rührei und gebratenen Speck en masse produzieren und in die Rechauds schaufeln zu müssen. Genau diese Art Küchenbulle hatte er nie werden wollen. Und war es ja glücklicherweise auch nicht geworden.

Genau genommen war er Thormählen dankbar, dass der Vertrauen in ihn investiert und ihn zum Chefkoch eines solchen Nobelprojektes gemacht hatte. Klar, dabei hatte er auch eine Menge Geld gespart, denn Jannik Bartels’ Gehaltsvorstellungen waren naturgemäß moderat. Aber wenn er es hier schaffte, wenn er und seine Speisekarte bei den Gästen ankamen, dann war es schon bald aus mit der Bescheidenheit. Das stand für ihn fest. Auch wenn er es natürlich eisern für sich behielt.

 

Er rechnete sich gute Chancen aus. Er hatte bei wahren Künstlern gelernt, Meisterköchen der regionalen wie der internationalen Küche, hatte alles absorbiert, was es über Ingredienzien, Kombinationen und kulinarische Kreationen zu wissen gab. Sein gutes Gespür für Frische und Qualität hatte ihm viel Lob eingetragen, sein unbekümmerter Wagemut bei unkonventionellen Zusammenstellungen sogar Respekt. Seine Prüfer schließlich hatte er bereits mit einem simplen Zwiebel-Ananas-Salat in Verzückung versetzt. Um sie dann mit jedem weiteren Gang eines ausgefuchsten Menüs noch mehr zu verblüffen und zu begeistern.

Für die Weiße Düne hatte er sich eine todsichere Marschroute überlegt. Gerichte mit norddeutschen Wurzeln, aber nach internationalem Standard, wiedererkennbar und doch überraschend. Kess, aber niemanden verschreckend. Pfiffig und trotzdem großzügig. Und natürlich basierend auf dem, was gute Küche in Wahrheit ausmachte: erstklassigen, frischen Zutaten.

Das war zugleich sein einziges echtes Problem. Hier auf der Insel gab es keinen Großmarkt, durch den man frühmorgens schlendern und sich die besten Stücke heraussuchen konnte. Hier wurde man beliefert, und man konnte nur hoffen, dass man auch wirklich das bekam, was man geordert hatte, nämlich erste Qualität. Aber einer wie Jannik Bartels war umtriebig, kannte Gott und die Welt. Und natürlich auch gute Lieferanten. Also konnte er auch in diesem Punkt einigermaßen zuversichtlich sein.

So. Was fehlte noch? Knusprige Brötchen verbreiteten angenehmen Duft, der sich schon bald mit dem von frisch gebrühtem Kaffee mischen und für gute Frühstücksatmosphäre sorgen würde. Tee war in olfaktorischer Hinsicht ja eher enttäuschend, verbreitete höchsten den Geruch von feuchtem Heu. Käse, Wurst und Schinken lagen ordentlich und in ausreichender Menge unter ihren transparenten Abdeckungen, die Säfte waren bereitgestellt, Müsli, Joghurt und Cornflakes platziert, die Rechauds und das heiße Wasser für die Früchtetees blubberten vor sich hin, Milch, Kakao … fehlte noch etwas, oder konnte er sich jetzt der Produktion von »Frühstück englisch« zuwenden?

Halt – frische Früchte! Fast hätte er die vergessen. Er wusste, dass Ananas-, Mango- und Melonenscheiben und allerhand anderes Zeugs vorbereitet und in Folien gehüllt in einem der großen Kühlschränke bereitlagen. Nur musste er sie schleunigst herausholen und anrichten, damit den Gästen nachher nicht vor Kälte die Zähne wehtaten.

Welcher Kühlschrank mochte es sein? Vermutlich der, an dem er noch nicht gewesen war. Schwungvoll riss Jannik Bartels die große Tür auf.

Das Kühlschranklicht blitzte auf. Dann fauchte es laut. Merkwürdig, dachte der junge Koch. Er dachte es in einen Feuerball hinein, der sich ihm entgegenblähte und ihm mit feuriger Zunge übers Gesicht leckte.

Jannik Bartels war nie bei der Bundeswehr gewesen. Aber oft im Kino. Er ging in die Knie, holte Schwung und sprang seitlich weg. Sein Körper rutschte über den glatten Kachelboden, bis er mit dem Kopf gegen die Schwingtüren knallte. Dann brach hinter ihm endgültig die Hölle los.

8.

Den morgendlichen Gang über die Hafenpromenade ließ sich Stahnke nicht nehmen. Früher, als er noch in der Leeraner Altstadt gewohnt hatte, war dies der logische Weg zur Arbeit gewesen, zum Inspektionsgebäude, das wie ein länglicher Bauklotz am Kopfende des Hafenbeckens ruhte. Seit er weiter draußen in Heisfelde wohnte und jeden Tag mit dem Fahrrad kam, wann immer Dienst und Wetter dies zuließen, war die Promenade ein Umweg. Das aber focht den Hauptkommissar nicht an.

Heute lagen besonders viele Boote im Hafen, Jachten aller Größen, aber auch kleinere Boote. Besuche in Leer kamen bei Bootstouristen immer mehr in Mode. Wo sonst konnte man praktisch mitten in der Stadt so schön anlegen? Na gut, sicher gab es Plätze, wo man ungestörter war. Aber beides auf einmal ging eben nicht.

Stahnke passierte die neue Fußgängerbrücke. Gegenüber, dort, wo die neuen Kapitänshäuser standen, die ihn reizten, über deren Kaufpreise er aber nicht einmal nachzudenken wagte, lag die Arcturus, der alte Kutter, der einmal Marian Godehau gehört hatte. Der neue Besitzer hatte aus dem heruntergekommenen Ding ein echtes Schmuckstück gemacht. Fast Steven an Steven hatte die Prinz Heinrich festgemacht, ein stattlicher Oldtimer, an dessen Restaurierung ein ganzer Verein seit Jahren werkelte. Sah schon wieder ganz passabel aus, dachte Stahnke und nickte anerkennend. Er mochte Leute, die in ihrer Freizeit mehr taten, als sich den Hintern vor der Glotze oder dem PC breit zu sitzen.

Ein paar Minuten dauerte der Gang, dann hatte Stahnke die Treppe erreicht, die ihn hoch zur Georgstraße und damit zurück zu seiner Berufsrealität führte. Summend schulterte er sein Zweitrad und trug es die Stufen hoch. Wieder einmal hatte der kleine Umweg zur Verbesserung seiner Morgenlaune gereicht.

Während er das Dienstgebäude betrat und die Treppen erklomm, rekapitulierte er, was sie inzwischen über Wallmann wussten. Er repräsentierte in der Tat die rauere Seite des florierenden Zeitarbeitsbusiness. Hatte polnische Fleischhauertrupps an südoldenburgische Großschlachtereien vermittelt, hart arbeitende Männer, die für Hungerlöhne unter mörderischen Bedingungen ganze Herden zerlegten, während ihre deutschen Berufskollegen untätig auf den Arbeitsämtern, die neudeutsch Agenturen hießen, anstanden. Hatte multikulturelle Maurerkolonnen ohne Arbeitserlaubnis auf Baustellen in ganz Deutschland geschickt, wo sie jeden Ecklohn unterboten, Überstunden klaglos ertrugen und die Wochenenden durchschufteten, immer das drohende Elend daheim vor Augen. Ungelernte aus Osteuropa hatte er an die Bahn vermittelt, wo sie für einsfuffzig die Stunde Gleise überholten, ohne zu wissen, was sie da taten. Von den zahllosen Gebäudereinigern und Pflegekräften ganz zu schweigen, die dafür sorgten, dass Kosten gedämpft werden konnten, ohne dass auch nur ein Manager auf seine Bonuszahlung verzichten musste. Und er hatte hochqualifizierte Facharbeiter unter Vertrag, die nach Bedarf eingesetzt werden konnten, was es zum Beispiel der Leiner-Werft oben an der Ems ermöglichte, ihre Stammbelegschaft zu reduzieren und Arbeitskräfte je nach Auftragslage kurzfristig anzuheuern, ganz wie früher zur Gutsherren- und Tagelöhnerzeit. Diese Zeitarbeit war wirklich eine tolle Sache, dachte Stahnke. Nahezu alle schienen davon zu profitieren, Wallmann ebenso wie seine unterschiedlichen Kunden. Alle, bloß die Arbeitnehmer nicht.

Oben empfingen ihn Kaffeeduft und Kramer. »Interessante Sache«, sagte der Oberkommissar und legte ihm ein paar Kopien vor. Stahnke blätterte. Die Unterlagen stammten offenbar aus Waldemar Wallmanns Ordnern. Kaufverträge über drei Boote, über einen Zeitraum von sieben Jahren bei verschiedenen Händlern erworben. Und die dazugehörigen Versicherungsverträge. Auch die waren mit drei verschiedenen Firmen abgeschlossen worden.

Stahnke blickte hoch. »Ungewöhnlich«, kommentierte er. »Klar, man wechselt hin und wieder, wenn man unzufrieden ist oder ein besseres Angebot bekommt. Aber gleich jedes Mal?«

»Es kommt noch besser«, sagte Kramer schmunzelnd.

Anzeigenprotokolle. Diebstahlsanzeigen, erstattet bei verschiedenen Polizeirevieren. Zweimal erschien Wallmann selbst als Geschädigter, einmal hatte das Boot angeblich einer Frau gehört. Stahnke verglich die Daten: Eindeutig dasselbe Boot, das seinerzeit Wallmann erworben hatte. Offenbar hatte der Halter zwischenzeitlich gewechselt. Stahnke tippte auf eine von Wallmanns früheren Freundinnen. Ein simpler Täuschungsversuch, der aber anscheinend gewirkt hatte.

»Schau an«, sagte der Hauptkommissar. »Das stinkt doch nach Versicherungsbetrug. Wallmann hat doppelt abgesahnt.«

Kramer nickte bestätigend. »Bei der Versicherung und beim Abnehmer seiner Boote. Davon können wir ausgehen. Beweise gibt es natürlich keine. Aber für diese Häufung gibt es kaum eine andere Erklärung. Außerdem, wer weiß, vielleicht ist das ja noch nicht einmal alles.«

»Gut möglich«, sagte Stahnke. »Respekt, dass du dies hier so schnell herausgefiltert hast. Ist ja eigentlich gar nicht unser Gebiet. Bringt uns aber auf jeden Fall ein neues Tatmotiv ein.«

»Wallmanns Abnehmer«, nahm Kramer den Ball an. »Oder der Zwischenhändler. Auf jeden Fall muss es einen oder mehrere Komplizen gegeben haben. Leute, die die angeblich geklauten Boote irgendwo aus dem Wasser ziehen, auf Trailer verladen und außer Landes schaffen. So läuft das doch meistens. Jeder von denen will seinen Profit machen. Und Wallmann war bestimmt keiner, der anderen mehr abgibt als unbedingt nötig.«

»Du meinst, er konnte den Hals nicht voll kriegen? Durchaus vorstellbar.« Stahnke lehnte sich zurück. »Wallmann könnte seine Partner derart verärgert haben, dass diese ihm aufgelauert und ihn erledigt haben. Und zwar gründlich. Sein Boot könnten sie mitgenommen haben, um sich nachträglich für unterschlagene Anteile zu entschädigen. Vielleicht wollten sie auch gleich das Nachbarboot mitnehmen, daher die lose Leine. Dabei aber wurden sie gestört und machten sich davon.«

»Ohne Wallmann die 6.000 Euro abzunehmen?« Kramer wiegte zweifelnd den Kopf.

»Wie auch immer.« Stahnke zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall war Wallmann offenkundig über Jahre als Versicherungsbetrüger aktiv. Also wird man ihn in den einschlägigen Kreisen auch kennen. Eine Meinung über ihn haben. Bloß, wie kommen wir in diese Kreise hinein? Kontakte habe ich jedenfalls keine. Da werden wir wohl die Kollegen vom Fachkommissariat zwo um Unterstützung bitten müssen.« Er streckte schon seine Hand nach dem Telefon aus, da kam ihm eine andere Idee. »Wir wollten uns doch zunächst einmal mit Wallmanns Ex-Freundinnen befassen«, sagte er, zu Kramer gewandt.

Kramer antwortete nicht. Wenn man von ihm eine Antwort wollte, musste man ihm schon eine richtige Frage stellen.

»Da könnten wir doch gleich zwei Fliegen mit einen Klappe schlagen«, fuhr Stahnke also selbst fort. »Wie heißt doch gleich die Dame, die im letzten Bootsdiebstahlsfall als Geschädigte aufgetreten ist? Das dürfte ja wohl eine seiner Exen sein.« Er blätterte in den Kopien. »Aha, hier. Alina Thormählen. Mit der werden wir uns als erstes einmal unterhalten.«

Dann grinste er breit. »Schau an«, sagte er, »was für ein Zufall. Die Dame wohnt auf Langeoog.«