Wut und Wellen

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3.

Marian stolperte von der Fähre, die Augen noch halb geschlossen, und ließ sich vom Pulk seiner zielstrebigeren Mitreisenden in Richtung Inselbahn spülen. Für die Menschen, die ihm entgegeneilten, um Langeoog mit dem frühestmöglichen Schiff zu verlassen, hatte er keinen Blick. Der gestrige Tag steckte ihm noch in Kopf und Knochen wie ein gewaltiger Kater. Dabei hatte er sich letzte Nacht doch nur ein einziges Glas Rotwein gegönnt, um überhaupt schlafen zu können, aufgedreht wie er war, seiner gewaltigen Erschöpfung zum Trotz.

Ein Wahnsinn, bei Morgenlicht besehen, dass er gestern Abend überhaupt noch nach Oldenburg gefahren war, statt sich lieber auf das Bett seines kleinen Inselapartments zu werfen, um so viel Schlaf zu ergattern und Kraft zu schöpfen wie nur möglich. Aber nach diesem chaotischen ersten Arbeitstag als Solist beim Inselboten, der ihn trotz langjähriger Redakteurserfahrung bis an den Rand seiner Belastbarkeit geführt hatte, wollte er nur noch weg, nur noch raus. Raus aus den Redaktionsräumen, diesen besseren Rumpelkammern voller Papierhügel und Fotohalden, die sein Vorgänger salbungsvoll »Archiv« genannt hatte und die von den beiden Volontären, die hier in den beiden Wochen zwischen dem Kauf des Inselblattes durch die Rundschau und Marians endgültiger Abordnung die Stellung gehalten hatten, gründlich verwüstet worden waren. Und am besten gleich weg von dieser Insel, und sei es auch nur für ein paar Stunden.

Was für eine Frechheit, ihn dermaßen ins kalte Wasser zu werfen! Kein Stehsatz, keine Themenliste, dafür ein überquellendes, völlig unsortiertes Posteingangskörbchen und ein randvoller Terminkalender. In seiner Verzweiflung hatte er den Aufmacher schließlich über das Wetter geschrieben. Eine absolute Notlösung, denn jeden Tag konnte er das nicht machen, nicht einmal hier, wo das Wetter auch ein Wirtschaftsfaktor war. Bloß gut, dass ihm noch die Rentnergang am Bahnhof aufgefallen war. Diese Viererbande von Touristenhassern hatte ein paar nette Sprüche von sich gegeben. Daraus hätte man sicher noch mehr machen können, aber in seiner Situation reichte es nur für einen Schnellschuss.

Den Umbruchtermin hatte er nur mit Mühe und Not eingehalten, nicht zuletzt wegen des modernen Computers, den man ihm im letzten Moment noch bewilligt hatte und der sich jetzt auf einem der wackeligen Vorkriegsschreibtische ausnahm wie ein Raketenwerfer auf einem Maultierkarren. Der PC war mit allen nötigen Text- und Bildverarbeitungsprogrammen ausgestattet, so dass Marian es tatsächlich geschafft hatte, drei komplette Seiten mit Stoff zu füllen. Die Datenübertragung allerdings hatte ihn endgültig den letzten Nerv gekostet. Danach brauchte er unbedingt Abstand.

Ein Zufall, dass ihm tagsüber bei einem seiner Termine, der Vorstellung eines neuen Gourmettempels, der am Wochenende öffnen sollte, dieser lustige, junge Koch über den Weg gelaufen war. »Heute Abend noch mal gepflegt in die Disse, ehe der Trubel hier richtig losgeht und man für den Rest des Sommers gar nicht mehr von der Insel runterkommt«, hatte sich der Marian leutselig anvertraut.

»Und wie? Wochentags legt die letzte Fähre doch schon um 17.30 Uhr ab.«

Der Koch hatte über sämtliche Sommersprossen gegrinst. »Connections, Alter! Mein Chef hat ›n Boot, das kann ich kriegen. Und ein Kollege hat ›n Bootsführerschein, der ist Antialkoholiker. Ein paar von den Saisonkräften sind auch dabei. Heute Abend um 23 Uhr geht’s los. Willste mit? Platz ist noch.« Ein nettes, aber nicht völlig selbstloses Angebot, denn jeder Mitfahrer beteiligte sich mit ein paar Euro an den Spritkosten.

Marian hatte dankend abgelehnt. Und hatte dann doch um 22.50 Uhr am Jachthafen gestanden. Ein heißer Ritt war das gewesen, trotz nur mäßig bewegter See. Aber das Boot war ein echter Flitzer mit winziger Kajüte, die meisten Sitze waren draußen in der offenen Plicht, der Motor war stark und der junge Steuermann offenbar hochmotiviert. Marian hatte einige Erfahrung mit Booten, daher war ihm angst und bange geworden. Die anderen Passagiere, einige davon kaum halb so alt wie er, hatten nur lustvoll gejohlt.

In Bensersiel hatte Marian sich in seinen Golf geworfen und war ähnlich verwegen nach Oldenburg gerast. Und kaum hatte er sich in seinem vertrauten Bett schlafen gelegt, da hatte ihn der Wecker auch schon wieder aus den Federn gescheucht. Jedenfalls war ihm das so vorgekommen. Die Rückfahrt hatte Marian wie in Trance erlebt. Kurz vor Bensersiel hatte er ein Stoppschild ignoriert und beinahe einen Unfall gebaut. Ein Wahnsinn, die ganze Aktion. Nie wieder, schwor er sich.

Der Wind zauste seine braunen Locken, die er schon lange nicht mehr hatte stutzen lassen, und seinen Vollbart, der seit einiger Zeit von grauen Strähnen durchzogen war. Und das schon mit Mitte 30! Marian fand das ungerecht, wie so vieles. Blöd, dass man nicht einmal dagegen protestieren konnte. Jedenfalls nicht, ohne sich lächerlich zu machen.

Er bestieg einen der Inselbahnwaggons – einen roten, aus Prinzip – und ließ sich auf den nächstbesten freien Platz plumpsen. Die Holzbank war hart und unbequem, aber die Fahrt würde ja nur ein paar Minuten dauern. Eine winzige Gnadenfrist, ehe die Tretmühle wieder losging. Nur nicht wieder so ein Chaos wie gestern! Am besten, er legte sich früh auf eine Titelstory fest, damit es abends nicht wieder so eng wurde.

Auch auf der Bank ihm gegenüber nahm jetzt jemand Platz. Im selben Moment ruckte die Bahn an und schaukelte los. Marian hob den Kopf und musterte seinen Mitpassagier. Sommersprossen, abstehende Ohren, rotblondes, zu Stacheln gegeltes Haar – das war doch Jannik Bartels, der lustige, kleine Koch! Eindeutig, dachte Marian. Nur sah er überhaupt nicht lustig aus.

»Hi! Was machst du denn hier? Boot verpasst?«

Der Koch zuckte missmutig die Achseln. »Da war nichts zu verpassen.«

»Ähh … was?«

Nicht einmal Marians begriffsstutzige Miene konnte den Sommersprossigen aufheitern. »Als wir um 4 Uhr wieder am Anleger waren, war da kein Boot mehr. Weg! Futschikato! Geklaut! Und wir standen da wie Pik doof und mussten in der Kälte auf die erste Morgenfähre warten.«

»Dein Boot ist geklaut worden? Mitten in der Nacht?«

»Natürlich nachts! Wann würdest du denn ein Boot klauen, etwa am helllichten Tag?« In hilfloser Wut ballte der junge Koch die Fäuste. »Und von wegen mein Boot! Es war doch das von meinem Chef. Der wird mir die Hölle heißmachen, da kannste einen drauf lassen. Das wird kein Spaß für mich heute.« Bei diesem Gedanken sank er förmlich in sich zusammen.

Bootsdiebstahl, überlegte Marian, war doch für einen Insulaner bestimmt so ähnlich wie Pferdediebstahl für einen Cowboy. Ein Kapitalverbrechen. Eindeutig ein Thema für eine Inselzeitung.

»Weißt du was«, sagte er, »ich geb dir erstmal einen Kaffee aus. Mit Brötchen, die Bäckereien haben ja um diese Zeit schon offen. Und dann erzählst du mir alles noch einmal in Ruhe. Ein bisschen Zeit hast du doch noch. Einverstanden?«

Wieder zuckte Jannik Bartels die Achseln. Marian nahm es als Zustimmung. Ausgezeichnet, dachte er. Einen Aufmacher hätte ich schon mal. Mein zweiter Tag als Inselredakteur fängt deutlich besser an als mein erster.

4.

Stahnke hasste es, zu spät an einen Tatort zu kommen. Absperrung, Identifikation, Fotos, Spurensicherung, Personalienfeststellung und Zeugeneinvernahme, erste Untersuchung des Opfers, schließlich Abtransport der Leiche – alles war bereits erledigt, jeder hatte sich ein Bild von der Lage gemacht, alle kannten sich aus. Bloß er nicht, Stahnke, Leitender Ermittler des 1. Kriminalfachkommissariats. Er war wieder einmal auf die loyale Zuarbeit seines Kollegen Kramer angewiesen. Den mochte er, keine Frage. Aber die Situation an sich, die hasste er. Und dass sie wieder einmal an einem sogenannten freien Tag eintrat, machte die Sache nicht besser.

Kramer funktionierte tadellos. »Der Tote ist ein gewisser Waldemar Wallmann. 36 Jahre, wohnhaft in Leer-Loga. Inhaber der Firma Personal Flexibility. Unverheiratet, keine Kinder. Jedenfalls keine, von denen wir wüssten.«

Stahnke hob die Augenbrauen – der letzte Zusatz schien ihm erklärungsbedürftig.

»HWG«, erläuterte Kramer. »Häufig wechselnder Geschlechtspartner. Der Hafenmeister kannte ihn ganz gut. Wallmanns Boot liegt schon seit ein paar Jahren hier. Vielmehr seine Boote; er hat sich wohl öfter mal ein neues gegönnt. Ebenso wie eine neue Freundin.« Kramer blätterte in seinen Aufzeichnungen: »Neue Freundinnen sogar häufiger als Boote.«

»Mit diesem Vergleich kämst du bei Sina aber nicht besonders gut an«, tadelte Stahnke. »Ein Mensch ist kein Ding, das man besitzen kann. Was sagt denn deine Insa dazu?«

Kramer blickte zur Seite. »Gemäß deiner eigenen Belehrung ist deine hier unangebracht«, murmelte er. »Und außerdem, sie ist sowieso nicht mehr meine.«

»Ach.« Dabei hatte sich Kramers Beziehung mit Insa Ukena, der Kollegin, die auf Langeoog Dienst tat, doch so vielversprechend angelassen, fand Stahnke. Er hatte schon gewitzelt: »Demnächst könnten wir eigentlich mal einen Familienpass für die Inselfähre beantragen, aber einen für Großfamilien.« Und sich gefreut, dass Kramer, dem seine Trennung von Frau und Tochter immer noch zu schaffen machte, auch wenn er es nicht zeigte, endlich wieder etwas Festes gefunden hatte. Tja, so konnte man sich irren.

»Ein Don Juan also«, nahm der Hauptkommissar den dienstlichen Faden wieder auf. »Ist ja nicht verboten. Aber man macht sich nicht unbedingt Freunde auf diese Art.« Bei der Suche nach einem Tatmotiv wäre das schon mal ein Ansatz. »Woher wissen wir überhaupt den Namen? Hat dieser Hafenmeister ihn identifiziert?«

Kramer nickte. »Er hat ihn gefunden, heute früh bei Niedrigwasser«, ergänzte er. »Der Tote hatte aber auch alle Papiere bei sich. Ausweis, Führerschein, Kreditkarten. Außerdem über 6.000 Euro in bar. Ein erstaunlich hoher Betrag, selbst wenn man bedenkt, dass Wallmann ziemlich vermögend war. Alles noch da, nur das Boot war weg. Stattdessen lag Wallmanns Leiche im Schlick.«

 

Stahnke wusste genau, wie die Marina Bingum bei Niedrigwasser aussah, weil er hier früher mal ein eigenes Boot liegen gehabt hatte. Nun war er doch froh, erst verspätet eingetroffen zu sein; die Vorstellung, womöglich nach einem Fehltritt in diesem Modder zu landen, hatte ihn stets geekelt. Die ständigen Vertiefungen der Ems und die dadurch ansteigende Geschwindigkeit vor allem des Flutstroms führten dazu, dass immer mehr und mehr Schlick in die angrenzenden Häfen, Buchten und Altarme gedrückt wurde. Jeder kannte die Ursache für diese Schweinerei. Solange aber die Großwerft oben in Papenburg mit der Arbeitsplatzkeule drohte und die Politiker nach ihrer Pfeife tanzten, würde sich daran wohl nichts ändern.

»6.000 Euro«, wiederholte Stahnke. »Klar, Wallmanns Boot war natürlich weit mehr wert. Trotzdem, welcher Raubmörder nimmt denn ein Boot mit, aber lässt seinem Opfer das Bargeld?«

»Ja, merkwürdig«, bestätigte Kramer. »Ein durchschnittlicher Raubmörder hätte Wallmann wohl auch nicht gleich 36 Messerstiche verpasst.«

Der Hauptkommissar pfiff leise durch die Zähne. »Sehe ich auch so«, sagte er. »Da steckt wohl eher Hass dahinter als Habsucht. Eine von seinen Verflossenen vielleicht?«

»Wohl eher ein betrogener Ehemann oder ein verlassener Freund«, erwiderte Kramer. »Wallmann war einen Meter 90 groß und ziemlich kräftig, ein richtiger Brocken. Und ein zupackender Typ, wie der Hafenmeister berichtet. Keine Angst, sich die Hände schmutzig zu machen. Ihm hat das gefallen. So muss man wohl sein, wenn man in der Zeitarbeitsbranche tätig ist. Jedenfalls in der Grauzone, da, wo richtig viel Geld zu machen ist.«

»Daher wohl auch das viele Bargeld. Cash auf die Hand spart Steuern. Soweit klar«, sagte Stahnke. »Aber warum soll der Täter denn keine Frau sein? Auch Frauen können mit Messern umgehen. Gerade Frauen! Wer macht denn die meiste Hausarbeit?«

»Merkwürdige Assoziationskette.« Gegen seinen Willen musste Kramer lachen. »Aber im Ernst, dem ersten Augenschein nach wurde ein Messer mit recht starker Klinge benutzt. Offenbar ziemlich scharf. Der Täter hat damit Wallmanns Brust und Oberbauch regelrecht zerfleischt. Nicht alle Stiche gingen wirklich tief, trotzdem, dazu gehört eine Menge Kraft.«

»Na und? Es gibt sehr kräftige Frauen. Und manche haben auch einen Bootsführerschein.«

Kramer zuckte die Achseln und äußerte sich nicht weiter dazu. Recht hat er, dachte Stahnke. Lauter zwecklose Spekulationen. Befassen wir uns doch erst einmal mit den Fakten.

Sie standen auf dem breiten Schwimmsteg, dort, wo der Stichsteg abzweigte, der den Liegeplatz von Wallmanns Boot seitlich begrenzte. Eine Böe kräuselte das Wasser im Hafenbecken, das nun wieder gut gefüllt war, und ließ die Bäume rauschen. Der Steg erzitterte leicht.

»Wieso eigentlich Waldemar?«, fragte Stahnke. »Waldemar. Wer heißt denn heute noch so.«

»Fußballreporter«, antwortete Kramer ungerührt.

»Na gut. Aber jüngere und mittlere Jahrgänge? Doch wohl kaum.«

»Wallmann war Russlanddeutscher«, erklärte Kramer. »Seine Eltern wollten ihre Abstammung wohl besonders deutlich machen. Der Junge musste es ausbaden.«

Stahnke zog seine Augenbrauen zusammen und musterte seinen Kollegen scharf. Sollte das gerade etwa mal wieder eine Anspielung sein? Auch Stahnkes Eltern waren besonders stolz auf ihre Herkunft gewesen, die ostfriesische nämlich, und hatten ihm einen Vornamen aufgehalst, der ihm bis heute hochnotpeinlich war.

Kramer schaute nicht zurück. Genau genommen schaute er nirgendwo hin. »36«, murmelte er leise.

»Bitte wie?«

»Die Anzahl der Messerstiche«, sagte Kramer leise und schleppend. »Sie entspricht genau dem Alter des Opfers. 36.« Jetzt hob er den Blick und fixierte seinen Vorgesetzten. »Eigenartig, nicht?«

»Worauf willst du hinaus? Auf einen durchgeknallten Strickmusterkiller?« Stahnke schaubte. »Jetzt spinnst du aber, mein Lieber.«

Kramer antwortete nicht.

Wieder lief ein leichtes Zittern durch den schwimmenden Steg, begleitet von einem trockenen Pochen. Hier war ein Boot nicht richtig festgemacht, und es drohten Lackschäden. Stahnke war zu sehr Segler, um das zu ignorieren, und blickte sich suchend um.

Es war das Boot in der Box neben Wallmanns Stichsteg, ein etwas mehr als sechs Meter langer, trailerbarer, teuer wirkender Daycruiser, anscheinend neuwertig. Wallmanns Boot sah vermutlich ganz ähnlich aus. Das luxuriöse Ding dümpelte hin und her, hatte eindeutig zu viel Bewegungsfreiheit und schlug immer wieder mit seiner glänzenden Bordwand gegen die Stegkante. Nicht mehr lange, und die Gelcoatschicht würde Schaden leiden, denn die beiden Fender hingen so, dass sie keinen Schutz boten. Warum hatte der Hafenmeister das denn noch nicht bemerkt?

Das Boot war mit zwei Achterleinen und einer Spring gesichert, ganz zünftig. Vorne aber war nur eine Leine fest. Der zweite vordere Festmacher, der das Boot eigentlich auf Abstand zum Steg hätte halten sollen, hing schlaff aus der Klampe ins Wasser hinab. Jemand hatte ihn vom Stegpoller losgemacht.

»Wart ihr das? Ich meine, die Spusi?«, fragte Stahnke.

Kramer schüttelte den Kopf.

»Dann ruf die Kollegen am besten noch einmal her«, sagte Stahnke.

5.

»Letzte Nacht? Und wann genau?« Lüppo Buss schaute den jungen Mann auf der anderen Seite seines Schreibtisches streng an. Dessen ohnehin schon stark gerötete Segelohren wurden noch um eine Nuance dunkler, und seine schmächtige Gestalt drückte sich in das dünne Stuhlpolster, als suchte sie darin Deckung.

»Irgendwann zwischen 23.30 und 4 Uhr morgens«, antwortete Jannik Bartels kleinlaut und schuldbewusst. »Genau weiß ich’s nicht, wir waren ja alle in Esens in der Disse.«

»Wo waren Sie, bitte?«

»In der Discothek.« Der junge Koch rollte die Augen, und zwischen seinen Sommersprossen strebten die Mundwinkel nun doch leicht auseinander: »Wissen Sie, das ist so ein Laden, in dem sie Musik von der Platte …«

»Willst du mich verscheißern?«, polterte Lüppo Buss los. Und fand seine eigene Frage sinnlos, denn natürlich war es das, was der arme Kerl wollte. Der Oberkommissar war sogar bereit, ihm das zu verzeihen; bestimmt hatte ihm Thormählen, sein Chef und zugleich der Besitzer des abhanden gekommenen Bootes, schon fürchterlich den Kopf gewaschen, ehe er ihn ins Polizeibüro an der Kaapdüne schickte, um Anzeige zu erstatten. Aber natürlich musste der Inselpolizist seine Autorität wahren. Außerdem wurmte es ihn, dass ihn dieser grüne Junge offenbar für einen senilen Tattergreis hielt.

Jannik Bartels hob abwehrend beide Hände. »Um Himmels willen … sollte doch bloß … ich meine, war doch nicht bös …«, stammelte er.

Hoffentlich sind seine Menüs besser durchdacht als seine Sätze, dachte Lüppo Buss, während er so tat, als regte er sich langsam ab. Man erzählte sich ja wahre Wunderdinge von Thormählens neuem Restaurant, das am Wochenende eröffnet werden sollte. Allerdings nicht nur von den Speisen, sondern auch von den Preisen. Ob er es sich überhaupt leisten konnte, seine Nicole dorthin auszuführen? Verdient hatte sie es ganz sicher, dass er ihr mal etwas Besonderes bot. Nur wollte er sich dafür nicht gleich finanziell ruinieren. Und außerdem: Was konnte das für eine Küche sein, in der die Köche dermaßen dünn waren? »Nouvelle Cuisine«, wo man nach einem fünfgängigen Menü mit knurrendem Magen aufstand?

»Ist schon gut«, sagte der Inselpolizist beschwichtigend. »Eine Wache habt ihr also nicht an Bord gelassen? So, wie man das eigentlich macht, wenn man ein Boot an einer unbewachten Stelle zurücklässt? Zumal so ein wertvolles, der Beschreibung nach?«

Der Koch starrte Lüppo Buss an und breitete hilflos die Hände aus. Offenbar hatte er von solchen Gepflogenheiten noch nie zuvor gehört.

»Na gut.« Der Oberkommissar schüttelte den Kopf. »Ich leite die Anzeige weiter nach Wittmund, die sind dafür zuständig. Eine Beschreibung des Bootes geht umgehend raus. Die Kollegen werden sich in allen einschlägigen Jachthäfen und Marinas umschauen oder zumindest nachfragen. Die Hafenmeister wissen ja immer am besten, wenn irgendwo fremde Boote auftauchen.« Demonstrativ klappte er seinen Notizblock zu. Für ihn war das Gespräch beendet.

Der Koch aber zögerte noch. »Was meinen Sie, wann … ich meine, wie sind denn die Chancen, dass das Boot wieder auftaucht?«

Lüppo Buss zuckte die Achseln. »Falls es bloß ein Dumme-Jungen-Streich war, wenn sich also jemand das Boot nur für eine Spritztour ausgeliehen hat, dann wird es sicher schnell gefunden werden. Die Frage ist dann nur, in welchem Zustand. Aber wenn es sich hier um einen planvollen Diebstahl gehandelt hat, dann, schätze ich, ist das gute Stück futsch. Es sei denn, der Autobahnpolizei gelingt noch ein Zugriff.«

Jannik Bartels’ Augen rundeten sich noch mehr. »Autobahn …?!«

Lüppo Buss schüttelte den Kopf; diesmal fiel es ihm nicht schwer, milde zu bleiben. »Professionelle Bootsdiebe schippern nicht mal eben in der Gegend rum. Die packen ihre Beute auf einen Trailer, und dann ab dafür, so schnell es geht. Zum Abnehmer. Meistens Richtung Osten.« Der Inselpolizist wusste das auch erst seit Kurzem. Während einer verordneten Fortbildungsmaßnahme hatte er sich einen Vortrag ausgesucht, dessen Thema ihm am wenigsten weltfremd vorgekommen war. Aber das ging den kleinen Koch hier ja nichts an.

Jannik Bartels verabschiedete sich und ging. Lüppo Buss blieb gerade genug Zeit, seine Meldung nach Wittmund abzusetzen, da öffnete sich die Tür zu seinem Büro bereits wieder. Eine Frau mit hennarot gefärbten Haaren erschien; sie trug ein erdbeerrotes Top, einen scharlachroten Wickelrock um die ausladenden Hüften, eine magentarote Umhängetasche und einen himbeerrosa Sonnenbrand auf den Schultern. Lüppo Buss hatte ein deutliches Déjà-vu-Gefühl, das er jedoch nicht zuordnen konnte.

Er begrüßte die Besucherin und nickte ihr aufmunternd zu.

»Ich will mich beschweren«, sprudelte die Frau los, ohne den Gruß zu erwidern. »Das ist ja lebensgefährlich, also echt, unglaublich. Mein Hermann ist die ganze Nacht nicht vom Lokus runtergekommen. Total schlecht geht es ihm. Und jetzt traut er sich immer noch nicht vor die Tür. Dabei haben wir doch nur eine Woche gebucht, mehr Urlaub hat Hermann nicht gekriegt, weil, der Laden brummt ja zu Hause, da kann er nicht weg, so einfach. Also, so was gibt es doch wohl nicht! Wie können Sie so etwas zulassen?«

»Was soll ich zugelassen haben?«, fragte Lüppo Buss entgeistert. »Kurze Buchungszeiten? Gute Geschäftslage? Oder dass Ihr Mann die Toilette blockiert?« Er verschränkte die muskulösen Unterarme vor der Brust.

»Wat?« Die rote Dame musterte ihn wie ein Insekt in ihrer Roten Grütze. »Wat soll dat denn? Haben Sie denn überhaupt nicht verstanden, was ich Ihnen gerade erzählt habe?«

»Offen gestanden, nein«, antwortete Lüppo Buss. »Vielleicht versuchen Sie es einfach noch einmal. Was, bitte, ist denn der eigentliche Grund Ihrer Beschwerde?«

»Na, die Marmelade«, erwiderte die rote Dame prompt. »Diese orangene.«

»Sie wollen sich bei mir über Orangenmarmelade beschweren? Meinen Sie denn, dass die Polizei dafür die richtige Adresse ist?« Jetzt sollten die von der Kurverwaltung mich mal sehen, dachte der Oberkommissar. Mehr Verständnis und Höflichkeit gegenüber Kurgästen geht ja wohl nicht, schon gar nicht gegenüber so durchgeknallten.

»Nee«, sagte die Besucherin. »Sanddorn.«

»Wat?« Unwillkürlich imitierte der Inselpolizist den Tonfall der Frau. Stammte sie aus dem Ruhrpott?

»Na, Sanddorn, nicht Orange. Diese Sanddornmarmelade, die es hier gibt, die ist doch orange.« Die Besucherin nickte ernsthaft.

Lüppo Buss stellte sich die verschiedenen, einander beißenden Rottöne, in denen die Dame leuchtete, kombiniert mit Sanddorn-Orange vor und konnte ein Schaudern nur mühsam unterdrücken. »Sanddornmarmelade also. Und die schmeckt Ihnen nicht?« Er sprach jetzt nicht mehr nur höflich, sondern übervorsichtig, wie mit einer Verrückten. Kam zur Polizei, weil ihr die Marmelade nicht schmeckte, also wirklich!

»Natürlich schmeckt uns die«, antwortete die rote Dame. »Ganz vorzüglich schmeckt uns die. Darum ja.«

Lüppo Buss verstand jetzt gar nichts mehr. »Darum ja – was?«, fragte er hilflos. »Darum wollen Sie sich beschweren?«

 

»Darum essen wir die ja so gerne! Und darum hat sich Hermann auch gleich zwei Brote damit geschmiert, obwohl er sonst gar nicht so gerne süß mag, schon gar nicht abends. Aber diesmal, zwei Brote, mit dick Marmelade drauf, weil sie doch so lecker schmeckt, hat er gesagt, diese einheimische Sorte aus dem Geschäft, wo wir vorher noch nie waren. Tja, und das war’s dann.«

Der Oberkommissar merkte, dass ihm der Unterkiefer herab hing, und sorgte für Abhilfe. Gleichzeitig kam ihm ein Gedanke, wie in diese grotesk anmutenden Ausführungen vielleicht doch noch Sinn hineinzubekommen wäre. »Sie meinen, die neue Marmeladensorte ist Ihrem Hermann nicht gut bekommen? Dass er davon einen Flotten gekriegt hat?« Stolz auf sein Kombinationsvermögen und seinen guten Willen, blickte er die rote Dame erwartungsvoll an.

»Was heißt hier, nicht bekommen!«, schnauzte die zurück. »Hermann hat einen Magen aus Eisen, das gibt es gar nicht, dass dem etwas nicht bekommt! Außerdem, Sanddorn haben wir früher schon gegessen, da gab es noch nie Probleme. Nee, nee, mit Bekommen hat das nichts zu tun.«

»Sondern?« Lüppo Buss spürte seine Selbstbeherrschung dahinschwinden und beschränkte sich daher auf dieses eine Wort.

»Sondern? Merken Sie denn überhaupt nichts?« Die rote Dame ging hoch wie eine Leuchtrakete. »Gift! Mit Gift hat das was zu tun! Hier will uns einer vergiften! Bei meinem Hermann hätte das beinahe schon geklappt, wenn der nicht so ›ne eiserne Konstitution hätte.« Mit diesen Worten zog sie eine Plastiktüte aus ihrer magentaroten Umhängetasche und platzierte sie auf Lüppo Buss’ polierter Kirschholzfurnier-Schreibtischplatte.

Die Tüte war pink.

Der Oberkommissar merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Und da drin ist …«

»Genau.« Die rote Dame nickte eifrig. »Die Sanddornmarmelade mit dem Gift. Vielmehr, der Rest davon.«

»Und Sie meinen, die soll ich jetzt …«

»Erraten. Ins Labor, zur Untersuchung. So geht das doch, nicht? Sieht man ja immer im ›Tatort‹.« Sie blickte sich suchend um: »Wo haben Sie denn hier eigentlich Ihr Labor?«

Der Inselpolizist räusperte sich umständlich. »Das Labor? Tja, wissen Sie, Frau … wie war doch gleich Ihr Name?«

»Salewsky«, erwiderte die rote Dame und knallte einen Personalausweis neben die pinkfarbene Tüte. »Ingeborg Salewsky. Ich dachte schon, Sie würden mich überhaupt nicht mehr danach fragen. Immerhin mache ich hier ja eine offizielle Anzeige.«

»Eine Anzeige?« Lüppo Buss, der sich Namen und Anschrift notierte, blickte auf. »Anzeige gegen wen denn, bitteschön?«

»Na, gegen die Leute, die uns dieses Giftzeugs verkauft haben! Wie heißen die denn noch … ich glaube, Tütjer oder so ähnlich. Jedenfalls heißt der Laden so.«

»Tuitjers Eck meinen Sie?« Der Oberkommissar kannte das Geschäft, das immer noch den Namen seines verstorbenen Gründers führte. »Mal im Ernst, glauben Sie wirklich, dass jemand Ihnen Böses wollte? Bestimmt ist das alles nur ein unglücklicher Zufall. Ihr Hermann hat gestern sicher noch irgendetwas anderes gegessen, das ihm nicht bekommen ist. Oder getrunken. Reden Sie doch noch einmal mit ihm, sprechen Sie alles durch. Bestimmt gibt es für das Unwohlsein Ihres Gatten eine harmlose Erklärung.«

Die rote Dame sprang auf, so ungestüm, dass der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, hinter ihr zu Boden krachte. »Wollen Sie mich eigentlich nicht verstehen?«, zischte sie den Inselpolizisten an. »Oder können Sie bloß nicht? Hier geht es nicht einfach um einen verdorbenen Magen, hier geht es um einen Giftanschlag. Jemand hat es auf uns abgesehen. Und vielleicht auch noch auf andere. Was muss denn noch alles passieren, dass Sie endlich mal Ihren Hintern hochkriegen?« Sie grabschte nach ihrem Ausweis und stopfte ihn in die Umhängetasche. »Aber warten Sie nur, Sie werden schon sehen. Wenn Sie mich nicht ernst nehmen in meiner Not, die Presse wird das schon tun! Da gehe ich jetzt nämlich hin. Zur Presse, jawohl. Die wird Ihnen schon Dampf machen.«

Damit rauschte sie hinaus und schmetterte die Tür hinter sich ins Schloss.

Lüppo Buss schaute ihr kopfschüttelnd nach. Leute gab es! Also wirklich. Ein Mordanschlag, einfach so, mit Marmelade frisch aus dem Laden, ohne einen Anlass oder ein erkennbares Motiv. Nee, Leute. Was die Frau sich so alles einbildete. Na ja, Einbildung war ja auch eine Form von Bildung.

Dann begann er zu grübeln. Sein Blick ruhte auf der pinkfarbenen Plastiktüte, die auf seinem Schreibtisch zurückgeblieben war.