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Peter Gerdes

Verrat verjährt nicht

Oldenburg-Krimi


Zum Buch

Zeiten der Rache Leichenfund im Oldenburger Jachthafen – genau am Bootssteg der scharfzüngigen Journalistin Olivia Dressel. Die Platzierung des Ermordeten kann kein Zufall sein. Ebenso wenig die Häftlingsnummer Z 3030, die einem anderen gehört, auf dem Arm des Toten. Wo ist der Zusammenhang? Olivia, als Pflegekind aufgewachsen, interessiert sich nicht für familiäre Bindungen. Plötzlich sieht sie sich in die dunkle Geschichte gleich zweier Oldenburger Familien verstrickt. Gemeinsam verdienten sie an jüdischem Besitz. Dann kam der Verrat. Kann es sein, dass Verbrechen, die viele Jahrzehnte zurückliegen, noch heute Opfer fordern? Gibt es einen Rachefeldzug über Generationen hinweg? Hauptkommissar Stahnke, zurück an seiner alten Wirkungsstätte, greift auf der Suche nach Täter und Motiv weit zurück in die Vergangenheit, steigt hinab in dunkle Keller und hinter dichte Lügengespinste. Am Ende scheint die Lösung greifbar nahe. Aber ist sie auch zu fassen?

Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet Peter Gerdes die »Ostfriesischen Krimitage«. Seine Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Mit seiner Frau Heike betreibt der Autor die Krimi-Buchhandlung »Tatort Taraxacum« in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tobias Arhelger / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-7004-2

1.

Heute

Jedes Mal, wenn sie zustach, spürte sie diesen wohligen Schauder. Wie die pralle Haut unter ihrer Klinge knarrte, wie sich der Schnitt klaffend öffnete, wie das weiche Innere hervordrängte! Als würde sie einen Froschmann sezieren. Oder einen Orca schlachten.

Sie blickte hoch. Die polierte Oberfläche der Kühlschranktür zeigte ihr Spiegelbild. Hohe Wangenknochen, starkes Kinn, blaue Augen, Lockenmähne. Die vollen Lippen ihres breiten Mundes waren zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Olivia Dressel, die Spottdrossel, den Spitznamen hatte sie sich redlich verdient. Sich selbst nahm sie dabei nicht aus. Nicht einmal beim Würfeln einer Aubergine hatte sie ihre Fantasie im Griff!

Aubergine, Zucchini, Knoblauch, Kräuter und Harissa, ab damit ins heiße Olivenöl. Schon wieder mediterrane Gemüsepfanne! Das Fleisch blieb im Gefrierfach. Nächstes Jahr wurde sie 40, da hieß es aufpassen. Momentan war sie zwar ganz zufrieden mit ihrem kraftvollen Körper und seinen Rundungen, aber mehr durften es nicht werden. Deshalb hatte sie für den Nachmittag auch zwei Stunden Fitnessstudio angesetzt. Ihre Zeitungsseiten waren schon zu, ihr Arbeitszeitkonto war übervoll; ein guter Tag, um Überstunden abzubummeln.

Beim dritten Bissen summte ihr Smartphone. Direkt neben ihrem Teller, da lag es immer. Falls die Redaktion anrief. So wie jetzt. »Was gibt’s denn noch, Marco?«

»Guten Appetit! Na, was isst du gerade, blutiges Büffelsteak, selbst geschossen?« Kollege Marco Rosenfeld klang am Telefon viel selbstsicherer als im wahren Leben. Ein echter Telefonmensch, wie geschaffen für den Redakteursjob, der immer häufiger am Schreibtisch stattfand.

»Schieß mal selber los«, entgegnete sie, ungeniert kauend. »Du versaust mir doch wohl nicht den Nachmittag, mein Kleiner?« Ihr Kollege war einen Kopf größer als sie, aber in ihrer Gegenwart schien er immer zu schrumpfen; dabei gab er sich doch so hartgesotten, recherchierte selbst die übelsten Mordfälle, so wie neulich den Tod des dealenden Nazi-Rockers mit der aufgeschlitzten Kehle. Hinter seinem Notizblock schreckte er vor nichts zurück, dachte Olivia amüsiert. Alles Fassade! Schade eigentlich, Marco war ein ganz leckeres Kerlchen, und dass er erst Mitte 20 war, störte sie nicht im Geringsten. Aber ein bisschen selbstbewusster mussten ihre Männer schon sein. »Ich muss mich an etwas reiben können, um mich an jemandem zu reiben«, hatte sie das mal ausgedrückt, in der Kneipe, unter Frauen und nach dem dritten Glas Weißwein.

»Nee, natürlich nicht. Ist nur eine Kleinigkeit.« Marco druckste herum. Damit fiel er bei ihr schon wieder durchs Raster. »Ist auch nur, weil du doch momentan die Ostfriesland-Seiten machst. Da kam gerade eine Meldung aus Völlen rein, die muss noch zu morgen mit.«

»Na und? Dann stell sie doch rein.« Sie ließ ihn zappeln. »Rechts auf der Zwei, die Meldungsspalte, da stehen unten die DRK-Termine. Schmeiß die raus und stell die Meldung oben drüber. Ist doch kein Ding. Morgen schreibe ich einen Nachdreher.« Ihre Zeitung, die Regionale Rundschau in der alten Residenzstadt Oldenburg, war gerade dabei, ihren Beritt in Richtung Küste auszudehnen, weil das Leeraner Blatt den jahrzehntealten Kooperationsvertrag gekündigt hatte. Das bedeutete Krieg, deshalb hatte sich Olivia auch gleich für die neue Position gemeldet. Freie Hand und Konkurrenzkampf, so etwas liebte sie.

»Ja nee.« Ihr Kollege gab sich einen hörbaren Ruck. »Wir brauchen ein Foto, und von den freien Fotografen, die wir dort haben, hat keiner Zeit. Von uns hier in der Zentrale auch nicht.«

»Wie, und jetzt soll ich extra in die Sümpfe fahren, bloß, um ein Foto zu knipsen? Wovon denn überhaupt?« Sie schaufelte sich Gemüse in den Mund, soviel nur hineinpasste. Das Zeug schmeckte wirklich gut. Außerdem war ihr Widerstand in Wahrheit längst gebrochen. Also schnell hin, schnell fertig, dann blieb vielleicht noch Zeit für das Studio. Oder für ihr Boot, dort musste sie auch mal wieder nach dem Rechten schauen.

»Anschlag auf den Gedenkstein vor der Kirche«, sagte Marco.

Olivia prustete Auberginenstücke auf ihren Teller. »Wie bitte? Hat jemand das Ding in die Luft gejagt? Das hättest du gleich sagen sollen.«

»Nein, keine Bombe, aber ein Farbanschlag. Immerhin. Du weißt, das Ding ist sowieso brisant, seit die Sache mit diesem Johann Niemann aufgeflogen ist. Deswegen brauchen wir unbedingt ein Foto, die Fakten haben wir schon zusammen. Also, was ist? Nagelst du eben runter mit deinem Organspendermobil? Foto kannst du online schicken. Danach hast du frei.«

»Natürlich online! Das sagst du doch bloß, damit ihr mir die Rückfahrt nicht als Arbeitszeit berechnen müsst.« Sie nahm ihren Teller und stellte ihn auf die Spüle. »Und mach mir mein Moped nicht schlecht, verstanden? Wenn ich das nicht hätte, würdest du bei mir auf Granit beißen.«

»Moped! Selten so eine schamlose Untertreibung gehört. Höllenmaschine passt wohl eher.« Marcos Stimme war die Erleichterung anzuhören.

Sie musste lachen. »So was kann nur ein Weichei sagen. Sorry, nichts für ungut, aber – Weichei! Lass dich doch in die Gartenredaktion versetzen, oder hast du etwa vor Harken Angst? Die sind vorne ebenfalls aus Metall.«

»Nein, danke, ich bleibe bei meinen weichen Themen«, parierte Marco. »Solchen wie dieser ultrarechte Parteifunktionär, der gestern gegen eine Mauer gerast ist, weil sein Wagen die komplette Bremsflüssigkeit verloren hatte. Der ist jetzt butterweich, das kannst du mir glauben.«

Olivia lachte entzückt. »Oho, Marco! Willst du etwa doch noch auf Mann umschulen?«

Er lachte mit, gutmütig, wie er war. »Schönen Dank auch! Und treib’s nachher nicht zu doll, nicht, dass mir Klagen kommen.«

»Wenn ich es irgendwo treibe, kommen nie Klagen.« Sie alberten noch ein bisschen herum, während Olivia sich in ihre Lederjacke zwängte. Die Lederhose trug sie bereits, die war einfach schick, wenn auch etwas warm im Sommer. Aber was tat man nicht alles für ein paar bewundernde Blicke.

Sie beendete das Gespräch und trat aus der Tür. Hinaus in die grüne Hölle. Ihr kleines Siedlerhäuschen in Drielake hatte über 1.000 Quadratmeter Garten, viel zu viel für ihren Geschmack. Wenn sie mit Mähen und Schnippeln an einem Ende fertig war, konnte sie am anderen direkt wieder anfangen. Meistens tat sie das nicht, was die Sache nicht einfacher machte. Zum Glück hatte sie tolerante Nachbarn. Das Kifferpärchen rechts lobte sie sogar für ihren »Naturgarten«, während deren eigener an eine Müllkippe erinnerte. Und der alte Schulte links, der schon ewig dort wohnte und dessen Garten immer aussah wie geleckt, stutzte sogar die kleine Trennhecke auf ihrer Seite mit. Als Nachbar war der Mann ein Glücksfall, weil er nicht nur von Pflanzen, sondern auch von Motoren etwas verstand. Auf dem Weg zu ihrem Carport sah sie ihn drüben werkeln und winkte ihm zu.

Im Carport stand ihr roter Alfa Romeo Spider, klein und niedrig und so weit wie möglich hinten rechts in die Ecke gedrängt, als fürchte er sich vor dem anderen Fahrzeug, mit dem er sich den Unterstand teilen musste. Einem Klotz aus schwarzem Metall, der das Auto deutlich überragte, mit obszön unverkleideter Maschine und blanken Luftansaugstutzen, die wie Kanonenrohre aussahen. Die Yamaha V-Max, seinerzeit das erste Serienmotorrad auf dem deutschen Markt mit mehr als 100 Pferdestärken. Sogar mehr als 100 Kilowatt! Inzwischen war das keine Seltenheit mehr, aber dieses Monstrum mit seinen 262 Kilo Gewicht hatte einst den Bann gebrochen.

Sie stülpte den knallroten Helm über ihre Mähne und glitt in den Sattel. Dröhnend und fauchend erwachte der Motor zum Leben. Sanft gab sie Gas, ließ die Maschine niedertourig über den Hemmelsbäker Kanalweg rollen, um keinen Nachbarn vom Sofa zu scheuchen; hier am Stadtrand hielt man sich noch an die Mittagsruhe bis 15 Uhr. Erst hinter dem Bahnübergang gab sie kurz mehr Gas – und steckte sofort im dichten Stadtverkehr fest. Mit einem wirklichen Moped hätte sie sich jetzt zwischen den Autos hindurchgeschlängelt. Mit dem Monster tat sie das lieber nicht. Nicht hier, wo man sie kannte.

Statt sich durch die Innenstadt zu quälen, schlug sie den Weg zur Autobahn ein, nahm die Auffahrt Oldenburg-Ost, fuhr bis Eversten/Bloherfelde und nahm dann die B401, die in Hundsmühlen auf den Küstenkanal traf. Ab hier ging es mehr oder weniger geradeaus bis zur Abzweigung nach Papenburg. Trotz der Geschwindigkeitsbeschränkungen, an die sie sich weitgehend hielt, fuhr Olivia diese Strecke gern. Vor allem wegen des Kanals, dessen Wasser linker Hand immer wieder durch Baumreihen blitzte. Hin und wieder kam ein Motorboot in Sicht, dann reckte sie den Hals. Meist aber waren es behäbige Rentnerpötte, hoch und breit und mit allem Komfort. Olivia liebte es auch auf dem Wasser deutlich rasanter. Ihr eigenes Boot im Oldenburger Jachthafen legte Zeugnis davon ab.

Kurz vor der Abzweigung des Elisabethfehnkanals kam ihr ein niederländisches Binnenschiff entgegen, so groß, wie es gerade noch durch die Schleusen passte, hoch beladen mit Containern, einige davon knallbunt, die meisten matt und rostig. Wie hatten diese Blechbüchsen die Seefahrt verändert, weltweit, auf den Ozeanen wie auf den Flüssen und Kanälen! Albert Schulte, ihr netter alter Nachbar, schwärmte oft von den Zeiten, als Stückgut noch Stückgut war und mit Kran und Karre gelöscht wurde, als die Schiffsbesatzungen zahlreich und die Hafenarbeiter noch weit zahlreicher waren. Aus, vorbei, komplett umgekrempelt. Containerhäfen glichen heute Geisterstädten, arbeiteten dafür rund um die Uhr, und die Liegezeiten der Schiffe waren so kurz, dass es sich für die wenigen verbliebenen Seeleute kaum lohnte, einen Fuß an Land zu setzen.

Ihr Vater war einer von diesen Seeleuten gewesen. Na ja, was man so Vater nannte. Nennen musste, das hatte Mutter ihr eingebläut. Von wegen Mutter! Dass sie bloß ein Pflegekind war, eine Einnahmequelle, hatte die Frau ihr nach einem furchtbaren Streit ins Teenagergesicht gebrüllt. Sie hatte im Schock eine Blumenvase zerschlagen, und ihr sogenannter Vater, der zufällig mal zu Hause war, hatte sie vertrimmt, routiniert und gründlich. Danach hatte sie sich geschworen, sich vom Acker zu machen, sobald und so schnell es ging. Das hatte sie auch gemacht, an ihrem 18. Geburtstag. Seitdem konnte es ihr nie schnell genug gehen, bei allem, was sie tat.

Vor ihr bog ein Passat auf die Bundesstraße ein, nahm ihr die Vorfahrt. Hielt der Fahrer sie etwa für ein Mofa? Statt zu bremsen, gab sie Gas, huschte an der Familienkutsche vorbei und fädelte sich vor dem entgegenkommenden Lkw wieder ein, ehe der entsetzt glotzende Fahrer seine Lichthupe gefunden hatte. Dann noch schön den Mittelfinger! Ja, so machte es Spaß. Damit trieb sie sich trübe Gedanken wirkungsvoll aus Kopf und Gekröse.

Papenburg zerrte an den Nerven. Wie konnte eine Stadt nur so lang gestreckt sein! Ein abgewickelter Bindfaden war nichts dagegen. Klar, Fehnsiedlungen waren zur Zeit der Moorkolonisten entlang von Kanälen entstanden, weil es richtige Straßen nicht gab, schon gar nicht im Winter, wenn alles nass und der Untergrund aufgeweicht war. Ließ sich logisch erklären. Aber machten Erklärungen irgendetwas besser? Für Marco vielleicht, diesen Kopfgesteuerten, dachte Olivia. Aber nicht für sie. Papenburg fühlte sich blöd an, also war es blöd.

Im ostfriesischen Dorf Völlen angekommen, fuhr sie zunächst an dem Gedenkstein vorbei. Am Tatort, genau genommen. Sie hatte gedacht, die Gedenkstätte läge direkt an der Straße, Polizei und Spurensicherung wären im Einsatz und müssten sich dabei aufdringlicher Gafferhorden erwehren. Nichts davon traf zu. Das beschmierte Steintafel-Triptychon lag ein paar Meter zurückgesetzt und durch Büsche abgeschirmt zwischen Straße und Kirche und war mit Flatterband umsäumt; der Polizeieinsatz war bereits beendet, und wenn es einen Auflauf Neugieriger gegeben hatte, dann hatte sich der inzwischen verlaufen. Vermutlich hatte die Tat nachts stattgefunden, überlegte Olivia, während sie ihre V-Max in der nächsten Seitenstraße abstellte, dann war klar, warum hier niemand mehr herumstand. Blöde nur, dass die Rundschau so spät davon erfahren hatte! Schaulustige hätten sich auf dem Foto gut gemacht. Die Verankerung ihrer Zeitung im südlichen Ostfriesland musste noch sehr viel besser werden.

Das mit Backsteinen ummauerte Denkmal hatte drei Flügel aus Sandstein; zwei kleinere rahmten den mittleren, deutlich größeren ein. Links und rechts waren die Völlener Toten des Ersten Weltkriegs aufgelistet, von 1914 bis 1918 nach Jahrgängen sortiert. Die große Tafel in der Mitte zeigte die Namen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Völlener, weitaus mehr, alphabetisch und im Fließtext. Über diese Namen hatte jemand mit roter Farbe das Wort »Mörder!« gesprayt, in zwei Zeilen und mit Trennungsstrich. Dahinter ein Ausrufezeichen. Und noch ein Strich darunter, wie um das Ganze … na, eben zu unterstreichen.

Olivia zückte ihr Smartphone. Sie mochte keine Bilder nur von Steinen, ohne Menschen, in der Zeitung. Aber hier waren immerhin genügend Namen drauf, und die Schändung des Mahnmals sprach für sich. Sie knipste aus verschiedenen Perspektiven.

Na ja, Mahnmal … Dass es eigentlich als Kriegerdenkmal gedacht war, sah man auf den ersten Blick, auch wenn die Überschrift »Unseren gefallenen Helden« inzwischen durch »Nie wieder!« ersetzt worden war. Die beiden steinernen Schwerter links und rechts des Mittelblocks aber hatte man belassen. Fadenscheinig, fand Olivia. Sie hatte nichts gegen archaische Waffen, hatte sogar schon überlegt, ob Fechten nichts für sie wäre. Aber weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg wurde mit Schwertern gekämpft, da wurde Menschen durch alle erdenklichen Körperteile geschossen, sie wurden mit Granaten und Bomben zerfetzt, zermalmt und zerstampft. In Frankreich und Belgien fanden Bauern heute noch Überreste in ihren Feldern. Moderne Kriege waren keine edlen Gefechte, sondern Gemetzel mit Maschinen, da gab es nichts zu beschönigen.

Hatte der unbekannte Sprayer das gemeint? Er hatte allein die mittlere Tafel besprüht, die mit den Namen aus dem Zweiten Weltkrieg. Links und rechts konnte Olivia kein Tröpfchen Farbe entdecken. Also eher eine Anti-Nazi-Aktion. Naheliegend, die extreme Rechte hatte in den letzten Jahren mächtig Zulauf gehabt, vor allem in den östlichen Bundesländern, aber auch hier im Nordwesten gab es immer mehr Aktivitäten. Die neuen Nazis beriefen sich immer ungenierter auf die alten, und von denen hatte mindestens einer jahrelang mit auf dieser Ehrentafel gestanden: Johann Niemann, der Kommandant des Konzentrationslagers Sobibor.

Vor einiger Zeit war das aufgefallen, es hatte Kritik gegeben, und sein Name war mit einer getönten Plexiglasscheibe überdeckt worden, die auf eine separate Tafel verwies, auf der die Verbrechen dieses Völleners erläutert wurden. Weder der überdeckte Name noch die Infotafel waren besprayt worden. Wollte der unbekannte Täter damit andeuten, dass auch alle anderen Weltkriegsteilnehmer in seinen Augen Mörder waren? Es gab Leute, die das so sahen – »Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich’.« Die meisten aber differenzierten doch danach, wer für welche Sache kämpfte, mit welchen Mitteln, ob unfreiwillig oder aus Überzeugung. Oh ja, das Leben war kompliziert. Das Wort »Mörder« allein wurde dem nicht gerecht.

Genug davon. Olivia schickte drei Fotos an die Redaktion, wartete die Bestätigung von Marco ab und setzte sich den Helm wieder auf. So, was jetzt? Noch ins Fitnessstudio? Eigentlich war das Wetter zu gut dafür. Vielleicht später am Abend. Erst mal zurück nach Oldenburg und einen Abstecher zum Jachtklub machen, nach ihrem Boot schauen, vielleicht Leute treffen, bisschen klönen. Sie startete ihre Maschine, riss kurz das Gas auf. 145 Pferdestärken brüllten durch das halbe Dorf. Ups! Schnell legte sie den ersten Gang ein, wollte lossprinten, musste aber erst einen Kleinbus vorbeilassen, der Vorfahrt hatte. Der Bus war mit Werbung beklebt, drinnen saßen lauter Halbwüchsige in bunten Fußballtrikots. Die Jungs starrten sie aus großen Augen an, teils ungläubig, teils bewundernd und neiderfüllt. Waren die Burschen schon alt genug für den Mopedführerschein? Bis zu einer V-Max würden sie noch ein paar Jahre warten müssen. Gott sei Dank.

Sie überholte den Kleinbus bei der ersten Gelegenheit, gondelte durch Papenburg zurück an den Küstenkanal und bog nach links auf die Bundesstraße ein. Diesmal hatte sie mehr Gegenverkehr; nach ein paar krassen Überholmanövern ließ sie es sein und blieb hinter einem Tieflader, der seinerseits so schnell fuhr, wie es die Straße gerade noch zuließ. Seine Ladung bestand aus einem rostigen Seecontainer. Kein Spaß, heutzutage für eine Spedition zu arbeiten, dachte Olivia, ständig den Zeitdruck im Nacken und den Disponenten am Handy. Sie als Redakteurin stand normalerweise auch unter ständigem Zeitdruck. Aber ihr machte das nichts, sie war schnell im Denken und flott im Schreiben. Nicht so wortverliebt wie Marco, der jeden Satz viermal durchkaute.

In Oldenburg hatte schon der Feierabendverkehr eingesetzt. Sie brauchte eine Weile bis zum Jachtklub, wo ihr Boot lag. Der lange Schwimmsteg war in einem Seitenarm der Hunte vertäut, unterhalb einer Fischtreppe und seitlich der Schleuse, dort, wo aus dem Küstenkanal ein Fließgewässer wurde. Die Ufer waren dicht bewachsen. Ebbe und Flut reichten bis hierher, in die Mitte der Stadt; so war das binnenländische Oldenburg mit allen Ozeanen und Randmeeren dieser Welt verbunden. Ein Gedanke, der sie faszinierte. Sie grüßte flüchtig ein paar ältere Vereinskollegen, die ihr unverhohlen nachglotzten, während sie über den Verbindungssteg tänzelte. Olivia sah es genau, sparte sich aber den Mittelfinger. Diese alten Säcke hatten das Sagen im Verein und konnten ihr jede Menge Ärger machen, wenn sie denen dumm kam. Das war es ihr nicht wert. Sie wollte nur einen Liegeplatz für ihr Boot; die Welt verbessern, das sollten andere besorgen.

Der Schwimmsteg war ewig lang, ein Element folgte auf das andere. Ihr Boot lag ganz am Ende des Steges; Neulinge mussten sich hinten anstellen, wenn sie überhaupt einen Liegeplatz bekamen. Die alten Kämpen gingen nicht gerne weit zu Fuß. Olivia war inzwischen zwar seit acht Jahren Vereinsmitglied, hatte aber nie drauf gedrungen, dementsprechend weiter in Richtung Vereinsheim zu rücken; außen am Steg lag sie nicht in einem engen Schlauch mit hinterlistigen Steinen an der Böschung gegenüber, an denen sie sich bei Niedrigwasser den Propeller verhunzen konnte, sondern im freien Wasser, direkt am breiten Huntebecken mit Blick auf die alte Cäcilienbrücke. Ihr Boot war eine Cobalt 253, keine acht Meter lang, aber mit 250 PS, und führte den Namen Sting. Okay, sicher gab es Rennboote, deren spitze Form noch mehr an einen Stachel erinnerte, aber ihres kam schon ziemlich dicht heran. Offenes Cockpit mit Bimini-Verdeck, Schlupfkajüte, Steuerstand rechts, ultrabequeme Sessel, Liegefläche achtern. Und Getränkehalter. Herrlich, wie sich die alten Männer die Mäuler darüber zerrissen! Aber wenn sie den Volvo Penta anwarf, hörte sie nichts mehr davon. Und wenn sie beschleunigte, spürte sie die gierigen Blicke der Kerle mal nicht auf ihrem Hintern, sondern auf dem Heck ihres Bootes. Kurze Inspektion: An Bord war alles in Ordnung. Sie startete die Maschine und warf die Festmacher los, erst achtern, dann vorne. Die Ebbe lief bereits und Sting lag mit dem Bug stromaufwärts, das empfahl sich wegen des ständig von der Fischtreppe her fließenden Oberwassers. Also löste sie die vordere Spring zuletzt. Die Strömung drückte den Bug vom Steg weg, genau wie berechnet. Sie schob den großen, verchromten Hebel sanft nach vorne. Einkuppeln und Gas geben war eins. Federleicht löste sich ihr Boot vom Steg und beschrieb einen eleganten Bogen. Hach, war das schön!

Auf dem Warteplatz vor der Schleuse lag ein großes Binnenschiff, hoch mit Containern beladen. Olivia passierte das Schiff in sicherem Abstand. Am Heck hing die niederländische Flagge. Herinnering hieß das Schiff und kam aus Groningen. Viele Binnenschiffe waren in den Niederlanden beheimatet.

Die Strömung der Ebbe war deutlich spürbar, das Wasser aber stand noch hoch. Kein Problem, die Durchfahrthöhe der Hubbrücke reichte jederzeit für ihr flaches Boot. Das Ende dieser alten Brücke war besiegelt; demnächst würde sie durch einen Betonbau ersetzt werden, so wie vor vielen Jahren die Amalienbrücke am anderen Ende des Stadtkanals. Noch aber konnte sie das stählerne Baudenkmal von unten bewundern.

Langsam tuckerte sie zwischen den Spundwänden hindurch, spürte die gebändigte Kraft des Motors in den Vibrationen des Ruderrades. Ungeduld auch, aber das war ihre eigene. Beim Stadthafen bog sie nach rechts ab. Zwischen ihr und dem Unterlauf der Hunte lag als letztes Hindernis nur noch die Eisenbahn-Klappbrücke. Ein vertracktes altes Ding, das sich an heißen Tagen wie diesem gerne mal verklemmte. Zwei rote Warnlampen leuchteten ihr entgegen. Mit den Augen nahm sie Maß: Reichte die Durchfahrthöhe auch ohne Öffnung?

Eine der roten Lampen erlosch; die Klappbrücke begann, sich zu heben. Hatte man sie vom Stellwerk aus bemerkt? Ach nein, auf dem Warteplatz vor der Brücke machte sich gerade ein weiteres Binnenschiff startklar, hatte die Öffnung wohl über Funk angefordert. Gute Gelegenheit, dachte Olivia und gab Gas. Sting hob seinen Bug und schob ihn auf die eigene Welle. Flott steuerte sie ihr Boot auf die Durchfahrt zu. Noch leuchtete zwar die eine rote Lampe, aber sie brauchte nicht auf Grün zu warten, die Durchfahrthöhe war bereits mehr als groß genug, und das lahme Binnenschiff hatte noch nicht einmal auf Schleichfahrt beschleunigt. Mit ihrem Speed war sie durch die Brücke, ehe sie jemand bemerkte.

Irrtum, stellte sie fest, kaum, dass sie das Rotlicht passiert hatte. Im toten Winkel auf der anderen Brückenseite lauerte sachte dümpelnd ein Polizeikreuzer. Worauf? Auf Verkehrssünder wie sie. Schon beschleunigte das schwere blaue Stahlboot und schob sich in einem Bogen längsseits, nicht weniger elegant als vorhin die Sting beim Ablegen. Olivia fletschte die Zähne und knurrte vor unterdrückter Wut. Wut auf sich selbst. Schon wieder in die Falle getappt! Lernte sie denn nie etwas dazu? Wenigstens kannte sie das Verfahren inzwischen, behielt Kurs und Geschwindigkeit bei, wie die Beamten es von ihr erwarteten; das Polizeiboot passte sich genau an und fuhr neben der Sting her, weniger als einen Meter entfernt. Zwei stämmige Uniformierte stiegen zu ihr herüber, fast gleichzeitig, sodass ihr Boot seitlich tiefer eintauchte und sie gut zu tun hatte, ihren Kurs stabil zu halten und eine Kollision zu vermeiden.

»Guten Tag, Bootsführerschein und Schiffspapiere bitte.« Der ältere der beiden trug einen ausladenden Schnurrbart. Er tippte sich an die Mütze und stellte sich vor. »Hauptkommissar Seifert, Wasserschutzpolizei. Sie wissen, warum wir an Bord gekommen sind?«

Olivia nickte. »Tut mir leid, ich war wohl etwas voreilig.« Sie investierte einen ihrer Augenaufschläge. Dunkelblaue Iris unter langen schwarzen Wimpern, ein reizvoller Kontrast zu ihren Zigeunerlocken und ihrem sommerbraunen Teint. Na, tat der Anblick seine Wirkung wie schon so oft zuvor?

Der Beamte ließ sich nichts anmerken, prüfte ihre Papiere akribisch, während sein jüngerer Kollege hinter ihm stand und interessiert über seine Schulter blickte. Galt sein Interesse dem Boot oder der Steuerfrau? Schwer zu sagen, dachte Olivia. Das konnte teuer werden. Wurde es aber nicht. Der ältere Beamte beließ es bei einer kleinen Geldbuße und einer väterlichen Ermahnung, der jüngere grinste sie zum Abschied breit an. Aha, alles klar, dachte sie und grinste zurück. Vielleicht ein anderes Mal, am besten am Strand oder im Huntebad. Auf Uniformen stand sie nicht.

Nachdem der Polizeikreuzer kehrtgemacht hatte, um sich erneut auf die Lauer zu legen, blieb Olivia noch ein paar Minuten auf ihrem Kurs, wendete dann aber auch ihr Boot. Die Lust an einer längeren Ausfahrt war ihr vergangen. Sie hatte sich überzeugt, dass mit Sting alles in Ordnung war, und damit ihrer Eignerpflicht genügt. Jetzt lieber ins Studio und Eisen stemmen, richtig abreagieren, darauf hatte sie mehr Bock.

Diesmal hielt sie sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzung, unterquerte die Eisenbahnbrücke, ohne eine Öffnung abwarten zu müssen, da der Wasserstand inzwischen weit genug gefallen war, fuhr in Richtung Stadthafen und wollte dann nach links in den Stadtkanal einbiegen, der zum Huntebecken vor der Schleuse und zu ihrem Liegeplatz führte. Von dort näherte sich allerdings Gegenverkehr, ein ziemlich großes Binnenschiff voll mit Containern. Also stoppte sie und wartete ab, bis der Tausendtonner die Kurve bewältigt hatte. Dann erst fuhr sie zwischen die Spundwände, wo das Wasser immer noch von der Schraube des Binnenschiffs aufgewühlt war und schäumte, brachte den Stadtkanal hinter sich und steuerte ihren Liegeplatz an. Etwas flotter als erlaubt, denn jetzt wusste sie ja, wo das Polizeiboot lag.

Die Lücke am Steg, die sie beim Ablegen hinterlassen hatte, war noch frei. Das hintere Ende des langen Schwimmstegs war vom Huntebecken aus frei einsehbar, leere Plätze wirkten einladend. Manchmal legten Passanten, die nach der Schleusung eine Pause einlegen wollten, dort an, das führte jedes Mal zu Diskussionen. Diesmal nicht, dachte Olivia, zum Glück. Nach dem Erlebnis vorhin wäre sie womöglich grob geworden. Adrenalin war ein Teufelszeug.

Im spitzen Winkel steuerte sie die Lücke an, legte die vordere Spring und das Ende der Vorleine zurecht und vergewisserte sich, dass die Fender richtig hingen. Gut vorbereitet, waren solche Manöver auch allein gut zu schaffen. Die Strömung kam zuverlässig von vorn, von der Fischtreppe her, und war gut zu berechnen. Mit einem fein dosierten Gasstoß rückwärts brachte sie ihr Boot zum Stillstand. Jetzt die Einhebelschaltung auf Leerlauf gestellt und schnell auf den Steg gesprungen, das Auge der Spring über den Poller gestreift und die Vorleine durch den Ring gezogen, schon konnte sich Sting nicht mehr selbstständig machen. Das hatte sie oft geübt, das hatte sie drauf. Als sie sich nach dem Poller bückte, bemerkte sie, dass dort eine fremde Leine belegt war. Eine dünne Leine, die senkrecht ins Wasser zeigte. Was hatte die hier zu suchen? Fast hätte sie den richtigen Moment für die Spring verpasst; ihr Boot begann schon, rückwärts zu treiben, als sie das Auge des Festmachers endlich über den Poller warf. Schon kam die Leine steif und begann, unter dem Zug zu knarren. Olivia musste erst die Vorleine belegen, ehe sie sich darum kümmern konnte, was da am Poller ihres Liegeplatzes hing. Sie kniete sich auf die Holzplanken, beugte sich vor, näherte ihr Gesicht der Oberfläche des fließenden Wassers und versuchte, etwas zu erkennen. Was nicht einfach war, denn der Wasserspiegel reflektierte im Nachmittagslicht. Alles, was sie sehen konnte, waren ihre eigenen Augen. Augen und ein Gesicht. Aber ihr Gesicht war das nicht, und das waren auch nicht ihre Augen. Diese da waren zwar offen, aber blicklos, und die Gesichtshaut drum herum war bleich wie der Tod. Dort unter Wasser, an ihrem Liegeplatz, direkt unter ihr hing ein Toter. Olivia richtete sich kniend auf, schloss ihre Augen, atmete tief, zählte bis zehn, schaute erneut ins Wasser, in die blicklosen Augen. Dann stand sie auf, beendete das Anlegemanöver, stellte den Bootsmotor ab und rief die Polizei an. Ihre Stimme war ganz ruhig, und auch das Smartphone in ihrer Hand zitterte nicht.